Romulus hob das Gesicht und trocknete sich mit dem Saum seiner Tunika die Tranen ab. Dann stand er auf, und ohne ein Wort zu sagen umarmte er sie, wahrend von drau?en der Klang von Wagenradern hereindrang, die uber das Kopfsteinpflaster ratterten.
»Komm jetzt«, sagte Livia, »und nimm deine Sachen. Es ist Zeit, das Weite zu suchen.«
XXX
Der Karren stand bereits auf der Hafenmole, als Ambrosinus dem Fuhrmann den Mietpreis abzuglich der Kosten fur das Zugtier bezahlte. »Wie du siehst«, sagte er, »besitzen wir selber ein Pferd.« Und tatsachlich fuhrte in diesem Augenblick Aurelius Juba am Halfter vorsichtig den Steg herab, um ihn gegen den mageren Klepper zwischen der Deichsel auszutauschen.
»Bei allen Heiligen«, sagte der Fuhrmann, »dieses Tier ist als Zugpferd die reinste Verschwendung. Wenn du es mir uberla?t, gebe ich dir zwei meiner eigenen Gaule dafur. Was haltst du davon?«
Ohne ihn eines Blickes zu wurdigen, begann Aurelius, das Zaumzeug am Hals seines Pferdes zu befestigen.
»Das Tier ist wie ein Bruder fur ihn«, sagte Demetrios zum Fuhrmann. »Wurdest du etwa deinen Bruder gegen zwei Klepper tauschen ?«
Der Fuhrmann kratzte sich am Kopf. »Da mu?test du einmal meinen Bruder sehen, den konntest du hochstens gegen einen Esel eintauschen.«
»Beeilen wir uns«, mahnte Ambrosinus. »Je fruher wir losfahren, desto besser.« Nachdem sich die anderen vom Bootsfuhrer verabschiedet und bei ihm bedankt hatten, bestiegen sie den Karren, lie?en sich auf den Bodenbrettern nieder und lehnten sich gegen die Seitenwande. Ein Wachstuch, das uber das Gestange aus Weidenholz gespannt war, verbarg nicht nur die Insassen, sondern bot ihnen auch ein wenig Schutz. Livia kauerte sich neben Romulus unter der Decke zusammen. Aurelius schaute von hinten herein. »Ich gehe zu Fu?«, sagte er. »Da Juba es nicht gewohnt ist, einen Wagen zu ziehen, furchte ich, er konnte scheuen. Versucht ihr inzwischen, euch ein wenig auszuruhen.«
Ambrosinus gab dem Bootsfuhrer die Hand. »Wir sind dir sehr dankbar«, sagte er zu ihm. »Wir verdanken dir unser Leben und das, obwohl wir nicht einmal deinen Namen kennen.«
»Um so besser, dann braucht ihr euch eine Sache weniger zu merken. Es war eine schone Uberfahrt, und es gefiel mir, Gesellschaft zu haben. Normalerweise mache ich diese Reise immer mutterseelenallein. Wenn ich recht horte, willst du uber das Eis gehen.«
»Ich glaube, wir haben keine andere Wahl«, gab Ambrosinus zu.
»Das meine ich auch. Aber seid vorsichtig. Am dicksten ist das Eis immer an der Stelle, wo der Flu? am langsamsten flie?t. Also liegt auf den geraden Abschnitten die gro?te Gefahr in der Mitte, in den Biegungen dagegen an den Au?enseiten. Geht einer nach dem anderen hinuber und la?t als letztes das Pferd mit dem leeren Karren gehen. Wenn ihr erst auf der anderen Seite seid, schlagt den Weg nach Nordwesten ein. Innerhalb einer Woche konnt ihr die Seine erreichen, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist. Danach wird alles leichter werden, so hoffe ich zumindest. Gott stehe euch bei.«
»Dir auch, mein Freund. Eines Tages wirst du vielleicht von diesem Knaben horen, den du erlebtest, als er umherirrte und verfolgt wurde, und dann wirst du stolz sein, ihn kennengelernt und ihm geholfen zu haben. Gute Reise.«
Sie verabschiedeten sich mit einem letzten Handedruck, dann bestieg Ambrosinus mit Hilfe von Orosius den Wagen, der dessen hintere Wand hochklappte und an beiden Seiten befestigte. Dann sagte Demetrios zu Aurelius: »Nun sind wir alle bereit.« Quietschend und ratternd setzte sich das Gefahrt auf dem Kopfsteinpflaster der Mole in Bewegung und verschwand in der Dunkelheit.
Sie fuhren die ganze Nacht hindurch und legten etwa funfzehn Meilen zuruck, wahrend sie sich dabei abwechselten, Juba am Zugel zu fuhren. Doch spater, als sich das Pferd an den Wagen gewohnt hatte, setzte sich Aurelius auf den Kutschbock, von wo aus er es nur noch mit seiner Stimme und dem Zaumzeug lenkte. Zu ihrer Linken formte sich der Flu? immer mehr zu einer wei?en Kruste, die schlie?lich zu einer gleichma?ig dicken Eisplatte wurde und von einem Ufer zum anderen reichte. Die Kalte war schneidend. Wahrend der Nacht hatte sich der Nebel in Rauhreif verwandelt, der uber Straucher und Schilf, Ufergras und Busche ein Netz aus bizarrer Spitze warf. Der Himmel hatte einen Schleier aus hohen, sparlichen Wolken um sich gelegt, durch die von Zeit zu Zeit die ersten Strahlen der Sonne blitzten und nicht weit uber dem Horizont eine verschwommene, wei?liche Aureole bildeten.
