Vatrenus versuchte, dem Ganzen eine optimistische Note zu geben. »Vielleicht machen wir uns ganz unnotig Sorgen. Moglicherweise hat es Wulfila nicht geschafft, den Gebirgsflu? zu durchqueren, vielleicht hat er auch bei der Suche nach einer Furt flu?auf und flu?ab zuviel Zeit verloren. Aurelius soll sich ruhig gedulden und kommen, wann es ihm moglich ist. Er wei?, da? wir an einem Ort auf ihn warten, der leicht zu finden ist, und uns von diesem schwimmenden Konvoi nicht fortbewegen, bevor er zu uns gesto?en ist.«
»Konnen wir nicht ein Leuchtsignal setzen?« schlug Demetrios vor. »Dann sahen sie uns von dort oben und schopften neuen Mut. Sie wu?ten dann auch, da? wir auf sie warten. Mein Schild ist aus Metall, wir konnten ihn polieren und dann ...«
»Besser nicht«, antwortete Ambrosinus. »Sie wissen ohnehin Bescheid und werden uns finden, da sie doch immer in der Nahe des Flusses bleiben. Ein Leuchtsignal wurde nur Wulfila anlocken, der die Jagd nach ihnen niemals aufgeben wird. Er wird nicht ruhen, bis er uns alle vernichtet hat, das konnt ihr mir glauben. Versucht jetzt zu schlafen. Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns, und was uns morgen erwartet, wissen wir nicht.«
»Ich ubernehme die erste Wache«, sagte Livia. »Ich bin nicht mude.« Und sie ging vor zum Bug, lie? sich am Rand des Kahns nieder und baumelte mit den Beinen im Wasser. Die anderen breiteten auf der Brucke die Schaffelle aus, die Ambrosinus besorgt hatte, ruckten eng aneinander, um sich gegenseitig zu warmen, und deckten sich mit ihren Umhangen zu. Ambrosinus setzte sich ein Stuck weiter weg und schaute lange und forschend in die Dunkelheit hinaus. Dann erhob er sich und ging zu Livia.
»Du solltest auch schlafen gehen. Alles ist ziemlich ruhig. Vielleicht genugt es ja, wenn ein alter Gelehrter die Wache halt.«
»Ich habe schon gesagt, ich bin nicht mude.«
»Ich auch nicht. Dann konnte ich dir ein wenig Gesellschaft leisten ... wenn es dir recht ist.«
»Gern. Auch weil wir unser Gesprach noch nicht beendet haben.
Wei?t du noch?«
»Ja, sicher.«
»Du sprachst von einem Ratsel, das es in Aurelius Leben gibt.«
»Ja, so ist es. Worte, die ich, ohne es zu wollen, mit angehort habe. Einmal in jener Nacht in Fano und zum anderen in der Nacht auf der Pa?hohe, als ich den Abgrund hinabglitt.«
»Und worum ging es da?« fragte Livia beunruhigt.
»Vielleicht solltest du mir zuerst sagen, was du uber ihn wei?t.«
»Recht wenig.«
»Oder was du zu wissen glaubst.«
»Ich ... ich glaube, da? er der junge Held ist, der damals neun Monate lang Aquileia gegen Attila und seine Hunnen verteidigte und sich in der Nacht, als die Stadt durch das Werk eines Verraters fiel, aufopferte - fur mich und meine Mutter. Uns zuliebe lie? er die letzte Moglichkeit zu seiner Flucht verstreichen.«
»Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«
»Das spure ich. Und ich wei?, da? ich mich nicht irre.«
Ambrosinus suchte in der Dunkelheit Livias Augen. »Tatsachlich war es doch so, da? du ihn belogen hast... Nicht wahr? Du brauchtest einen Mann, der bereit war, etwas Unmogliches zu wagen, damit du auf ihn das Andenken an einen Helden ubertragen konntest, der bereits seit vielen Jahren tot ist.«
»Nein ...«, antwortete Livia. »Vielleicht am Anfang. Aber dann, als ich sah, wie er kampfte, sich voll und ganz einsetzte und standig sein Leben riskierte, um das der anderen zu retten, da hatte ich keine Zweifel mehr: Er ist der Held von Aquileia. Und selbst wenn dem nicht so ware, ist es die Wahrheit fur mich.«
»Eine Wahrheit, die er ableugnet. Das ist auch der Grund eures Zwistes, das Gespenst, das sich standig zwischen euch stellt und euch einander entfremdet. Hor mir zu, kein Andenken und keine Erinnerung vermag es, in einem leeren Gedachtnis Wurzeln zu schlagen. Auch auf Wasser kann man nicht bauen.«
»Meinst du? Ich habe so etwas schon gesehen.«
»Richtig, deine Stadt in der Lagune. Aber das hier ist etwas anderes. Hier haben wir es mit der Seele eines Mannes zu tun, seinem verwundeten Geist und seinen Gefuhlen. Und als ob das noch nicht reicht, ist noch eine andere Wahrheit aus seiner Vergangenheit aufgetaucht, die ihn zu zermalmen droht.«
»Von welcher Wahrheit sprichst du? Sag es, ich bitte dich.«
»Ich kann nicht. Ich habe kein Recht dazu.«
»Ich verstehe«, antwortete Livia resigniert. »Gibt es denn nichts, was wir fur ihn tun konnten?«
Ambrosinus seufzte. »Es sollte moglich sein, die Wahrheit, die einzige Wahrheit, endlich aus den Tiefen seines Geistes emporsteigen zu lassen, in denen sie schon so viele Jahre begraben liegt. Vielleicht ist mir sogar bekannt, worum es dabei geht, aber es ist furchtbar, ganz furchtbar ... Und es ist durchaus moglich, da? er es nicht uberlebt.«
»Und wo wird er jetzt sein, Ambrosinus?«
Sie sah, wie er bei dieser Frage erstarrte und sein Blick sich in Abwesenheit verlor; die ganze Person schien sich in einer ungeheuren Anstrengung zu konzentrieren.
