Pa?stra?e kommen. Ganz ist das nicht auszuschlie?en - der Pfad, von dem du gesprochen hast, ist zugeschneit und schwer zu erkennen. Verstehst du jetzt?«
Livia nickte. »Es sind sechs Manner, einer von ihnen fallt durch seine Gro?e sofort auf und auch weil er dunkelhautig ist. Der alte Mann, den ich vorher erwahnte, hat kaum noch Haare auf dem Kopf, aber einen Bart, er ist um die Sechzig, tragt eine Kutte und geht an einem langen Pilgerstab. Dann ist da noch ein dreizehnjahriger Junge. Er ist der Kaiser. Sie haben Pferde und sind bewaffnet.«
»Gut. Dann hore mir zu: Ich steige jetzt dort auf den Berg, und wenn ich sie sehe, schicke ich dir den Hund runter, verstanden? Wenn du ihn kommen und bellen siehst, folge ihm; er bringt dich zu mir. Wenn du sie dagegen siehst, versuche, sie vor dem Pa? abzufangen, und verstecke sie im Wald. Ich bringe euch dann ruber, wenn es dunkel ist. Das Zeichen fur mich ist wei?er Rauch aus dem Kamin - du sagst Agata Bescheid, und die legt dann grune Aste aufs Feuer.«
»Ja, aber wie haltst du es bei dieser Kalte dort oben aus?«
»Keine Sorge, ich bin an die Temperaturen gewohnt; au?erdem habe ich auf dem Berg einen kleinen Unterschlupf aus Baumstammen, der mich vor dem Wind schutzt. Ich komme schon durch.« Mit diesen Worten machte Ursinus sich auf den Weg, gefolgt von seinem Hund, der freudig mit dem Schwanz wedelte.
»Ursinus!« rief Livia ihm nach.
»Ja?«
»Danke fur alles.«
Ursinus lachelte. »Ich tue das nicht nur fur dich, sondern auch fur mich, mein Kind. Das ist ein bi?chen, als wurde ich wieder in den Dienst treten und noch einmal jung werden, begreifst du?«
Wenig spater sah Livia ihn den verschneiten Berghang auf der anderen Talseite emporsteigen. Es vergingen mehrere Stunden. Irgendwann schien es Livia, als tue sich unten, bei der Poststation etwas, bewaffnete Reiter kamen und gingen, und sie begann bereits, Verdacht zu schopfen: Was konnte sich in einem Wirtshaus, das um diese Jahreszeit so wenig besucht war, gro? ereignen? Doch dann kehrte wieder Ruhe ein. Zwei Wachsoldaten zu Pferde patrouillierten die Stra?e auf und ab, was nichts Au?ergewohnliches war. Wahrend des langen Wartens wurde Livia neuerlich von Zweifeln gepackt: Wie hatte sie sich blo? einbilden konnen, in einem so riesigen Gebiet, inmitten von Waldern, Schluchten und labyrinthischen Pa?stra?en, eine winzige Gruppe von Reisenden wiederzufinden? Aber wahrend sie noch truben Gedanken nachhing, schreckte sie plotzlich das Bellen des Hundes auf, den sie bis zu diesem Augenblick mit seinem wei?en Fell im Schnee gar nicht gesehen hatte. Sie spahte zu Ursinus hinauf: Ja, er schien sie tatsachlich zu sich heraufzuwinken. Gutiger Himmel! Waren ihre Gebete tatsachlich erhort worden? War dieses Wunder tatsachlich moglich? Livia warf sich rasch den Mantel uber die Schulter, verabschiedete sich von Agata und folgte dem Hund auf einem Weg, der sie den Blicken der Manner in der Poststation entzog, hinunter ins Tal und auf der anderen Seite wieder hinauf. Sie war entsetzlich aufgeregt und konnte es noch immer nicht glauben, wagte nicht zu hoffen, da? sie ihre Freunde tatsachlich wiedersehen wurde. Was, wenn Ursinus sich getauscht oder den Hund aus einem anderen Grund zu ihr geschickt hatte? Mit den widerspruchlichsten Gefuhlen kampfend erreichte sie schlie?lich den alten Holzfaller auf der Bergspitze. Er drehte sich bei ihrer Ankunft gar nicht nach ihr um, sondern hielt den Blick starr ins Tal gerichtet, wo sich in weiter Ferne, auf einem von der Hauptstra?e abzweigenden Weg, der sich in Serpentinen emporwandt, etwas bewegte.
»Glaubst du, das konnten sie sein?« fragte er Livia. »Schau selbst, meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren.«
Livia genugte ein Blick, und ihr Herz blieb fast stehen: Sie waren weit weg und ganz winzig, aber es waren sieben, mit sechs Pferden, einer von ihnen uberragte alle anderen, und einer war deutlich kleiner, sie stapften langsam voran und fuhrten ihre Pferde an den Zugeln mit sich. Livia hatte vor Freude schreien, weinen, lauthals nach ihnen rufen mogen, statt dessen mu?te sie schweigen und die nahezu unertragliche Spannung weiter aushalten, mu?te weiter warten, leiden und unter Einsatz ihres Leben weiteren, todlichen Gefahren begegnen. Aber dies alles war nichts gegen die grenzenlose Freude, die Gefahrten wenigstens mit den Augen wiedergefunden zu haben.