Alle fuhlten sich unbehaglich. Das Fahrzeug, das ihnen zur Verfugung stand, verbarg sie zwar vor den Blicken der Menschen, war aber sehr langsam und nicht besonders stabil. Au?erdem wartete noch immer das gro?te Risiko auf sie: die Uberquerung des Flusses. Der vermeintliche Vorteil, da? ihnen das Morgenlicht eine bessere Sicht gewahrte, erwies sich in Wirklichkeit als hinfallig, denn das vom Himmel ausgesandte Licht wurde von dem Schnee und dem Eis so diffus widergespiegelt, da? die Umrisse aller Gegenstande ineinander verschwammen und die gesamte Landschaft in milchig helles Wei? getaucht war. Nur Menschen und Tiere traten deutlich erkennbar daraus hervor. Doch nur selten begegneten sie einigen Bauern und ihren Lasttieren, die mit Reisig und Brennholz beladen waren, oder ein paar einsamen Wanderern, die sich zumeist als zerlumpte Bettler herausstellten. Das Krahen der Hahne aus den in der Landschaft verstreuten Bauernhofen kundigte den neuen Tag an, und ab und zu horte man Hundegebell, das in dem unendlich leeren, kalten Raum wie ein unheimliches Klagelied widerhallte.
Ein paar Meilen fuhren sie noch weiter, dann hielten sie an einer Stelle an, an der sich der Flu? stark verengte und der Damm nicht allzu hoch uber das Flu?bett emporragte. Hier bot sich ihnen ein leichterer Zugang. Also fa?ten sie den Entschlu?, da? zwei Manner, geschutzt durch ein Sicherungsseil, zu Fu? die Festigkeit des Eises prufen sollten, damit der eine der beiden, falls er im Wasser versank, von dem anderen wieder herausgezogen werden konnte. Aurelius und Batiatus, die mit ihrer kraftigen, hochgewachsenen Statur einander sicheren Halt bieten konnten, erklarten sich zu dem Unterfangen bereit. Unter dem besorgten Blick ihrer Kameraden wagten sich beide auf die Eisflache vor und klopften mit ihren Speerstangen die Oberflache ab, um vorn Klang her die Dicke des Eises festzustellen. Innerhalb kurzer Zeit waren sie fast bis zur Mitte des Flusses vorgedrungen und schienen aus dem Blickwinkel ihrer Kameraden immer kleiner zu werden. Dort war der kritische Punkt, der Teil, an dem sich das Eis zuletzt verfestigt hatte, und so beschlo? Aurelius, zur besseren Prufung sein Schwert dort hineinzusto?en. Fest hielt er es mit beiden Handen umfa?t, bevor er es mit aller Gewalt ins Eis hineinbohrte, so da? die wie Kristall glitzernden Stucke nach allen Seiten davonstoben.
Er kam etwa bis auf einen Fu? hinab in die Tiefe, und mit einem letzten Sto? versenkte er die Klinge im Wasser.
»Einen Fu? tief!« rief er zu dem hinter ihm stehenden Batiatus.
»Wird das reichen?« erwiderte der Athiopier.
»Es mu? reichen, da wir hier nicht allzu lange ohne Deckung verweilen sollten. Dort druben hat man uns schon bemerkt, sieh nur!« Und er deutete auf ein paar Menschen, die am Ufer stehengeblieben waren, um sich das seltsame Gebaren der Fremdlinge anzusehen. Rasch kehrte er zuruck, um sich mit seinen Kameraden zu beratschlagen, dann machten sich alle im Abstand von wenigen Schritten auf den Weg.
»Beeilen wir uns«, sagte Ambrosinus. »Wir stehen hier allzusehr in der Schu?linie, und ein jeder, der uber uns Bescheid wei?, kann uns hier sehen.«
Der Bootsfuhrer, der gehofft hatte, zu diesem Zeitpunkt bereits in Richtung Suden unterwegs zu sein, befand sich in einer vollig anderen Lage. Das Salz zu loschen, hatte sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen als vorgesehen, da die Kristalle lange der Feuchtigkeit ausgesetzt und nun zusammengeklumpt waren. So hatte er seine Arbeit noch nicht beendet, als Wulfilas Manner auf die Mole sturmten und die vor Anker liegenden Schiffe zu kontrollieren begannen. Sie brauchten nicht lange, um das mit der Salzladung auszumachen, obwohl nur noch wenig davon auf der Brucke lag. Mit gezogenen Schwertern sturzten sie an Bord.
»Halt, stehenbleiben! Wer seid ihr?« rief der Bootsfuhrer. »Ihr habt nicht das Recht, auf mein Schiff einzufallen.«
In diesem Augenblick trat Wulfila auf den Plan und befahl seinen Mannern, ihm das Maul zu stopfen und ihn unter Deck zu bringen.
»Tu nicht so, als ob du uns nicht wiedererkennst!« fing er an. »Wir haben uns vor etwa zehn Tagen das letzte Mal gesehen, und ich bin sicher, du hast mein Gesicht nicht vergessen, oder doch?« Er naherte sich ihm und verzog dabei sein maskenhaftes Narbengesicht zu einem Grinsen. »Wir haben damals einen Abtrunnigen und Morder verfolgt, der mit seinem Pferd auf dein Schiff gesprungen ist. Er hatte einen Jungen dabei, nicht