»Das ersiehst du erstens daraus, da? ich Wulfila nicht unterrichtet habe. Er sucht ebenfalls nach euch, und wehe, wenn er vor mir hiergewesen ware«, erwiderte Stephanus. »Dann hatte keiner von euch uberlebt. Zweitens sehe ich nicht gern Blut und habe deshalb keinerlei Interesse daran, ein Gemetzel zu veranstalten. Und drittens: Du hast keine andere Wahl, liebe Livia.«
»Gut«, entgegnete die junge Frau zahneknirschend, »dann la? uns gehen. Aber merk dir eins: Wenn du mich belogen hast, bring ich dich um wie einen raudigen Hund. Und bevor du stirbst, wirst du genug Gelegenheit haben, den Tag deiner Geburt zu verfluchen.«
Stephanus verzog keine Miene, sondern sagte nur: »Dann los. Und ihr da kommt mit!« Bei diesen Worten traten rund zwanzig Bewaffnete aus dem Stall neben dem Haus und folgten ihm mit wenigen Schritten Abstand.
»Versuch nicht, mich reinzulegen«, sagte Stephanus zu Livia. »Fur den Fall, da? mir etwas geschieht, haben meine Manner Befehl, dich augenblicklich umzubringen und Alarm zu schlagen - deine Leute waren in Kurze von allen Seiten umzingelt und niedergemaht.«
»La? mich mein Pferd holen, und befiehl deinen Soldnern, sich in etwas Entfernung da druben am Waldrand zu verstecken. Ich habe jemanden dort oben, den Mann dieser Frau, er konnte Verdacht schopfen und die anderen alarmieren.«
Stephanus befahl seinen Soldaten, ihnen im Schutz des Waldes zu folgen, der sich bis zu den ersten, schneebedeckten Lichtungen hinaufzog. Livia nahm ihr Pferd am Zugel und stieg mit Stephanus zur Pa?stra?e hinunter und auf der anderen Seite langsam wieder den Berg hinauf.
»Jetzt bleib du auch ein Stuck zuruck«, sagte Livia irgendwann zu ihm. »Wir wissen nicht, wie sie reagieren, wenn sie dich neben mir sehen.«
Stephanus verlangsamte den Schritt, wahrend Livia auf Ursinus zustapfte. In diesem Augenblick bogen Aurelius, Vatrenus und die anderen in etwa zwanzig Schritt Entfernung um einen Felsvorsprung.
»Livia!« schrie Romulus, kaum da? er sie sah.
»Romulus!« rief Livia aus, dann wandte sie sich sofort an Aurelius: »Aurelius, hor zu!«, aber sie brachte ihren Satz nicht zu Ende, sah nur, wie sich die freudig uberraschten Gesichter ihrer Gefahrten in Fratzen der Emporung verwandelten. Und sie sah, wie Aurelius das Schwert aus der Scheide zog und auf sie zusturzte. »Verfluchtes Weib, du hast uns verraten!«
DRITTER TEIL
XXVI
In diesem Augenblick tauchten hinter Livias Rucken Wulfila und seine Krieger auf. In weitem Halbkreis angeordnet, sturmten sie hangabwarts auf Aurelius und die Seinen zu.
Livia drehte sich um, erkannte sie und begriff. »Ich habe euch nicht verraten!« schrie sie. »Ihr mu?t mir glauben! Schnell, kommt rauf und steigt auf die Pferde, schnell, schnell!«
»Es ist wahr!« schrie auch Ursinus. »Dieses Madchen wollte euch helfen. Los, nichts wie zu uns herauf!«
Ohne noch recht zu begreifen, was da los war, und vor allem, was Livia hier oben zu suchen hatte, obendrein in Gesellschaft ihrer erbittertsten Feinde, kampften Aurelius und die anderen sich das letzte Stuck bis zu dem Felsabsatz unterhalb des Gipfels empor, von dem Wulfilas Soldner - gut funfzig Manner - herabgesturmt kamen, wenn auch sicher nicht so schnell, wie sie gerne gewollt hatten, da ihre Pferde tief im Schnee versanken. »Unten im Tal sind noch mehr«, schrie Ursinus. »Ihr konnt nicht zur Stra?e runter!«
»Und dort sind auch Stephanus Soldaten!« rief Livia. »Er hat mich verfolgen lassen, ohne da? ich es gemerkt habe.«
Stephanus war angesichts der Undurchfuhrbarkeit seines Plans inzwischen umgekehrt und wollte zu seinen Soldnern zuruck, doch das lie? Livia nicht zu. Sie zog ihren Bogen aus dem Sattelhalfter, spannte einen Pfeil ein, zielte und traf ihn auf hundert Schritt Entfernung mitten in den Rucken. Dann begann sie, auf seine vom Wald heraufkommenden Manner zu schie?en, die nun, da ihr Anfuhrer tot war, Hals uber Kopf das Weite suchten.
