»Was wirklich nicht wir verschuldet haben«, meinte Batiatus. »Ich habe so viele von ihnen umgebracht, da? ich sie kaum mehr zahlen kann.«

Ambrosinus kehrte zum Kern des Problems zuruck. »Mein Sohn, hier geht es nicht um die Unterscheidung, wer gut ist oder schlecht. Die Volker, die wir >Barbaren< nennen, lebten seit undenklichen Zeiten als Nomaden in den Weiten der sarmatischen Steppen. Sie lebten ihr Leben nach ihren uberlieferten Sitten und Gebrauchen auf eine ihnen genehme Weise. Dann, eines Tages, fingen sie an, gegen unsere Grenzen anzurennen, vielleicht weil ihre Gebiete von Hungersnoten oder Epidemien heimgesucht wurden, die ihr Vieh dezimierten. Oder andere Volker, die ihre Herkunftslander verlassen mu?ten, haben sie zu diesem Schritt veranla?t. Schwer zu sagen.

Vielleicht wurde ihnen auch plotzlich bewu?t, wie erbarmlich sie im Gegensatz zu unserem Reichtum lebten, wie armselig ihre Zelte aus Leder im Vergleich zu unseren Villen und Palasten aus Ziegel und Marmor waren. Den Leuten, die in den Grenzgebieten lebten und mit uns Handel trieben, stach der enorme Unterschied zwischen ihrem Leben in karglicher Armut und unserer Verschwendung sicher ins Auge. Dieser unglaubliche Reichtum an Silber, Gold und Bronze und die Pracht unserer Denkmaler, der Uberflu? und die Erlesenheit unserer Speisen und Weine, der Prunk unserer Kleider und unseres Schmuckes, vor allem die unglaubliche Fruchtbarkeit unserer Felder. Naturlich waren sie davon geblendet und fasziniert. Sie wollten ebenso leben wie wir. Also begannen sie, uns anzugreifen, und versuchten, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen. Oder sie ubten in anderen Fallen standigen Druck auf uns aus und unterwanderten uns damit immer mehr. Diese Auseinandersetzungen dauern nunmehr seit dreihundert Jahren an und nehmen noch immer kein Ende.«

»Was redest du da? Es ist alles aus. Unsere Welt gibt es nicht mehr.«

»Du irrst. Rom ist nicht gleichzusetzen mit einer Rasse, einem Volk oder einer ethnischen Gruppe. Rom ist ein Ideal, und Ideale lassen sich nicht zerstoren ...« Unglaubig schuttelte Romulus den Kopf. Wie brachte es dieser Mann nur fertig, in dieser desolaten Lage und dem Zerfall noch soviel Zuversicht aufzubringen? Doch da deutete Ambrosinus bereits wieder mit dem Finger auf die Karte. »Hier, zwischen Rhein und Belgica, sind die Franken angesiedelt, von denen ich dir einiges erzahlt habe. Einst lebten sie in den germanischen Waldern, nun bewohnen sie westlich des Rheins die besten Landstriche Galliens. Und wei?t du, wie es ihnen gelang, ans andere Flu?ufer zu kommen? Durch die Kalte. Eines Nachts sanken die Temperaturen so stark ab, da? der Rhein zufror, und als die Morgendammerung anbrach, bot sich unseren Soldaten ein gespenstischer Anblick. Plotzlich tauchte aus dem Nebel eine riesige Armee zu Pferde auf und ruckte uber den Flu? vor, der sich in eine Eisplatte verwandelt hatte. Und obwohl die Unsrigen sehr wacker kampften, wurden sie doch uberrannt.«

»Das stimmt«, bestatigte Orosius. »Ich horte einmal im Donaugebiet, wie ein Veteran diese Geschichte erzahlte. Er hatte fast keine Zahne mehr und uberall am Korper Narben, aber ein gutes Gedachtnis. Der Anblick der Krieger, die den Flu? zu Pferd uberquerten, war ein wiederkehrender Alptraum, der ihn standig aus dem Schlaf aufschrecken und schreien lie?: >Alarm, Alarm! Sie kommen!« Manche meinten, er ware verruckt. Ich aber versichere euch, niemand wagte es, deshalb uber ihn zu lachen.«

»Im Nordosten«, fuhr Ambrosinus fort, »liegt das, was von der romischen Provinz Gallien nach seiner Unabhangigkeit noch ubrig ist. Syagrius, der romische General, herrscht uber dieses Gebiet, und ihm ist der Titel Rex Romanorum - Konig der Romer - zuerkannt worden. Nur ein ungehobelter Soldat kann einen so alten und gleichzeitig so hochtrabenden Titel annehmen ...«

»He, Meister«, scherzte Batiatus, »auch wir sind ungehobelte Soldaten, aber wir haben unsere Qualitaten. Ich finde diesen Syagrius gar nicht so ubel.«

»Ja, vielleicht hast du nicht unrecht. Wir sollten sein Reich durchqueren, das wohlorganisiert ist und das Gebiet ziemlich weitreichend kontrolliert. Wir konnten auf der Seine flu?abwarts bis Parisii und dann in Richtung britannischen Kanal fahren. Es ist eine lange, schwierige Reise, aber wir konnten es schaffen. Wenn wir einmal den Kanal erreicht haben, besteht sicher die Hoffnung, da? sich unsere Spuren verlieren, und mit gro?ter Wahrscheinlichkeit werden wir auch ein Schiff fur die Uberfahrt finden. Es gibt viele Kaufleute, die unsere Schafwolle nach Gallien verkaufen, wo sie gesponnen wird, und im Gegenzug kaufen sie dort handgefertigte Artikel ein, an denen es uns mangelt.«

»Und dann? Was geschieht, wenn wir endlich dein Britannien erreicht haben? Wird dann alles besser, so da? wir endlich ein leichteres Leben fuhren konnen?« fragte Vatrenus, fest davon uberzeugt, das Interesse aller damit zur Sprache zu bringen.

