»Ah, Halbmensch, du hast die Beute erwischt«, knurrte er mit der tiefsten, sonorsten Ba?stimme, die Mavra je gehort hatte.
Nikkis Miene verriet Entsetzen.
»Aus dem Weg, Ziggy!«sagte der Aufseher leise.
Der gro?e Mann zog die Nase hoch.
»Ach, Mist! Was kann das winzige Ding jetzt noch anstellen? Ich bringe sie auf die harte Weise um und sto?e ihr ein Loch in den Bauch«, prahlte er.
»Aus dem Weg!«wiederholte der Aufseher.
Statt dessen ging der andere auf Mavra zu, streckte seine riesige behaarte Hand aus, hob ihr Gesicht und strich ihr uber Wange und Hals.
Mavra ballte die linke Hand und spurte, wie das Gift in ihre Fingerspitzen stieg. Alle funf fur ihn, in zwei Sekunden, dachte sie.
Sie wollte handeln, als sie plotzlich ein schrilles Heulen horte. Der gro?e Mann schrie auf, schien zu erstarren und sturzte zu Boden. Mavra sprang schnell zur Seite, um nicht unter dem Muskelberg begraben zu werden.
Der Aufseher seufzte und richtete die Pistole wieder auf Mavra. Sie war zu betaubt gewesen, um den Augenblick zu nutzen.
»Ist das wahr, was Sie sagen?«fragte der Aufseher.»Sie haben Schwamm und auch ein Gegenmittel?«
Mavra nickte stumm.
»Auffangen!«sagte der Aufseher und warf ihr die Pistole zu.
Sie fing sie auf und steckte sie unsicher ein.
»Sie wissen nicht zufallig, wie spat es ist?«fragte sie tonlos. Der Aufseher blickte auf eine Stelle an der Ruckseite seines Halfters.
»Elf Uhr vierzehn«, erwiderte er.
»Dann los!«sagte sie scharf.»Wir haben genau noch sechzehn Minuten, um ein Raumschiff zu stehlen.«
Unterwegs bewegte Mavra den Aufseher, der Renard hie?, dazu, uber Funk durchzugeben, da? die Fluchtige gefa?t sei und im Aufseherquartier festgehalten werde. Trelig bestatigte den Empfang und befahl, sie zu ihm zu bringen.
Sie naherten sich dem Raumflughafen. Nikki war erst einige Tage zuvor von Ben behandelt worden, war aber immer noch sehr dick und langsam. Es war nicht zu andern; ohne sie konnte Mavra nicht starten.
Auf dem Raumflughafen war alles still.
»Eine Aufseherin, Marta, im Gebaude, das ist alles«, sagte Renard.»Trelig sagt sich, da? Sie ohnehin abgeschossen werden, selbst wenn Sie ein Raumschiff stehlen konnten. Aber Sie kommen an den Robotern vorbei, ja?«
»Kommt ja reichlich spat, die Frage«, meinte Nikki.
»Ja, keine Sorge«, versicherte Mavra.»Wenn Nikki an Bord ist, erhalte ich den Code. Posthypnotisch.«Hoffe ich, dachte sie.
»Ich gehe allein hinein«, schlug Renard vor.»Mich verdachtigt Marta nicht.«Er fugte nach einer Pause hinzu:»Sie ist eigentlich auch kein ubler Mensch. Wir konnten sie mitnehmen.«
»Wir sind schon mehr, als ich erwartet habe«, gab Mavra zuruck.
»Niemand kommt mehr mit. Betauben Sie sie, wenn ich mich auf den Waffendetektor sturze. Dann steigen Sie ins Schiff. Erledigen Sie die beiden Stewards, wenn Sie konnen.«
»Kein Problem«, sagte Renard.»Sie sind selbst wie Roboter. Alles, was au?erhalb ihrer Erfahrung liegt, bewaltigen sie nicht.«
»Die Zeit vergeht«, knurrte Mavra.»Los!«
Sie zahlte bis drei?ig, nachdem Renard im Terminal verschwunden war, dann ging sie darauf zu, Nikki hinter sich, zog die Pistole und zerscho? den Kontrollkasten am Waffendetektor.
»Jetzt, Nikki! Zur Tur!«
Nikki ruhrte sich nicht.
»Nein!«sagte sie storrisch.»Nicht ohne meinen Vater!«
Mavra seufzte, drehte sich um und betaubte Nikki mit dem Nagel ihres rechten Zeigefingers.
