Wasser ihnen die Glieder lahmte. Nun hatte Wulfila das Kommando uber das Schiff ubernommen. Er gebot dem zu Tode erschrockenen Steuermann, den Bug in Richtung Norden auszurichten, genau auf das Schiff zu, das jetzt in der Entfernung von einer Meile zu erkennen war und sich deutlich gegen die Nebelbank abhob, die, kompakt wie eine Mauer, immer naher kam.
An Bord des Fluchtschiffs herrschte angesichts des Nebels, der sich wie dichter Rauch spiralformig auf dem Meer ausbreitete, hochste Besturzung. Kein Wind wehte mehr, und Teutasius, der Steuermann, holte das Segel ein. Das Boot stand fast still.
»Unter diesen Bedingungen weiterzufahren ist Wahnsinn«, sagte er, »um so mehr, als keiner es wagen wird, eure Verfolgung aufzunehmen.«
»Das sagst du«, erwiderte Vatrenus. »Doch sieh dir einmal dieses Schiff dort hinten an. Die Ruderer treiben es direkt hinter uns her, ich furchte wirklich, sie haben es auf uns abgesehen.«
»Um sicher zu sein, da? sie es sind, mu?ten wir ihnen entgegentreten«, bemerkte Orosius.
»Mir ware lieber«, sagte Batiatus, »wir wurden uns diesen sommersprossigen Bastarden stellen, als in diesem ... diesem schrecklichen Ding zu versinken. Es kommt mir vor, als stiegen wir direkt in die Unterwelt hinab.«
»Im Grunde haben wir das in Miseno schon einmal getan«, gab Vatrenus zu bedenken.
»Ja, aber damals wu?ten wir, da? es nur eine sehr kurze Zeit andauerte«, entgegnete Aurelius. »Hier dagegen haben wir es mit einer Fahrt von etlichen Stunden zu tun.«
»Sie sind es!« schrie Demetrios, der den Mast bis zur Spitze emporgeklettert war.
»Bist du dir sicher?« fragte Aurelius.
»Naturlich! Und in etwa einer halben Stunde werden sie uns eingeholt haben.«
Ambrosinus, der in seine Gedanken versunken schien, raffte sich plotzlich auf. »Haben wir Ol an Bord?«
»Ol?« fragte der Steuermann verblufft. »Ich glaube ... ich glaube, ja, aber nur wenig. Die Manner nehmen es fur ihre Laternen her.«
»Bring sofort die gro?te Schale, die du hast, und dann mach dich zur Weiterfahrt bereit. Wir werden jetzt rudern.«
»Gib ihm, was er von dir verlangt«, sagte Aurelius. »Er wei?, was er tut.«
Der Mann ging unter Deck und kam wenig spater mit einer irdenen Schussel zuruck, die halb mit Ol gefullt war. »Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte er.
»Sie kommen naher!« rief Demetrios erneut vom Mast herunter.
»Ist gut«, sagte Ambrosinus zustimmend, »das reicht. Stell die Schale aufs Deck, und dann geh ans Steuer zuruck. Auf mein Zeichen setzen sich alle kraftigen Manner an die Riemen.« Nach diesen Worten entnahm er seinem Quersack ein Wachstafelchen, das er sonst fur seine Notizen benutzte, ri? die au?ere Pergamenthulle ab und zog unter den erstaunten Augen der Umstehenden ein pfeilformiges Plattchen aus Metall hervor, so leicht, da? der Wind es hatte davontragen konnen. Dieses Plattchen legte er auf die Oberflache des Ols.
»Schon einmal von Aristeas von Prokonnesos gehort?« fragte er. »Nein, naturlich nicht. Nun gut, die Alten sagten, er habe einen Pfeil gehabt, der ihn uber viele Jahre ins Land der Hyperboreer dort im fernen Norden brachte. Das hier ist dieser Pfeil. Er wird uns den Weg nach Britannien zeigen. Wir brauchen ihm nur zu folgen.«
Unter den immer erstaunteren Augen seiner Gefahrten begann sich der Pfeil zu bewegen und drehte sich so lange auf der Oloberflache, bis er stehenblieb und bestandig in eine Richtung zeigte.
»Da ist Norden«, erklarte Ambrosinus feierlich. »Manner, an die Riemen!«
Alle gehorchten, das Schiff setzte sich in Bewegung und tauchte langsam in die milchige Wolke ein.
Romulus kauerte derweil neben seinem Meister, der inzwischen am Schalenrand eine Kerbe einschnitt, genau an der Stelle, die mit der vom Pfeil bezeigten Richtung ubereinstimmte.
»Wie ist das moglich?« fragte Romulus. »Besitzt dieser Pfeil vielleicht Zauberkrafte?.«
»Das glaube ich sicher«, antwortete Ambrosinus. »Eine andere Erklarung wu?te ich jedenfalls nicht.«
»Und wo hast du ihn her?«
»Ich habe ihn vor ein paar Jahren in den unterirdischen Gewolben des Portunustempels in Rom gefunden. In einer Tuffsteinurne. Eine griechische Inschrift besagte, da? dies der Pfeil des Aristeas von Prokonnesos sei, den auch Pytheas von Massilia benutzt habe, um Thule zu finden. Ist das nicht unglaublich?