»Vielleicht ... in Gefahr«, sagte er mit einer seltsam metallischen Stimme.
Livia trat mit einem verwunderten Blick naher an ihn heran. Ihr wurde plotzlich bewu?t, da? er gar nicht mehr bei ihr war, sondern seine Gedanken und vielleicht auch seine Seele an einem ihr unbekannten Ort umherstreiften. Dort wanderte er auf geheimnisvollen Pfaden dahin und erforschte ferne Gegenden und eisige Schneeflachen. Getragen vom Wind, schweifte er uber die Berge, durch Tannenwalder und zwischen schroffen Bergspitzen umher und flog, leise und unsichtbar wie ein nachtlicher Greifvogel, uber die Oberflachen zu Eis erstarrter Seen hinweg.
Livia sagte nichts, sondern blieb lange in ihren Gedanken versunken, wobei sie auf das schwache Gerausch der Wellen lauschte, die gegen die Au?enseite des Lastkahns klatschten. Ein kalter Nordwind zerri? die Wolken und enthullte fur wenige Augenblicke die Scheibe des Mondes. Beleuchtet von diesem durchscheinenden Licht, wirkte Ambrosinus' Gesicht wie eine wachserne Maske - mit reglosen Wimpern, die Augen so wei? und leer wie bei einer Statue. Nur sein Mund stand offen, als ob er schrie, doch drang weder der geringste Laut daraus hervor noch der zu wei?em Dampf kondensierte Atem. Er schien uberhaupt nicht zu atmen.
Der durchdringende Schrei eines Raubvogels hallte durch die tiefe Stille des Waldes, so da? Aurelius wie aus einem Dammerschlaf hochschreckte. Aufmerksam blickte er um sich und spitzte die Ohren, um noch kleinste Erschutterungen in der Luft wahrzunehmen. Dann stie? er Romulus an, der zusammengekauert neben ihm schlief. »Schnell«, sagte er zu ihm, »wir mussen fort. Wulfila ist da.«
Zu Tode erschrocken schaute Romulus sich um, doch alles schien ganz still und ruhig, zwischen den Wolken und Tannenwipfeln blitzte an einigen Stellen der Mond hindurch.
»Rasch!« drangte Aurelius. »Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.« Er legte dem Pferd die Kandare an und nahm es bei den Zugeln. Dann machte er sich, so schnell wie nur moglich, zu Fu? an den Abstieg, wobei er den Pfad nutzte, der durch den Wald fuhrte. Romulus lief neben ihm her. »Was hast du denn gesehen?« fragte der Knabe atemlos. »Nichts. Doch hat mich ein Ruf geweckt, ein Alarmruf. Und mein Instinkt, der es gewohnt ist, nach so vielen Jahren Krieg jede Bedrohung zu spuren. Lauf, wir mussen schneller gehen. Schneller.«
Sie lie?en den Wald hinter sich und befanden sich nun auf einer weiten Schneeflache im offenen Gelande. Der Mond verstromte sein diffuses Licht, das von dem Schnee strahlend reflektiert wurde, so da? Aurelius muhelos in geringer Entfernung die Spuren zweier Rader entdeckte, die aus dem Wald kamen und hinab ins Tal fuhrten.
»Dort hinuber«, sagte er. »Wo ein Wagen fahren kann, ist das Gelande in Ordnung. Jetzt konnen wir endlich wieder auf dem Pferd reiten. Los, steig auf, beeil dich.«
»Aber ich verstehe nicht ... da ist niemand, der ...« Ohne ihm Antwort zu geben, packte Aurelius den Knaben am Arm und zog ihn zu sich auf den Rucken des Pferdes. Dann stie? er seine Sporen in Jubas Flanken, der im Galopp den Abhang hinabsturmte, immer den Wagenspuren uber das weite, schneebedeckte Grasland folgend. In der Ferne war die dunkle Silhouette eines Dorfes zu erkennen, und Aurelius trieb das Pferd zu noch gro?erer Eile an. Kurz vor den ersten Hausern wurden sie von einem mehrstimmigen Geklaffe empfangen, was ihn dazu veranla?te, in Richtung Talsohle abzubiegen, bis er ein leicht erhohtes Plateau erreichte, von dem aus er weit uber das Flu?bett blicken konnte. Mit einem Seufzer der Erleichterung lie? er Juba eine kurze Strecke in Schrittempo gehen, damit dieser wieder zu Atem kam. Das prachtige Tier, das vor Schwei? dampfte, stie? riesige Dampfwolken aus seinen Nustern, schnaubte und bi? auf die Kandare, als wartete es ungeduldig darauf, erneut