»Ich ware schon mit einem Stuck Brot und einem Platz im Stall zufrieden, ich konnte auch dafur bezahlen, und mein Vater und meine Bruder wurden sich dir ebenfalls erkenntlich zeigen, sobald sie nachkommen.«
»Und wenn sie nicht nachkommen?«
Livia senkte traurig den Kopf. Ja, was, wenn ihre Gefahrten nicht nachkamen, was, wenn sie einen anderen Weg eingeschlagen oder sich verirrt hatten? Die Moglichkeit, sie nie mehr wiederzusehen, bestand durchaus. Die alte Frau schien in ihren Gedanken zu lesen und wurde plotzlich ganz mitfuhlend. »Ach, Unsinn«, sagte sie, »wenn du es bis hier rauf geschafft hast, schaffen sie es auch. Und du hast uberhaupt recht: Ein Madchen kann nicht alleine dort unten ubernachten, inmitten von so vielen Barbaren. Bist du noch Jungfrau?«
Livia nickte mit einem schwachen Lacheln.
»Das solltest du in deinem Alter aber nicht mehr sein. Ich meine, da sollte man langst verheiratet sein und einen Stall voll Kinder haben, du siehst doch ganz nett aus ... Obwohl die Ehe naturlich auch kein Zuckerschlecken ist. Auf, steh nicht rum, bring deinen Gaul in den Stall und komm rein.«
Livia kam der Aufforderung der Frau dankbar nach. In der Hutte stellte sie sich vors Feuer und rieb sich die Hande, die steif vor Kalte waren.
»Vielleicht konnte ich meinen Mann zum Schlafen in den Stall schicken, und du schlafst bei mir im Bett«, sagte die Frau, die zusehends auftaute. »So wenig wie der ausrichtet ... im Bett, meine ich.«
»Ich danke dir«, erwiderte Livia, »aber ich will euch wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten. La? mich ruhig im Stall ubernachten, ich kann mich anpassen, und au?erdem ist es ja nicht fur lange.«
»Wie du mochtest ... Dann gebe ich dir einen Strohsack, den du auf der anderen Seite an die Wand der Feuerstelle legst, so hast du es die ganze Nacht uber schon warm. Hier wird es namlich eiskalt, wenn die Sonne erst mal weg ist.«
Ihr Mann, der Holzfaller, kam gegen Abend nach Hause zuruck. Er trug seine Axt auf der Schulter, einen Sack Eisenhaken in der Hand und wurde von einem hubschen Hund mit schafchenweichem, wei?em Fell begleitet, der ihm aufs Wort gehorchte und nicht von seiner Seite wich. Der Mann zeigte sich hocherfreut, einen Gast zu haben, und stellte Livia wahrend des Abendbrots einen Haufen Fragen. Er wollte haargenau wissen, was in Pavia, Mailand und am Hof von Ravenna vorging. Der Tatsache, da? er an einem so stark benutzten Verkehrsweg wohnte, verdankte er es offensichtlich, bestens uber die Ereignisse im Land oder zumindest in der Poebene Bescheid zu wissen. Die beiden Eheleute hie?en Ursinus und Agata und hatten keine Kinder. Sie lebten allein in dieser Hutte, solange sie verheiratet waren, vermutlich also mindestens vierzig Jahre. Ursinus wollte unbedingt, da? Livia bei seiner Frau schlief, aber Livia lehnte dankend ab. »Mein Pferd ist unruhig, wenn es mich nicht sieht, und wurde uns die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Au?erdem habe ich Angst, da? es mir gestohlen wird - ein so schones Pferd, ich hange sehr an ihm, ohne es ware ich gestorben.«
Livia richtete es sich also bei den Tieren im Stall ein und schmiegte sich mit dem Rucken behaglich an die Wand, hinter der sich die Feuerstelle befand. Agata gab ihr noch ein paar Wolldecken und wunschte ihr eine gute Nacht. Es war eine herrliche, sternenklare Nacht, wie Livia sie noch nie erlebt hatte; die Milchstra?e, die den Himmel uberquerte, nahm sich aus wie ein silbernes Diadem auf der Stirn Gottes. Von Mudigkeit ubermannt, fiel Livia schlie?lich in einen unruhigen Halbschlaf. Sie nahm das kleinste Gerausch wahr, das aus dem Tal heraufdrang und hin und wieder erwachte sie ganz und spahte hinunter. Was, wenn sie die Gefahrten verpa?te, wenn sie voruberzogen, solange sie schlief? Dann ware alle Muhe umsonst gewesen. Nein, sie mu?te unbedingt einen Weg finden, dies zu vermeiden.
