Ambrosinus setzte sich neben ihn auf die Ruderbank: »Wulfila?« antwortete er. »Ja, naturlich. Bis ihn endlich einer zur Strecke bringt.«
»Volusianus hat uns geraten, uberall sonsthin zu fahren, nur nicht nach Britannien. Es scheint ganz, als sei dieses Land ein wirkliches Schlangennest.«
»Ich glaube nicht, da? es in unserer Welt irgendwelche Orte gibt, die besser sind als andere. Wir gehen nach Britannien, weil dort etwas auf uns wartet.«
»Deine Prophezeiung. Oder etwa nicht?«
»Uberrascht dich das?«
»Ich wei? es nicht. Du kennst sowohl Plinius als auch Varro, Ar-chimedes und Eratosthenes. Selbst Strabo und Tacitus hast du gelesen ...«
»Du auch, soweit ich sehe«, bemerkte Ambrosinus nicht ohne Uberraschung.
»Du bist also ein Mann der Wissenschaft«, schlo? Aurelius, als habe er ihm gar nicht zugehort.
»Ein Mann der Wissenschaft sollte aber nicht an Prophezeiungen glauben, die derart irrational sind. Richtig?«
»Nein, das ist es nicht.«
»War es vielleicht rational, was du getan hast? Und was ist an den vielen Dingen noch logisch, die du in den letzten Monaten erlebt hast?«
»In der Tat recht wenig.«
»Und wei?t du, warum? Weil es noch eine andere Welt gibt, die uber die, die wir kennen, weit hinausgeht. Die Welt der Traume, der Ungeheuer und der Chimaren, die Welt der Phantasie und der Leidenschaften mit all ihren Geheimnissen. Das ist die Welt, von der wir in einigen Augenblicken unseres Lebens beruhrt werden, die uns zu sinnlosen Handlungen verleitet oder uns unter einem eiskalten Hauch erschauern la?t, der uns in der Nacht wie der Gesang einer im Schatten verborgenen Nachtigall erfa?t. Wir wissen auch nicht, wie weit diese Welt sich erstreckt, ob sie Grenzen hat oder unendlich ist. Befindet sie sich in oder au?erhalb von uns, nimmt sie, um sich zu offenbaren, den Anschein des Realen an, oder verbirgt sie sich ganzlich dahinter. Prophezeiungen ahneln den Worten, die ein schlafender Mann im Traum spricht. Scheinbar haben sie keinen Sinn, doch kommen sie tatsachlich aus den verborgensten Abgrunden der universellen Seele.«
»Ich dachte, du seiest ein Christ.«
»Macht das einen Unterschied? Auch du konntest das sein, was dein Herz manifestiert. Statt dessen bist du ein Heide.«
»Wenn das bedeutet, in Treue zu den Traditionen der Ahnen und dem Glauben der Vater zu stehen oder Gott in allen Dingen und alle Dinge in Gott zu sehen, wenn es bedeutet, bitter die einstige Gro?e zu beweinen, die nie mehr zuruckkehren wird, nun gut, dann bin ich ein Heide.«
»Und gleiches gilt auch fur mich. Siehst du diesen Mistelzweig hier um meinen Hals? Er kennzeichnet die Verbindung zu jener Welt, in die ich hineingeboren wurde - mit all ihrer uralten Weisheit. Ziehen wir vielleicht nicht andere Gewander an, wenn wir von einem warmen in ein kaltes Land kommen? So steht es auch mit unserer Sicht der Welt. Religion ist die Farbe, die unsere Seele entsprechend dem Licht annimmt, dem sie ausgesetzt ist. Du hast mich im Licht der mediterranen Welt erlebt, aber vergi? nicht, im Dunkel der Walder Britanniens werde ich ein anderer sein und dennoch derselbe. Es ist unvermeidlich, und so mu? es sein. Wei?t du noch, als wir uber den Rhein fuhren und die Hymne an die Sonne angestimmt haben? Alle haben wir gesungen, sowohl Christen als auch Heiden, denn der Glanz der Sonne, die nach jeder Nacht wieder neu aufgeht, steht auch fur das Antlitz Gottes und die Glorie Jesu Christi, der das Licht immer wieder in diese Welt tragt.«
Und so verbrachten sie die Nacht, indem sie von Zeit zu Zeit redeten und sich gegenseitig Mut zusprachen, dann wieder schweigend ruderten, bis plotzlich der Nebel sich lichtete und Wind aufkam. Demetrios setzte das Segel, wahrend seine Gefahrten, die von der nachtlichen Anstrengung vollig erschopft waren, sich endlich ein wenig Ruhe gonnten. Kaum jedoch, da? die Morgenrote ihren Glanz ausbreitete, ertonte die Stimme von Ambrosinus: »Seht nur! Seht alle hin!«
Aurelius hob sein Haupt. Romulus und Livia eilten auf das Vorschiff, wahrend Batiatus, Orosius und Demetrios die Taue loslie?en, mit denen das Segel gehalten wurde. Sie alle bewunderten den Anblick, der sich langsam vor ihren Augen enthullte. In den ersten Strahlen der Morgensonne stieg aus dem Nebel ein Land der grunen Wiesen und wei?en Klippen empor, umsaumt von dem blauem Himmel, dem Meer und der gurgelnden Gischt. Der Wind liebkoste das Land, und Millionen von Vogeln begru?ten es mit ihrem Ruf.