»He! Wa—«, stie? das Madchen hervor, dann erstarrte sie und entspannte sich wieder, ohne noch denken zu konnen.
»Du laufst hinter mir her, so schnell du kannst«, sagte Mavra zu Nikki.»Nicht stehenbleiben, bis ich es sage!«Und damit hetzte sie zum Eingang. Nikki folgte ihr, so gut sie konnte.
»Du wiegst zehn Kilo!«schrie Mavra sie an.»Los jetzt!«
Nikki wurde schneller, und sie lief weitaus behender durch die Tur, als man von ihr hatte erwarten konnen.
Mavra lie? sich nur eine Sekunde Zeit, einen Blick auf die bewu?tlos am Boden liegende Aufseherin zu werfen, dann wandte sie sich Nikki zu.
»Ins Schiff!«befahl sie und drehte sich besorgt um.»Renard!«
Aus dem abseits stehenden Schiff drangen zwei heulende Gerausche, und einen Augenblick spater sah sie Renard einen Neuen Harmonisten herauszerren.
»Los, Nikki!«sagte sie, und das Madchen folgte ihr wie ein dressierter Hund.
Renard schleppte schweratmend die zweite Gestalt heraus und winkte ihnen.
Es war Treligs Privatkreuzer, komplett mit Schlafzimmer, Salon und sogar einer Bar ausgestattet. Renard schnallte Nikki in einem der Sessel des Salons an, wahrend Mavra nach vorne ging. Ein kurzer Strahl aus der Pistole zerstorte das kleine Schlo?, und Mavra offnete die Tur zum Cockpit.
Renard hastete ihr nach und schnallte sich im Copiloten-Sessel an. Mavra war binnen Sekunden an der Arbeit, betatigte Schalter, tastete Anweisungen in den Computer ein und bereitete einen Notstart vor.
»Festhalten!«schrie sie Renard zu, als das Schiff vibrierte.»Es wird rauh!«
Sie druckte auf die Taste ›NS‹, das Raumschiff loste sich und fegte hinauf.
»Bitte den Code«, sagte eine mechanische Stimme freundlich aus dem Lautsprecher.»Den korrekten Code binnen sechzig Sekunden, oder wir zerstoren das Schiff.«
Mavra ri? verzweifelt den Kopfhorer an sich, versuchte ihn aufzusetzen, aber er war so gro?, da? er nicht hielt. Sie schaltete das Mikrophon ein und hielt es an den Mund.
»Code kommt«, sagte sie hinein und verstummte. Los!
»Geben Sie um Himmels willen den Code durch!«schrie Renard.
»Drei?ig Sekunden«, sagte die Robotwache hoflich.
Plotzlich hatte sie ihn. Die Worter schossen in ihr Gehirn, ganz plotzlich, so sonderbar, da? sie fur Augenblicke an der Richtigkeit zweifelte. Sie atmete tief ein.
»Edward Gibbon, Band eins«, sagte sie.
Keine Antwort. Sie hielten gemeinsam den Atem an. Die Sekunden tickten vorbei. Funf… vier… drei… zwei… eins… null…
Nichts geschah. Renard pfiff durch die Zahne und sank in sich zusammen. Mavra begann zu zittern und konnte eine halbe Minute damit nicht aufhoren. Sie fuhlte sich vollig ausgelaugt.
Sie sa?en stumm da, wahrend sie mit vollem Schub weiterflogen. Endlich drehte Mavra sich dem fremden Mann zu, der wie eine Frau aussah, und fragte ihn fast im Flusterton:»Renard, wie spat ist es?«
Renard zog die Brauen zusammen und drehte sein Halfter um.
»Zwolf Uhr zehn«, erwiderte er.
Mavra fuhlte sich besser. Sie hatten eine gro?e Chance, es rechtzeitig zu schaffen. Wenn Treligs Raumschiff dazu nicht imstande war, gab es uberhaupt keine andere Moglichkeit.
Dann kam plotzlich Dunkelheit. Mavras Augen konnten sich ihr nicht mehr anpassen, ebensowenig hatte sie das Gefuhl, von einem Schiff umgeben zu sein. Sie befanden sich in einem tiefen schwarzen Loch und sturzten immer schneller hinein.
Renard schrie auf, ebenso Nikki, in klagendem Ton irgendwo hinter ihnen.
»Verdammter Mist!«sagte Mavra angewidert.»Sie haben den verdammten Test vorgezogen!«