»Das ist es«, antwortete Romulus. Und dann fugte er noch hinzu: »Meinst du, da? sie uns verfolgen?«
»Das glaube ich nicht, da sie keine Moglichkeit haben, den Kurs zu halten. Und au?erdem ...«
»Au?erdem?« unterbrach ihn Romulus.
»Die Mannschaft besteht aus Leuten dieser Gegend. Und hier macht eine Geschichte die Runde, die ihnen gro?e Angst einjagt.«
»Welche Geschichte?«
»Da? hier der Nebel nur deshalb so dicht ist, damit er das Schiff verbirgt, das von der Toteninsel zuruckkehrt, wo es die Seelen der Verstorbenen hingebracht hat.«
Wahrend Romulus sich umsah und dabei versuchte, die dicke Nebelwand zu durchdringen, lief ihm ein Schauer uber den Rucken.
XXXII
Romulus zog den Umhang noch fester um die Schultern, wahrend er seine Augen wie gebannt auf die winzigen Bewegungen des hin-und herschwingenden Pfeils richtete, der auf dem Ol schwamm und auf geheimnisvolle Weise den Pol des Gro?en Baren anzeigte.
»Hast du gesagt, die Insel der Toten?« fragte er unvermittelt.
Ambrosinus lachelte. »Das habe ich gesagt. Die Leute hier haben gro?e Angst davor.«
»Ich verstehe das nicht, ich dachte, die Toten gingen ins Jenseits.«
»Das ist es, was wir alle glauben. Aber wei?t du, da nie jemand aus dem Totenreich zuruckkehrte und erzahlte, was er dort beobachtet hat, macht sich jedes Volk seine eigenen Vorstellungen von dieser geheimnisvollen Welt. Und in dieser Gegend hier hei?t es, da? es an der Kuste von Armorica ein Fischerdorf gabe, dessen Einwohner weder Steuern zahlen noch Tribut leisten mussen, da sie eine sehr wichtige Aufgabe zu erfullen haben. Sie setzen die Seelen der Verstorbenen auf eine geheimnisvolle Insel uber, die von ewigen Nebeln bedeckt ist. Der Name dieser Insel ist angeblich Avalon. Jede Nacht hort man, wie an die Tur eines der Hauser in diesem Ort geklopft wird und eine leise Stimme sagt: >Wir sind bereit.< Dann steht der Fischer auf und geht zum Strand, wo er sein scheinbar leeres Boot so tief im Wasser liegen sieht, als werde es von einer schweren Last niedergedruckt. Und dieselbe Stimme, die er zuvor horte, ruft nun jeden einzelnen Verstorbenen bei seinem Namen. Bei den Frauen wird ubrigens auch der Name des Vaters oder Ehemanns genannt. Dann setzt sich der Fischer ans Steuer und setzt das Segel. In der nebeligen Dunkelheit legt er im Lauf einer Nacht eine Strecke zuruck, fur die jeder andere allem fur den Hinweg eine volle Woche benotigte. In der folgenden Nacht klopft es dann an eine andere Tur, und dieselbe Stimme sagt: >Wir sind bereit. <«
»Mein Gott«, seufzte Romulus. »Diese Geschichte macht einem wirklich angst. Aber ist sie auch wahr?«
»Wer wei? das schon? In gewissem Sinne ist alles wahr, woran wir glauben. Etwas Wahres ist sicher daran. Vielleicht ist die Bevolkerung dieses Dorfes den alten Praktiken der Totenbeschworung verfallen, wodurch ihnen Erfahrungen von so gro?er Intensitat zuteil werden, da? sie ihnen vollig echt erscheinen ...« Er brach ab, um dem Steuermann einige Anweisungen zu erteilen: »Mehr nach Steuerbord, langsam, ja, so ist es gut.«
»Wo liegt diese Insel Avalon?«
»Das wei? niemand. Irgendwo an der Westkuste Britanniens vielleicht. So jedenfalls horte ich einen alten Druiden sagen, der von der Insel Mona stammte. Andere sagen, sie lage weiter im Norden und sei der Ort, an dem sich die Helden nach ihrem Tod versammeln. Wie die Insel der Seligen, von der Hesiod spricht, wei?t du noch? Vielleicht sollten wir in diesem Dorf in Armorica an Bord des Totenschiffs gehen, um ihr Geheimnis zu luften ... Doch sind das alles nur Vermutungen und Spekulationen. Tatsache ist, mein Sohn, wir sind von vielen Geheimnissen umgeben.«
Romulus nickte langsam, als wolle er einer schwerwiegenden Behauptung zustimmen, dann zog er sich den Umhang uber den Kopf und suchte Schutz unter Deck. Ambrosinus blieb allein zuruck mit seinem Pfeil, um damit das Schiff durch das verschwommene Dunkel zu lenken, wahrend seine Gefahrten unaufhorlich weiterruderten, stumm vor Verwunderung in dieser schwebenden Atmosphare ohne Zeit oder Raum, in der das Klatschen der Wellen gegen den Kiel die einzige Wirklichkeit darzustellen schien. Irgendwann fragte Aurelius: »Meinst du, da? wir ihn noch einmal sehen werden?«