»Britannien!« rief Ambrosinus. »Mein Vaterland!« Er offnete weit die Arme, als wolle er einen lieben Menschen an sich ziehen, nach dem er sich lange gesehnt hatte. Er weinte. Uber sein Asketengesicht rannen ihm die Tranen, die seine Augen mit neuem Licht und Glanz erfullten. Dann fiel er nieder auf die Knie. Er bedeckte sein Gesicht mit den Handen und versenkte sich in ein Gebet, das ihn mit dem Geist seiner Heimat verschmolz, den ihm der Wind mit seinen verlorenen und nie vergessenen Geruchen zutrug.
Schweigend, doch voller Anteilnahme, betrachteten ihn die anderen. Sie schreckten erst wieder auf, als der Bootskiel uber den sauberen Kies des Strandes knirschte.
Nur Juba war uber den britannischen Kanal transportiert worden, die anderen Pferde hatten sie Teutasius als Entgelt fur die Uberfahrt in Zahlung gegeben. Nun fuhrte Aurelius ihn die schmale Planke hinab und streichelte ihn dabei beruhigend. Er betrachtete ihn, wie er an diesem herrlichen Tag, der wie ein vorgezogener Fruhlingstag wirkte, wie die Flugel eines Raben im Licht der Sonne strahlend erglanzte. Dann stiegen auch die anderen aus dem Boot, als letzter Batiatus, der Romulus im Triumph auf seinen Schultern trug.
Sie schlugen den Weg nach Norden ein und stapften durch grune Felder, die immer wieder von flachigen Schneeverwehungen unterbrochen waren, aus denen hier und da purpurfarbene Krokusse hervorlugten. Auf den Hecken, die rot von Beeren waren, hupften die Rotkehlchen umher, schienen aber einzuhalten, um einen neugierigen Blick auf die kleine Schar zu werfen, die an ihnen voruberging. Gelegentlich standen riesige Eichen inmitten gro?er Weideflachen, in deren kahlen Asten goldfarbige Mistelbeeren leuchteten.
»Siehst du?« sagte Ambrosinus zu seinem Schuler. »Das ist die Mistel, die heilige Pflanze unserer uralten Religion, von der angenommen wurde, da? sie vom Himmel herabgeregnet ist. Ebenso heilig ist uns die Eiche, von welcher der Name fur die weisen Manner der keltischen Religion herruhrt: die Druiden.«
»Ich wei?«, antwortete Romulus. »Der Name kommt von dem griechischen Wort
Aurelius rief sie in die Wirklichkeit zuruck. »Wir sollten uns rasch einige Pferde besorgen, zu Fu? sind wir viel zu leicht anzugreifen.«
»Sobald es moglich ist«, antwortete Ambrosinus. »Sobald es moglich ist.« Und wieder gingen sie weiter. Sie marschierten den ganzen Tag und kamen uber Felder, an denen einige verstreute Bauernhofe und mit riesigen Heustapeln bedeckte Holzhutten lagen. Die Dorfer bestanden aus kleinen Ansammlungen winziger Hauser, die sich alle dicht aneinander drangten. Je naher der Abend des kurzen Wintertages ruckte, desto mehr Rauchwolken stiegen von den Dachern auf, und Romulus stellte sich vor, wie die Familien sich rings um die karglich gedeckten Tische versammelten und im schwachen Licht einer Ollampe das Brot verzehrten, das sie sich gemeinsam erarbeitet hatten. Er beneidete sie um ihr einfaches und bescheidenes Leben, das vor der Gier machtausubender Manner geschutzt war. Ja, er traumte sogar, dereinst selbst ein solches Leben zu fuhren.
Bevor die Nacht hereinbrach, nahm Ambrosinus Romulus an die Hand und ging nur mit ihm zu der Tur eines abgelegenen Hauses, das etwas gro?er und reicher schien als die anderen, die sie gesehen hatten. Neben dem Gebaude lag ein weitlaufiges Gehege mit einer Herde Schafe darin, die gut in der Wolle standen, daneben ein weiteres Gatter, das ein paar Pferde umschlo?. Ein kraftiger Mann, eingehullt in einen Umhang aus grober Wolle, das Gesicht eingerahmt von einem schwarzen, mit silbergrauen Faden durchzogenen Bart, kam an die Tur.
»Wir sind Wanderer«, sagte Ambrosinus. »Die ubrigen warten hinter der Hecke dort. Wir kommen aus einem Land jenseits des Meeres und sind auf dem Weg in die Lander des Nordens, die ich vor vielen Jahren verlassen habe. Ich hei?e Myrdin Emreis.«
»Wie viele seid ihr?« fragte der Mann.
»Insgesamt acht. Wir brauchen Pferde, wenn du uns welche verkaufen kannst.«
»Ich hei?e Wilneyr«, sagte der Mann, »ich habe funf Sohne, die alle sehr stark sind und mit Waffen gut umgehen konnen. Wenn ihr in Frieden kommt, werde ich euch wie Gaste aufnehmen, kommt ihr aber als Rauber, dann wisset, da? wir uns nicht wie die Fische ausnehmen lassen.«
»Wir kommen in Frieden, mein Freund, und im Namen Gottes, vor dessen Richterstuhl wir dereinst alle stehen werden. Der Not halber sind wir bewaffnet, aber wir stellen die Waffen vor der Tur ab, bevor wir uns unter