In diesem Moment ertonte ganz in der Nahe eine Art Grunzen, und vor Livia baute sich plotzlich einer der feindlichen Barbaren auf, doch es kostete sie nicht viel, mit ihm fertigzuwerden: ein Tritt ins Gesicht, und schon rollte er den Abhang hinunter auf die Felsklippe zu.

»Wo ist Romulus?« fragte sie gleich darauf, da sie den Jungen nirgends sah, doch im selben Moment meldete Ambrosinus sich mit erschrockener Stimme. »Schnell, hierher!« schrie er. »Um Gottes willen, kommt, kommt schnell!« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als auf dem Osthang plotzlich Batiatus erschien und herbeirannte, so schnell er konnte. »Was ist los?« fragte er noch vollig au?er Atem.

»Ich glaube, sie haben den Jungen gefunden«, sagte Aurelius, doch seine Stimme klang alles andere als froh.

Sie rannten zu der Stelle, wo sie Ursinus Hund winseln horten, und sahen Vatrenus, der den leblosen Korper des Jungen vom Boden aufhob. Das vom eisigen Wind gepeitschte Gesicht des Veteranen war eine steinerne Maske. Livia beruhrte die blauen, eiskalten Arme des Jungen und brach in Tranen aus. »Oh, mein Gott, nein! Nein!«

Aurelius trat hinzu und sah Vatrenus mit fragenden Augen an.

»Er ist tot«, antwortete der Gefahrte. »Seine Herzschlage sind nicht mehr zu fuhlen, weder am Handgelenk, noch am Hals.« Alle sahen sich zutiefst betroffen an. Batiatus weinte und wischte sich die Tranen mit der Hand ab, die noch das Schwert hielt. Nur Ambrosinus schien inmitten der allgemeinen Verzweiflung die Fassung zu bewahren. »Wir mussen einen Unterstand finden, schnell«, sagte er, das Kommando des elenden, kleinen Haufchens ubernehmend, und er mu?te schreien, um das Pfeifen des Sturmes zu ubertonen. »Wir durfen keinen Augenblick langer auf diesem Hang bleiben. Wenn die Nacht uns hier uberrascht, sind wir verloren.«

»Dann folgt mir«, sagte Ursinus. »Ich wei? einen Ort, nicht weit von hier. Aber ihr mu?t dicht zusammenbleiben, im Schneesturm verliert man sich leicht.« Mit diesen Worten begann er den Berg auf halber Hohe zu umrunden, bis sie auf der Nordseite zu einer Felsplatte kamen, die aus der Bergwand herausragte und von einer Palisade aus Tannenstammen gestutzt wurde, so da? ein nach drei Seiten geschutzter Unterschlupf entstand. Ursinus betrat ihn als erster, die anderen folgten ihm. Auf der Erde lag eine dicke Schicht trockener Blatter und Fichtenzweige, die Palisade war von innen mit gegerbten Ziegenfellen verkleidet. »Hier bringe ich meine Ziegen zum Gebaren her«, erklarte Ursinus. »Mehr kann ich euch leider nicht bieten.«

Vatrenus legte den Korper des Jungen auf den Boden, und Livia kamen neuerlich die Tranen. Den Kopf an die Wand gelehnt, weinte sie still vor sich hin. Ambrosinus schien nichts um sich herum wahrzunehmen; unvergessene Bilder zogen an seinem inneren Auge voruber: ein Wald im Apennin, ein Zelt, ein sterbendes Kind in seinem Bettchen, eine weinende Frau, vom Schmerz gebrochen und doch voll koniglicher Wurde ... Nein, er wurde nicht aufgeben, niemals. Er streichelte den Jungen lange, dann begann er, ihn behutsam zu entkleiden.

»Was tust du da?« fragte Aurelius.

Ambrosinus legte eine Hand auf die nackte Brust des Jungen und schlo? die Augen. »Ein schwacher Lebensfunke ist noch in ihm«, sagte er. »Wir mussen ihn nahren.«

Aurelius schuttelte unglaubig den Kopf. »Er ist tot, siehst du das nicht? Er ist tot.«

»Er kann nicht tot sein«, erwiderte Ambrosinus ruhig-»Prophezeiungen lugen nicht.«

Es war inzwischen vollig dunkel geworden, und die einzige Antwort auf seine Worte war das scharfe Pfeifen des Windes, der gegen den Berg anbrauste. Als der Junge bis zur Gurtellinie entkleidet war, bettete Ambrosinus ihn wieder auf die Blatter am Boden, von denen sein wei?er Korper in der Finsternis abstach, als strahle ein geheimnisvolles Licht von ihm aus. Ambrosinus hob den Kopf und sah Batiatus an: »Du gibst am meisten Warme ab«, sagte er, »in dir steckt die Glut Afrikas. Entblo?e deinen Oberkorper und umarme den Jungen, druck ihn fest an dich und sorge dafur, da? dein Herz gegen seines schlagt. Ich versuche unterdessen, ein Feuer zu entfachen.«

Batiatus tat, wie ihm gehei?en, legte sich neben den leblosen Jungen und pre?te sich an ihn. Livia warf zusatzlich eine Decke uber sie. Aurelius und Vatrenus standen dabei und schuttelten nur traurig die Kopfe.