Ursinus deutete auf den Westhang des Berges. »Der einzig mogliche Fluchtweg ist dort«, schrie er. »Vorsicht, er fuhrt an einem Abgrund entlang und ist vielleicht vereist, ihr mu?t hollisch aufpassen! Hier lang, schnell, schnell!«
Livia preschte als erste los und fuhrte die kleine Kolonne an, aber Wulfila, der sie von oben beobachtete, ahnte, was sie vorhatte und schickte einen Teil seiner Manner in dieselbe Richtung. »Denkt dran!« brullte er ihnen nach. »Ich will den Kopf des Jungen und das Schwert, um jeden Preis! Der Soldat dort unten hat es, der mit dem roten Gurtel!«
Vatrenus hatte sich unterdessen Livia angeschlossen, und hinter ihm folgten Aurelius, Batiatus und die anderen. Im Augenblick hatten sie freien Weg, und alle spornten ihre Pferde an, um den gefahrlichen Hang, der im Westen mit einer Klippe uber dem Abgrund endete, so schnell wie moglich hinter sich zu bringen; auch Ambrosinus, der als letzter kam, druckte seinem Maulesel immer wieder die Absatze in die Flanken. Alle waren bemuht, sich moglichst geradlinig auf halber Hohe zu halten, nur Aurelius trieb Juba noch ein Stuck hoher hinauf und ritt etwas oberhalb der anderen, um die Lage besser uberblicken zu konnen. Voller Sorge sah er auf den schutzlosen, kleinen Trupp hinunter, als Wulfila und seine Manner nur wenige Schritte von ihm entfernt auch schon uber die Bergkuppe gesturmt kamen. Mit gezogenen Schwertern, in eine Wolke aus Pulverschnee gehullt, ritten sie heulend auf ihn zu.
Wulfila griff sofort an, indem er Aurelius so schwer mit seinem Ro? rammte, da? dieser zu Boden sturzte, dann warf er sich auf ihn, worauf sie beide - ein unentwirrbares Knauel aus Armen und Beinen, die Glieder steif vor Ha? und Kalte - den Berg hinunterzupurzeln begannen; in dem Gemenge glitt Aurelius irgendwann das Schwert aus der Scheide und begann vor ihnen den Abhang hinunterzurutschen, wahrend sie selbst durch einen gro?en, uber die Schneedecke hinausragenden Felsbrocken aufgehalten wurden. Die beiden Krieger hielten gegenseitig ihre Handgelenke umklammert und starrten sich keuchend an, als Wulfila plotzlich den erhellenden Geistesblitz hatte, auf den er so lange gewartet hatte: »Endlich erkenne ich dich wieder, Romer!« stie? er hervor. »Lange ist's her, aber du hast dich kaum verandert. Du bist der, der uns die Tore von Aquileia geoffnet hat!«
Aurelius' Gesicht verzog sich zu einer entsetzten Grimasse. »Nein!« brullte er. »Nein. Neiin!« Und sein Schrei hallte wohl ein dutzendmal von den eisigen Gebirgswanden zuruck. Im gleichen Augenblick reagierte er, stemmte mit geradezu ubermenschlicher Kraft die Knie gegen die Brust seines Gegners und katapultierte ihn in hohem Bogen nach hinten. Dann rollte er auf die Seite, rappelte sich auf und erblickte wenige Schritte von sich entfernt Ambrosinus, der abgesturzt war und mit allen Mitteln versuchte, nicht an den Rand des Abgrunds zu rutschen. Ihre Blicke kreuzten sich nur einen Moment, aber der genugte Aurelius, um sich daruber klarzuwerden, da? der Alte Wulfilas Worte gehort und richtig gedeutet hatte. Doch jetzt war keine Zeit fur qualende Gedanken. Aurelius ri? sich zusammen und begann den Berg wieder hinaufzurennen, um seinen weiter oben kampfenden Freunden zu Hilfe zu eilen. Alle waren in wilde Gefechte verwickelt, er horte Batiatus brullen, wenn er einen von den Feinden hoch uber den Kopf stemmte und dann den Abhang hinunterschleuderte, und er horte Vatrenus fluchen, der es, in jeder Hand ein Schwert und bis zu den Knien im Schnee stehend, jeweils mit zwei Gegnern auf einmal aufnahm.
Bereit, sich ebenfalls in den Kampf zu sturzen und womoglich gar den Tod zu suchen, wollte Aurelius sein Schwert zucken, doch zu seinem gro?en Arger fand er nur die leere Scheide. Oben, auf dem Berggipfel, tauchte in diesem Augenblick ein weiterer Trupp von Reitern auf - die Goten, die aus dem Tal nachgekommen waren. Um den steilen Abhang besser bewaltigen zu konnen, ritten sie im Zickzack uber die Lichtung, losten damit jedoch eine Lawine aus, die immer gro?er und schneller werdend den Berg hinunterrutschte und nach und nach alle erfa?te und mitri?: zuerst Vatrenus und Batiatus, die weiter oben kampften, dann den Rest einschlie?lich Romulus.
Demetrios und Orosius hatten bis zu diesem Augenblick versucht, ihn mit ihren Schilden vor den feindlichen Pfeilen und Speeren zu schutzen, die zu Hunderten auf ihn niederregneten, aber die Lawine erfa?te auch sie und begrub sie unter sich. Selbst die Pferde, die mit ihrer Korpermasse einiges mehr an Widerstand boten, wurden uberrollt und mitgerissen.
Wulfila rutschte unterdessen weiter den Hang hinunter. Lange Zeit versuchte er vollig vergeblich, sich dagegen zu wehren, sich mit den Fingern im Schnee festzukrallen, bis ihm die Haut in Fetzen von den Knochen