Am nachsten Morgen sprach sie mit Ursinus, wahrend sie an einem Becher hei?er Milch nippte. »Ich habe Angst, meine Bruder konnten voruberziehen, ohne da? ich es merke. Aber wie soll ich es anstellen, die ganze Nacht wach zu bleiben?«
»Das ist nicht notig«, erwiderte Ursinus. »Sie kommen bestimmt bei Tag uber den Pa?, bei Nacht ware es viel zu gefahrlich.«
»Ich furchte leider, du irrst dich. Schau, unsere Familie hat Haus und Hof verloren, die Barbaren haben uns alles weggenommen; unsere einzige Hoffnung besteht jetzt darin, uns zu entfernten Verwandten in Raetien durchzuschlagen und diese um Hilfe zu bitten. Aber gerade deshalb konnten meine Bruder die Pa?stra?e vermeiden wollen, denn hier wimmelt es von Barbarensoldaten ...«
Ursinus betrachtete sie einen Moment lang schweigend, und Livia merkte, da? ihre seltsame Geschichte ihn alles andere als uberzeugt hatte. Also unternahm sie einen weiteren Versuch: »Wir sind auf der Flucht«, sagte sie. »Odoaker will uns toten, seine Soldaten jagen uns gnadenlos. Dabei haben wir nichts Boses getan. Wir haben uns lediglich gegen seine Gewaltherrschaft gewehrt, wir wollen unseren alten Prinzipien treu bleiben, das ist alles.«
»Was sind das fur Prinzipien?« fragte Ursinus mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
»Die Treue zur Tradition unserer Vater, der Glaube an die Zukunft Roms.«
Ursinus seufzte und sagte: »Ich wei? nicht, ob du mir mit deiner ruhrseligen Geschichte einen Baren aufbindest, aber mir ist inzwischen klar, da? du sehr auf der Hut sein mu?t und deshalb selbst den Leuten mi?traust, die dich bei sich aufgenommen haben. La? mich dir etwas zeigen, was dir vielleicht mehr Vertrauen in mich schenkt ...« Livia wollte widersprechen, doch Ursinus brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. Er stand auf, offnete eine Schublade und zog ein kleines Bronzetafelchen heraus, das er vor ihr auf den Tisch legte. Es handelte sich um eine
»Wie du siehst, liebes Madchen, war ich fruher Soldat«, sagte Ursinus. »Vor vielen Jahren habe ich unter Aetius gegen die Barbaren gekampft und ihnen auf den Katalaunischen Feldern eine ihrer schwersten Niederlagen beigebracht.« Er sah sie wehmutig an. »An diesem Tag hofften wir alle, unsere Zivilisation gerettet zu haben.«
»Tut mir leid«, entgegnete Livia. »Das konnte ich nicht wissen.«
»Und jetzt raus mit der Wahrheit. Sind es wirklich deine Bruder, auf die du wartest?«
»Nein ... Freunde und Waffenbruder. Wir versuchen, dieses Land zu verlassen und einen unschuldigen Jungen vor dem sicheren Tod zu retten.«
»Wer ist dieser Junge, kannst du mir das sagen?«
Livia sah ihm in die Augen, und es waren die Augen eines ehrlichen Menschen. »Ich hei?e in Wahrheit Livia Prisca«, gestand sie ihm. »Ich habe eine Gruppe romischer Soldaten bei dem Versuch angefuhrt, Kaiser Romulus Augustus aus der Gefangenschaft zu befreien, und wir haben es geschafft. Wir hatten den Jungen treuen Freunden ubergeben sollen, aber wir wurden verraten und sind seither auf der Flucht. Odoakers Manner jagen uns im ganzen Reich. Unsere einzige Hoffnung besteht dann, uber die Grenze nach Rae-tien zu kommen und von dort aus weiter nach Gallien, wo Odoaker keinen Einflu? mehr hat.«
»Allmachtiger Gott!« rief Ursinus aus. »Und warum bist du allein? Warum hast du deine Gefahrten verlassen?«
»Wir sind durch eine Uberschwemmung voneinander getrennt worden, danach habe ich es nicht geschafft, sie wiederzufinden.«
»Und woher wei?t du, da? sie hier voruberkommen?«
»So war es abgemacht.«
»Sonst noch etwas? Berichte mir genau, was sie zu dir gesagt haben, Wort fur Wort, das ist sehr wichtig.«
»Zu unserer Gruppe gehort ein alter Mann, der Lehrer des jungen Casars, er ist vor vielen Jahren auf dem Weg von Britannien hier durchgekommen. Nach seinen Worten gibt es einen kleinen Pfad, auf dem man uber den Berg kommt, ohne die Kontrollposten auf der Hauptstra?e passieren zu mussen. Hier, schau«, sagte sie und zeigte ihm Ambrosinus' Landkarte.
»Ja, ich glaube, ich wei?, welchen Pfad du meinst«, erwiderte Ursinus. »Dann gilt es keinen Augenblick mehr zu verlieren. Was meinst du, wieviel Vorsprung du vor den anderen hast?«
»Ich wei? es nicht. Vermutlich einen Tag, vielleicht aber auch zwei oder drei, schwer zu sagen. Wer wei?, auf was fur Schwierigkeiten sie unterwegs gesto?en sind. Vielleicht haben sie es sich auch anders uberlegt ...«
»Unsinn«, erwiderte Ursinus. »Wenn ihr hier verabredet seid, dann kommen sie auch. Jetzt sag mir bitte, wie viele es sind und wie sie aussehen, damit ich sie erkenne.« »Das ist nicht notig. Ich gehe mit dir.«
»Du traust mir immer noch nicht, was? Aber du mu?t hierbleiben fur den Fall, da? sie doch uber die