Sturmisch schlang sie Ursinus die Arme um den Hals. »Mein guter Freund, das sind sie! Das sind wirklich sie!«
»Was habe ich dir gesagt? Siehst du jetzt, da? deine Bedenken umsonst waren?«
»Ich gehe, mein Pferd holen«, sagte Livia. »Warte hier auf mich, ich bin gleich zuruck.«
»Es eilt nicht, mein Kind«, erwiderte der Alte. »Deine Gefahrten haben noch einen weiten Weg vor sich, im Gebirge sind die Entfernungen viel gro?er, als man denkt, da tauscht man sich leicht. Au?erdem andert sich das Wetter«, meinte er mit einem Blick zum Himmel, der sich zusehends bewolkte, »und leider nicht gerade zum Besseren.«
Livia warf einen letzten Blick auf den kleinen Trupp, der sich muhsam den verschneiten Weg heraufkampfte, dann rannte sie den Hang hinunter.
»Agata«, rief sie, wahrend sie aufgeregt in die kleine Hutte sturzte, »Agata, meine Freunde sind da!« Aber Agata erwiderte nichts, starrte sie nur mit angsterfullten Augen und aschfahlem Gesicht an.
»Na, das ist aber eine gute Nachricht!« rief hinter ihr eine Stimme -eine Stimme die Livia zusammenzucken lie? und die sie sehr gut kannte, sie gehorte ... Stephanus!
»Die Armste ist etwas eingeschuchtert, weil ihr einer von meinen Mannern die Spitze seines Schwerts in den Rucken bohrt«, erklarte er uberflussigerweise und trat auf sie zu. »Und jetzt la? dich ansehen, meine Liebe, wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Verdammter Schweinehund!« fluchte Livia, indem sie zu ihm herumfuhr. »Das hatte ich mir denken sollen!«
»Fehler, die man bezahlt«, erwiderte Stephanus kalt. »Aber glucklicherweise gibt es fur alles einen Ausweg. Man braucht sich nur darauf zu einigen.«
Livia umklammerte krampfhaft den Dolch unter ihrem Wams und hatte ihn am liebsten damit an die Wand genagelt, aber Stephanus schien m ihren Gedanken zu lesen. »La? dich nicht von deinen Gefuhlen hinrei?en, Gefuhle sind ein schlechter Ratgeber.«
»Wie hast du mich gefunden?« fragte Livia beinahe resigniert.
»Ach, wie naseweis die Frauen doch sind!« bemerkte Stephanus ironisch. »Aber ich will deine Neugier stillen - im Grunde kostet es mich ja nichts. Eine meiner Magde hat in deinen Kleidern eine Landkarte gefunden, in der deine Marschroute exakt eingezeichnet war. Au?erdem hat dich dieses Medaillon verraten, das du immer um den Hals tragst«, Livia umschlo? das ihr so heilige Stuck schutzend mit der Hand, »ein vollig wertloses, aber au?erst seltenes Objekt. Es ist einem meiner Manner in der Schenke an der Fahre uber die Trebia aufgefallen. Der gute Kerl hat nicht nur an deinen weichen Bewegungen und an deinen kleinen Madchenfu?en gemerkt, da? du eine Frau bist, er ist auch auf den groben Klunker da aufmerksam geworden, den ich allen als dein personliches Erkennungszeichen genannt hatte. Meine Leute hatten Befehl, nichts zu unternehmen, wenn sie einen von euch fanden; sie sollten mich lediglich benachrichtigen, und genau das haben sie getan.
»Was willst du noch?« fragte Livia, ohne ihn anzusehen. »Reicht dir noch nicht, was du uns angetan hast?«
»Das ganze umhegende Gebiet ist von meinen Mannern umstellt, au?erdem gibt es hier auf dem Pa? eine Garnison von vierzig gotischen Soldnern, die meinem Befehl unterstehen und sich schon in Alarmbereitschaft befinden. Deine Manner haben also nicht die geringste Chance zu entkommen, egal, wo sie stecken. Doch ich bin ein ziviler Mensch und will kein Blutvergie?en. Ich will etwas anderes, namlich dich und dieses Schwert - es wird mir mehr Geld einbringen, als ich in einem Leben ausgeben kann, und du wirst diesen Reichtum mit mir teilen. Du wirst sehen, man gewohnt sich schnell an Luxus und Wohlstand. Diesen ungehobelten Romer hast du bestimmt bald vergessen. Und wenn dir etwas an ihm liegt, solltest du sowieso tun, was ich dir sage.«
»Ich habe es dir schon gesagt: Das Schwert ist verlorengegangen.«
»Lug nicht, oder ich lasse diese Frau sofort umbringen.« Er hob die Hand.
»Nein, halt«, sagte Livia. »La? sie in Ruhe. Ich sage dir, was ich wei?. Es ist wahr, das Schwert existiert, aber ich habe meine Leute schon seit Tagen nicht mehr gesehen, und sie konnten es inzwischen wirklich verloren oder verkauft haben.«
»Das werden wir schnell erfahren, du brauchst sie nur danach zu fragen. Du bist meine Unterhandlerin. Ich will dieses Schwert, danach lasse ich alle gehen, auch den Jungen. Alle au?er dir, versteht sich. Das ist ein sehr gro?zugiges Angebot - Odoaker hat angeordnet, euch umzubringen. Also, was antwortest du mir?«
Livia nickte. »In Ordnung. Aber wie kann ich sicher sein, da? du uns nicht trotzdem verratst?«