hing, doch im allerletzten Moment - seine Beine baumelten bereits uber dem Abgrund - bekam er doch noch eine Felszacke zu greifen. Der endgultige Absturz war freilich nur eine Frage der Zeit, seine Hande wurden in der Kalte immer steifer, bald wurden sie seinem Willen, dem Tode zu entkommen und sich uber den Rand des Abgrunds emporzuhieven, nicht mehr gehorchen. Er spurte den fatalen Augenblick, in dem er loslassen und ins Nichts fallen wurde, bereits ganz nahe, als er, nur wenige Schritte entfernt, auch das sagenhafte Schwert auf den Abgrund zurutschen sah - viel langsamer als zu Beginn, aber doch unaufhorlich. Schon ragte es zu mehr als der Halfte uber die Felsklippe hinaus, drohte jeden Augenblick vornuber zu kippen und ... blieb dann, wie von einer unsichtbaren Hand gebremst, im Schnee liegen. Das Gegengewicht des massiv goldenen Griffs bewahrte es im letzten Moment vor dem Absturz.

Wulfila, der die Szene mit ungeheurer Spannung verfolgt hatte, fuhlte schlagartig seine Lebensgeister wiederkehren. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, baumte sich mit einem tierischen Schrei auf und schaffte es tatsachlich, beide Ellbogen auf die vereiste Felsklippe zu ziehen, danach zuerst das rechte, dann das linke Knie. Jetzt stand er gar auf und ... war gerettet!

Schritt um Schritt naherte er sich behutsam dem Schwert, wohl wissend, da? die geringste Erschutterung, ja schon ein leichter Windsto?, es zum Kippen bringen konnte. Als er es fast erreicht hatte, legte er sich platt auf den Boden, spreizte die Beine, bohrte fur einen besseren Halt die Stiefelspitzen in den Schnee und streckte die Hand aus, bis er den Griff der Waffe beruhren und schlie?lich fest umklammern konnte. Dann richtete er sich auf und reckte das herrliche Schwert triumphierend in den grauen Himmel. Sein Siegesschrei durchdrang die Wolken, prallte gegen die eisverkrusteten Berggipfel und hallte noch lange in den waldigen Talern nach. Wenig spater war er den Hang bereits wieder hochgestapft und zu dem Soldatentrupp gesto?en, der die Lawine ausgelost hatte; einer der Manner trat ihm sofort sein Pferd ab. Das Wetter verschlechterte sich zusehends, und das Tageslicht wurde immer schwacher.

»Es ist fast dunkel«, sagte Wulfila zu seinen Mannern. »Wir kehren morgen zuruck. Die Pferde haben sie auf alle Falle verloren, und selbst wenn einer von ihnen uberlebt haben sollte, kommt er nicht weit. Sicherheitshalber riegeln wir morgen fruh trotzdem samtliche talwarts fuhrenden Wege nordlich und sudlich der Pa?stra?e ab - es darf uns keiner entwischen. Bei Tageslicht suchen wir dann die Leichen. Ich will den Kopf des Jungen - wer ihn mir als erster bringt, soll reich belohnt werden. So, und jetzt mir nach«, sagte er, worauf der Trupp geschlossen zur Poststation an der Pa?stra?e abstieg.

Es begann zu schneien, zunachst nur schwach - kleine, eisige Flocken, die den Soldaten in Gesicht und Hande stachen - , spater immer starker. Bald waren die Krieger im dichten Schneegestober nur noch schemenhaft zu erkennen, nahmen Sich aus wie Gespenster, die uber die blutbefleckte und mit Leichen ubersate Schneedecke des Berghangs ritten. Wulfila erkannte unter den Toten Stephanus; offensichtlich hatte er noch versucht, den Pfeil, der ihm in den Rucken gedrungen war, wieder herauszuziehen - ohne Erfolg. Du hast dein verdientes Ende gefunden, dachte Wulfila und ritt mit gesenktem Kopf, fest in seinen Umhang gehullt, weiter.

Wenig spater betraten sie die mansio, in deren Kamm ein gro?es Feuer aus Tannenholz prasselte. Die Manner lie?en sich auf Banken nieder, wahrend der Wirt einen Hammel am Spie? briet und Bierkruge und Brotkorbe auf die Tische stellte. Wulfila war trotz seiner schmerzenden Wunden euphorisch. An seiner Seite baumelte die herrlichste Waffe, die man sich vorstellen konnte, und sein Opfer lag steif wie ein Stockfisch unter einer dicken Schicht Schnee. Morgen wurde er ihm den Kopf wie einen Eiszapfen abbrechen.

»Ihr da«, sagte er zu den Soldaten, die ihm gegenubersa?en. »Ich will, da? ihr mit dem ersten Tageslicht ins Flu?tal runterklettert und die Brucke absperrt - sie ist der einzige Weg nach Raetien. Und ihr«, er wandte sich an die Manner zu seiner Rechten, »ihr geht die Pa?stra?e zuruck, bis ihr auf einen Weg sto?t, der ebenfalls zu der Brucke fuhrt, aber von Westen kommend - ich gebe euch einen Fuhrer mit, ihr konnt ihn nicht verfehlen. Jetzt zu euch«, sagte er schlie?lich zu den Mannern links von ihm. »Ihr kommt mit mir wieder auf den Berg rauf, die Leichen suchen. Und denkt dran: Hier liegt ein Beutel Silber bereit fur den ersten, der den Kadaver des Jungen findet und ihm den Kopf abhaut. So, und jetzt la?t uns fressen und saufen und lustig sein, Manner, denn das Schicksal war uns wohl gesonnen!« Mit diesen Worten hob er den randvollen Becher und geno? den drohnenden Beifall seiner Soldaten, die im Siegesrausch wahre Unmengen von Bier hinuntersturzten und bald jeden Schluck mit einem lauten Rulpser begleiteten.

