Aurelius stie? einen langen Seufzer aus, als hatten diese Worte ihn unsagliche Muhe gekostet.

»Wer sind diese alten Leute?« fragte Ambrosinus. »Vielleicht liegt hier die Losung zum Ratsel deiner Identitat.«

»Ich wei? es nicht«, erwiderte Aurelius und vergrub das Gesicht in den Handen. »Ich wei? es nicht.«

Ambrosinus fuhlte, wie elend ihm zumute war. »Hor auf, dich zu qualen«, sagte er und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wer auch immer du fruher warst - das hat heute keine Bedeutung. Das einzige, was jetzt zahlt, ist die Gegenwart, und die ehrt dich. Und Romulus kann dir vielleicht eine Zukunft geben. Du hast selbst gesehen, da? es nahezu unmoglich ist, seine Lebenskraft zum Erloschen zu bringen.«

»Aber ich habe sein Schwert verloren«, sagte Aurelius.

»Mach dir nichts draus; wir werden es wiederfinden, da bin ich mir sicher. Und du wirst auch deine Vergangenheit wiederfinden, aber vorher mu?t du die Holle durchqueren, wie es selbst dieser unschuldige Junge tun mu?te.«

XXVII

Eine Stunde vor Sonnenaufgang, noch in der Dunkelheit, beendete Demetrios die letzte Runde seiner Wache und weckte seine Kameraden. Sie waren steif vor Kalte, da nur ein kleines Feuer in ihrem Unterschlupf brannte. Auch die beiden Tiere, die die Nacht im Freien verbracht hatten, kamen herbeigelaufen, um der bei?enden Kalte zu entkommen. Noch froh daruber, da? sie der Gefahr entronnen waren und auch Romulus gerettet war, standen die Gefahrten einer Wirklichkeit gegenuber, die als hart, ja als verzweifelt bezeichnet werden mu?te. Au?er einem Pferd und einem Maulesel war ihnen nichts geblieben. Aurelius' Schwert befand sich in Wulfilas Handen, der gewi? darauf brannte, dessen verheerende Kraft auszuprobieren. Wie sollten sie nur ihre Flucht fortsetzen, wie vor allem Wulfila und seinen Mannern entkommen? Es war klar, da? die Feinde uber den Pa? auf den Hugel zuruckkehrten, um nach Leichen oder moglichen Fluchtspuren zu suchen, die der Schneefall dieser Nacht nicht vollstandig ausgeloscht hatte.

Nach kurzer Unterredung waren sich alle daruber einig, da? sie den Ort so schnell wie moglich verlassen mu?ten, um das untere Tal zu erreichen und die Grenze zu passieren. Ursinus riet ihnen, schleunigst den Flu? zu uberqueren, bevor der Feind ihre Anwesenheit bemerkte. Zutiefst ergriffen verabschiedete er sich von jedem von ihnen. »Der Flu? liegt genau vor euch, ebenso die Bootsbrucke. Ihr konnt sie nicht verfehlen. Ware ich nicht so alt, wurde ich mit euch kommen, denn fur meinen Kaiser zu kampfen, ware die gro?te Ehre fur mich. Aber wie die Dinge nun einmal liegen, bin ich fur euch nur eine Last; au?erdem mu? ich zuruck, um nach meinem Weib zu sehen, das gewi? vor Angst halb tot ist.« Er trat zu Romulus und ku?te ihm ehrerbietig die Hand. »Moge Gott dich beschutzen, Casar, wohin du auch gehst, und moge er durch dich den Namen Roms auch fur die kunftigen Jahrhunderte bewahren.« Dann machte er sich mit seinem Hund zuruck auf den Weg, um sein Haus noch vor Tagesanbruch zu erreichen. Bewegt und voller Sorge schauten sie ihm nach, denn sie wu?ten, da? seine Frau und er wegen der ihnen geleisteten Hilfe hart bestraft werden konnten.

»Nun aber los«, sagte Ambrosinus. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Langsam stiegen sie ins Tal hinab. Aurelius, der als letzter ging, fuhrte Juba am Zugel, wahrend Vatrenus die Kolonne anfuhrte und darauf achtete, allzu steile und unwegsame Pfade zu umgehen. Plotzlich hob er den Arm. »Haltet ein!«

Aurelius eilte an seine Seite. »Was gibt es?«

»Sieh selbst«, antwortete Vatrenus.

Weiter unten am Hang erstreckte sich eine etwa zwei- bis dreihundert Fu? breite Ebene, die im nordlichen Teil ein Wildbach durchquerte, der die Dunkelheit des Tales mit seinem Glanz erfullte. Seine Ufer wurden verbunden durch eine Bootsbrucke aus Kahnen, die von ein paar an den Ufern festgemachten Tauen zusammengehalten wurden. Jenseits des Flusses, in einer Entfernung von einigen Hundert Fu?, zeichnete sich im Kontrast zu der schneebedeckten wei?en Flache die dunkle Masse eines dichten Tannenwaldes ab.

»Ja, das ist die Brucke. Wenn es uns gelingt, sie zu uberqueren, sind wir in Sicherheit. Dann suchen wir Zuflucht im Wald, dort lassen sich unsere Spuren am einfachsten verwischen. So hoffe ich zumindest.«

»Davon rede ich nicht«, erwiderte Vatrenus. »Schau, dort weiter hinten, zu deiner Linken. Siehst du?«

Aurelius fluchte: »Verdammte Hundesohne! Was sollen wir blo? tun?« Im flirrenden Widerschein des Schnees bewegte sich an der Stelle, auf die Vatrenus hinwies, eine Kolonne bewaffneter Soldaten auf die Brucke zu.