»Ich furchte nein«, antwortete Ambrosinus. »Zwar war ich seit vielen Jahren nicht mehr in meinem Land und wei? nichts Genaues, doch mache ich mir keine Illusionen. Wie ihr wi?t, wurde die Insel seit einem halben Jahrhundert sich selbst uberlassen, so da? sich die dort ansassigen Stammesfuhrer untereinander bekriegen. Doch hoffe ich darauf, da? die burgerlichen Institutionen in den wichtigsten Stadten des Landes uberlebt haben, ganz besonders der Stadt, die an der Spitze des Widerstands gegen die Invasoren aus dem Norden stand: Carvetia. Dorthin werden wir uns aufmachen. Dafur mussen wir fast die gesamte Insel von Suden nach Norden durchqueren.«

Niemand fragte weiter. Die Manner, die aus dem Mittelmeerraum stammten, warfen einen Blick um sich und sahen einen Kontinent, in dem alles der eisigen Kalte ausgeliefert war. Die Landschaft war unter einem gleichformigen Mantel aus Schnee versunken, der alle Trennlinien und Abgrenzungen verwischt hatte. Es war die Natur, die den Flussen, den Bergen und endlosen Waldern ihre Regeln und ihre Beschrankungen aufzwang.

So reisten sie tagsuber, aber auch des Nachts, sofern es der Mond mit seinem Schein erlaubte. Sie folgten der Stromung des gro?en Flusses, und je weiter sie nach Norden vorstie?en, desto klarer und frischer wurde der Himmel und desto schneidender der Wind. Aurelius und seine Kameraden hatten sich grobe Jacken aus Schaffellen angefertigt, trugen lange und ungepflegte Haare und Barte, so da? sie jeden Tag ein wenig mehr den Barbaren ahnelten, die diese Gebiete bewohnten. Romulus betrachtete die Landschaft mit einer Mischung aus Verwunderung und Furcht, ihre ode Weite erfullte sein Herz mit Schrecken. Manches Mal trauerte er Capris Farben und Meer nach, dem Duft seiner Pinien und des Ginsters, seinem Herbst, der so mild war, da? er an einen Fruhling erinnerte. Doch horte er nicht auf, sich selbst zu ermutigen und niemals niedergeschlagen zu sein, denn er wu?te, da? auch seine Freunde viele Opfer brachten und gro?e Gefahren auf sich nahmen. Aber diese Opfer belasteten ihn immer mehr. Jeden Tag, der verging, empfand er, da? der Tribut, der zu entrichten war, in keinem Verhaltnis zu seinem Ziel stand. Dieses Ziel war in seinen Augen nicht mehr als ein Plan, der fur alle au?er Ambrosinus ein Ratsel war. Doch horten gerade die Weisheit des Druiden und sein ungeheures Wissen uber Welt und Natur nicht auf, ihn standig neu zu erstaunen, auch wenn der geheimnisvolle Aspekt seiner Personlichkeit ihn andererseits sehr beunruhigte. Nachdem die Begeisterung uber seine Befreiung und die Wiedervereinigung mit seinen Kameraden abgeklungen waren, wuchs in ihm die Sorge um die Manner, ja, er empfand ihnen gegenuber beinahe ein Gefuhl der Schuld. Sie hatten ihr Geschick voll und ganz an das eines Herrschers ohne Land und Volk gebunden, an ihn, einen armen Jungen, der ihnen diese Dankesschuld niemals vergelten konnte.

Doch fuhlten sich Vatrenus, Batiatus und die anderen in Wirklichkeit immer starker miteinander verbunden, nicht so sehr eines bestimmten Ziels oder eines Vorhabens wegen, das es zu realisieren galt, sondern allein aus dem Grund, da? sie zusammen unter Waffen standen und sich auf einem Marsch befanden. Sie beunruhigte lediglich die nervose Spannung und der oft abwesende, nachdenkliche Gesichtsausdruck ihres Anfuhrers Aurelius, den sie nicht verstanden und dessen Ursprung sie sich nicht erklaren konnten. Auch Livia war sich dessen bewu?t, wobei ihr Gefuhl der Beunruhigung sehr viel tieferen, personlichen Grunden entsprang.

Eines Abends ging sie zu Aurelius, wahrend er auf Wache an der Bootsreling stand und dabei zusah, wie das Schiff das graue Wasser des Rheins durchpflugte.

»Machst du dir Sorgen?« fragte sie.

»Standig. Wir befinden uns auf dem Weg in ein vollig unbekanntes Land.«

»La? doch diese Gedanken. Wir sind alle beisammen und stellen uns gemeinsam dem, was uns erwartet. Ist das etwa kein Trost fur dich? Als du damals mit Romulus in den Bergen warst, da war ich beunruhigt und versuchte im Geist, jeden eurer Schritte nachzuvollziehen. Ich stellte mir vor, wie ihr in den Waldern unterwegs wart, von euren Feinden gehetzt und den Unbilden des Wetters ausgesetzt.«

»Auch ich dachte viel an euch ... vor allem an dich.«

»An mich?« fragte Livia und suchte seinen Blick.

»Wie ich immer an dich gedacht habe und wie ich dich immer begehrte, seit damals, als ich dich zum ersten Mal sah. Wie eine Waldgottin hast du in dieser Quelle auf dem Apennin gebadet, und jeden Augenblick litt ich, den ich von dir getrennt war.«

Livia spurte, wie ihr ein Schauer uber die Haut lief, der nicht vom Nordwind hervorgerufen wurde. Plotzlich

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