Unter gro?er Anstrengung gelang es Juba, wieder auf die Beine zu kommen; er schuttelte sich den Schnee ab, stie? eine Dampfwolke aus den mit Reif belegten Nustern, schnaubte und wieherte dann laut nach seinem Herrn, aber der Ort war vollig verlassen, Dunkelheit und Abendstille senkten sich uber das weite, von der Lawine uberrollte Feld. Juba machte sich daran, es langsam abzusuchen, wobei er immer wieder schnaubte und wieherte, bis er plotzlich stehenblieb und sacht mit den Hufen im Schnee zu scharren begann. Irgendwann kam tatsachlich Aurelius Rucken zum Vorschein, dann auch sein Hals; Juba schlug aufgeregt mit dem Schweif und blies aus den Nustern behutsam warme Luft auf den Nacken seines halb ohnmachtigen Herrn. Die angenehme Warme flo?te dem vollig unterkuhlten Aurelius neue Lebenskraft ein. Irgendwie schaffte er es, Hande und Ellbogen aufzustutzen, dann die Knie ranzuziehen und sich schlie?lich muhsam vor Juba aufzurichten, der seine Anstrengungen mit leisem, beifalligem Wiehern begleitete. Als er stand, schlang er die Arme um den Hals des Pferdes und sagte: »Brav, Juba, brav, du bist ein braver Kerl, ich wei?. Und jetzt mussen wir noch die anderen aus dem Schnee ziehen, los, hilf mir.« In diesem Moment tauchte, wenige Meter entfernt, Ambrosinus Maulesel wie aus dem Nichts vor ihnen auf; er hatte sogar noch die Schilde an seinem Sattel befestigt. Aurelius band einen von ihnen los und begann damit im Schnee zu graben. Wenig spater stie? er auf Vatrenus Brust, wie ein schmerzlicher Aufschrei verriet.

»Bist du noch ganz?« fragte Aurelius.

»Ich glaube ja«, brummte Vatrenus, »aber hor' auf, mir mit diesem Ding auf dem Leib herumzuhacken.«

Auf der anderen, zur Stra?e hin gelegenen Hangseite ertonte plotzlich ein Winseln; kurz darauf kam Ursinus mit seinem Hund herangeschnauft. Er stellte sich den beiden Soldaten vor und sagte: »Livia hat mir von euch erzahlt - ich bin der, der sie beherbergt hat. Wenn ihr wollt, kann ich euch helfen. Mein Hund ist darauf abgerichtet, Leute unter Lawinen aufzuspuren. Wir haben nicht viel Zeit, wenn die Nacht hereinbricht, ist es aus.«

»Ja, wir waren dir fur deine Hilfe sehr dankbar«, erwiderte Aurelius.

Der Mann nickte und schickte seinen Hund los. »Auf, Argos, such«, sagte er, »such unsere Freunde, komm schon ... Er hei?t Argos«, fugte er an Aurelius gewandt hinzu, der mit seinem Schild bereits weitergrub. »Argos - wie der Hund des Odysseus - , schoner Name, nicht?«

»Und ob«, erwiderte Vatrenus, »ein sehr schoner Name. Hoffen wir, da? er auch eine gute Nase hat.«

Aber der Hund hatte bereits etwas gewittert und scharrte mit den Pfoten aufgeregt im Schnee.

»Grabt dort, schnell!« befahl Ursinus. Aurelius und Vatrenus gehorchten und zogen wenig spater Ambrosinus aus dem Schnee; er war ganz blau angelaufen und halb erfroren.

»Hilfe! Helft uns, schnell!« schrie es da plotzlich von rechts. Aurelius tastete sich vorsichtig, aber so schnell es ging, quer uber den Hang. Beim Anblick der Felsklippe wenige Schritte entfernt, bot sich ihm ein Bild, bei dem sein Herz stockte: Orosius baumelte, verzweifelt an einen uber die Klippe hinausragenden Fichtenstamm geklammert, uber dem Abgrund; Demetrios umklammerte sein Messer, das im Eis steckte, und Livia rutschte auf seinem Rucken langsam nach unten, bis Orosius statt des Baumstamms ihre Beine packen und sich daran festhalten konnte. Nun begann Livia, sich wieder hochzuziehen, indem sie eine Art Klimmzug an Demetrios Gurtel vollfuhrte. Demetrios Finger spannten sich unterdessen krampfhaft um den Griff des Messers, doch Aurelius begriff, da? die Klinge jeden Augenblick brechen konnte. Ohne lange zu zogern, stie? er auch sein Messer so tief es ging ins Eis, hielt sich mit einer Hand daran fest und streckte die andere nach Demetrios aus, der sein eigenes Messer auf diese Weise etwas entlasten, sich ein weiteres Stuck hochziehen und das Messer dann neu verankern konnte, indem er es an einer anderen Stelle ins Eis bohrte. Mit vereinten Kraften schafften sie es schlie?lich, Livia und Orosius immer weiter von der Klippe wegzuziehen und sich in Sicherheit zu bringen.

»Was ist mit Batiatus?« fragte Aurelius, der noch immer vor Anstrengung keuchte.

»Als ich ihn das letzte Mal sah, rollte er mit zwei von Wulfilas Mannern den Abhang runter, vielleicht waren es auch drei, so genau konnte ich das nicht unterscheiden«, erwiderte Demetrios. »Er kommt schon zuruck, du wirst sehen.«

»Wenn sie ihn nicht umgebracht haben«, meinte Aurelius.

»Wenn sie ihn nicht umgebracht haben«, wiederholte Demetrios. »Aber ich bezweifle, da? sie das geschafft haben.«

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