»Von dort druben kommen noch mehr«, sagte Demetrios und deutete auf eine andere Gruppe, die von rechts herannahte. »Wir sitzen in der Falle.«

»Nein, eine Hoffnung gibt es noch«, meldete sich Livia zu Wort. »Du, Aurelius, hast noch dein Pferd. Nimm Romulus mit dir, dann reite, sobald der Abhang nicht mehr so steil ist, so schnell wie du kannst, auf die Brucke zu. In dem hohen Schnee kommen die Barbaren nur langsam voran. Wir werden uns ein Versteck suchen und dann heute nacht zu Fu? zu euch sto?en.«

»Ich glaube nicht, da? das geht«, gab Ambrosinus zu bedenken. »Die haben bestimmt den Befehl, die Brucke zu bewachen, so da? wir nicht mehr zusammenkommen.« Doch dann warf er einen Blick auf seinen Maulesel und die am Packsattel festgebundenen Schilde, und sein Gesicht leuchtete auf. »Hort mich an, ich habe eine Idee. Vor sechs Jahrhunderten entkam eine Gruppe zimbrischer Krieger den sie einkreisenden Soldaten des Konsuls Lutatius Catull, indem sie auf ihren Schilden den Berg hinabrutschten.«

»Auf ihren Schilden?« fragte Vatrenus unglaubig.

»Ja, sie hielten sich an dem Haltegriff im Inneren des Schildes fest. So ist es auch in der Biographie des Plutarch nachzulesen. Doch mussen wir uns sofort auf den Weg machen.«

Dieser Vorschlag wirkte derma?en absurd, da? sie sich einen Augenblick lang hochst unsicher fuhlten. Dann aber band einer nach dem anderen seinen Schild los und lie? ihn zu Boden gleiten.

»Jetzt«, fuhr Ambrosinus fort, »mu?t ihr euch nur noch hineinsetzen und euch am Haltegriff festhalten - so. Wenn ihr euer Korpergewicht nach rechts oder links verschiebt und mit den Haltegriffen entsprechend manovriert, konnt ihr euer Gefahrt in jede gewunschte Richtung lenken. Verstanden?«

Alle nickten, auch der verbluffte Batiatus, der zu Tode erschrocken auf den steilen Abhang zwischen ihnen und der Brucke hinabblickte. Inzwischen hatte Aurelius Romulus vor sich auf dem Pferd aufsitzen lassen und lenkte das Tier behutsam im Zickzack den Abhang hinunter. An einer weniger steilen Stelle trieb er es mit dem Druck seiner Fersen an und ritt zunachst im schnellen Schritt, dann im Galopp uber die schneebedeckte Ebene. Schon bald bemerkten die auf beiden Seiten versammelten Barbaren, was da vor sich ging. Sie gaben ihren Reittieren die Sporen, aber da der tiefe Schnee, der sich an beiden Seiten des Hugels aufturmte, ihr Tempo beeintrachtigte, konnte Aurelius seinen Vorsprung halten.

»Weiter, Juba!« rief er und trieb sein Ro? an. Inzwischen hielt Romulus nach beiden Seiten Ausschau, um das Vorrucken der Feinde zu beobachten und gleichzeitig abzuschatzen, ob sich Ambrosinus wahnwitziger Plan auch tatsachlich durchfuhren lie?. Was er zu sehen bekam, verbluffte ihn. »Sieh nur, Aurelius!« rief er aufgeregt. »Sie kommen!« Und unmittelbar darauf schossen rechts und links blitzartig die Schilde an ihnen vorbei, gesteuert von Demetrios und Vatrenus, Orosius, Livia und Ambrosinus, dessen lange wei?e Haare im Wind flatterten. Als letzter sauste Batiatus herab, der kaum imstande war, das Gleichgewicht auf dem schwankenden Gefahrt zu halten.

Aurelius setzte seinen Ritt fort. Er galoppierte uber die Brucke, bevor er sich kurz vor dem Waldrand nach seinen Gefahrten umdrehte, die gerade die ersten Unebenheiten in der Ebene erreichten und, ahnlich einer menschlichen Lawine, mit einem heftigen Sturz ihre Fahrt beendeten. Was danach geschah, war eine Frage rascher, gut aufeinander abgestimmter Aktionen. Als erster erhob sich Vatrenus.

Als er die Barbaren erkannte, die sich ihnen von beiden Seiten her naherten, begriff er mit einem raschen Blick auf die Brucke, da? ihnen nur noch eine einzige Moglichkeit blieb, und so rief er aus Leibeskraften: »Alle auf die Brucke! Wir nehmen den Weg uber den Flu?!« So schnell wie sie konnten, standen die Freunde auf und rannten hinter ihm her auf die Brucke. »Batiatus«, befahl Vatrenus, »du und Demetrios kappt die Seile auf der gegenuberliegenden Seite, Orosius und ich nehmen uns diese hier vor! Auf mein Signal, jetzt!«

Gerade naherte sich Aurelius der Brucke, als ihre Streitaxte und Schwerter die Taue durchtrennten. In Windeseile stob die aus Kahnen zusammengefugte Brucke auseinander und trieb mit der Stromung fort, wahrend die Barbaren, vor Wut schnaubend und mit Spott uberschuttet, zuruckblieben. Da erschien Wulfila, der wutend hinter Aurelius herschrie: »Ich werde dich finden, du Feigling. Ich werde dich finden, ganz gleichgultig, wo du dich versteckst. Und selbst, wenn ich dich bis ans Ende der Welt verfolgen mu?te.«

Aurelius erbebte. Zum ersten Mal in seinem Leben mu?te er eine derart arrogante Herausforderung

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