Ambrosinus kratzte im Dunkeln trockene Flechten von den Wanden, bis er so viel beisammen hatte, da? er ein kleines Haufchen damit bilden konnte. Daruber streute er etwas trockenes Laub, dann kramte er die Feuersteine aus seinem Quersack und begann sie aneinanderzureihen. Jede einzelne seiner Bewegungen verriet langjahrige Erfahrung. Gro?e Funken spruhten auf den kleinen Scheiterhaufen, bis endlich ein winziger roter Punkt mehr zu erahnen als zu erkennen war. Ambrosinus kniete sich augenblicklich nieder und begann, sachte zu blasen. Die Umstehenden beobachteten ihn verblufft, sie konnten sich sein seltsames Tun nicht erklaren. Aber der winzige rote Punkt begann sich allmahlich auszubreiten, und der Alte blies unentwegt weiter, als gelte es, das fast erloschene Leben des Jungen durch seinen Atem wieder anzufachen.

Und dann flackerte in der Finsternis plotzlich ein Flammchen auf, es war zunachst kaum wahrzunehmen, wurde aber sehr rasch gro?er, genahrt von den Flechten, die nach und nach Feuer fingen. Ambrosinus horte auch jetzt nicht auf zu blasen, legte das ein oder andere Stuck trockene Moos dazu, einzelne Blatter, ein durres Astchen, bis aus dem Flammchen schlie?lich Feuer wurde und Licht, das Zoll um Zoll die Finsternis der elenden Unterkunft besiegte, Licht, das die dichtgedrangten Korper der Umstehenden beleuchtete, die ekstatisch geweitete Pupillen Ambrosinus und das breite Gesicht des athiopischen Riesen, dem dicke Tranen uber die Wangen kullerten - es waren Freudentranen.

»Er atmet«, sagte er.

Ambrosinus sah sich mit den verstorten Augen eines Menschen um, der mitten in der Nacht aus einem entsetzlichen Alptraum erwacht ist.

Alle umringten Romulus, jeder wollte ihn zuerst umarmen, an sich drucken, aber Ambrosinus mahnte sie zur Vorsicht: »Gemach, gemach, ihr mu?t behutsam mit dem Jungen umgehen, er ist noch sehr schwach und mu? erst wieder zu Atmen kommen und Krafte sammeln.« Ursinus ging hinaus, um noch mehr durre Aste von den Baumen abzurei?en und auf das Feuer zu legen, dann verhangte er zum Schutz vor Wind und Kalte auch den Eingang mit Fellen. Tatsachlich begann sich in dem engen Unterstand nach und nach etwas Warme auszubreiten; Romulus setzte sich auf und streckte die steifen Hande nach dem Feuer aus.

Ambrosinus deutete auf Batiatus und sagte: »Er hat dich ins Leben zuruckgeholt.« Romulus erhob sich und umarmte den Athiopier, und auch Batiatus umarmte ihn, wenngleich sehr behutsam, um ihn nicht zu erdrucken. »Ich gehe raus und lege Juba eine Decke auf«, sagte Aurelius. »Er ist das einzige Pferd, das uns geblieben ist - der Maulesel durfte uns nicht viel nutzen. Heute nacht wird es sehr kalt werden.«

Ambrosinus, der sehr wohl die Traurigkeit wahrnahm, die inmitten all der Freude aus Aurelius Augen sprach, wartete eine Weile und warf sich dann ebenfalls den Mantel uber die Schulter. »Ich gehe auch nach meinem Tier sehen«, sagte er und trat hinaus.

Aurelius stand neben seinem Pferd und schien ins Tal, zum Flu? hinunterzublicken. Ambrosinus Stimme ri? ihn aus den Gedanken. »Zwei Wahrheiten, zwei unterschiedliche, komplett widerspruchliche Aussagen zu deiner Vergangenheit - die Livias und die Wulfilas ... welcher soll man glauben?«

Aurelius drehte sich nicht um, wickelte sich nur noch fester in seinen Mantel, als ware die Kalte ihm bis tief in die Seele gedrungen. »Warum sagst du es mir nicht, wo du doch beide kennst?«

»Du verlangst zuviel von einem armen, alten Lehrer. Ich wei?, Aurelius, es ist nicht leicht, sich plotzlich mit Dingen auseinandersetzen zu mussen, die uberraschend ans Licht gekommen sind, zumal wenn sie, wie in diesem Fall, das Gewissen schwer belasten ...«

Aurelius schwieg.

»Es ist nicht leicht«, fuhr Ambrosinus fort, »aber immer noch besser, als wenn sie ewig im verborgenen bleiben und uns langsam von innen auffressen, ohne da? wir das geringste dagegen tun konnen. Abgesehen davon besteht jederzeit die Gefahr, da? sie uns unerwartet uberfallen. Du wei?t jetzt wenigstens, woran du bist.«

»Ich wei? uberhaupt nichts.«

»Das ist unmoglich. Du mu?t dich an etwas erinnern.«

Aurelius seufzte. Er hatte ein gro?es Bedurfnis zu sprechen, sich jemandem anzuvertrauen, in der Hoffnung, endlich die schwere Last loszuwerden, die sein Herz bedruckte. »Nur einzelne Erinnerungsfetzen«, sagte er, »ein standig wiederkehrender Alptraum ...«

»Was ist das fur ein Alptraum?« hakte Ambrosinus nach.

Aurelius Stimme begann zu zittern. »Es ist Nacht. Zwei alte Leute hangen mit gefesselten Handen an einem Balken. Ihre Korper sind mit schrecklichen Folterspuren ubersat, dann ...«

»Sprich weiter. Bitte.«

»Dann kommt ein riesiger Barbar mit gezucktem Schwert und durchbohrt sie einen nach dem anderen.«

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