Die Unterseite von Neu-Pompeii
Trelig war ungeduldig geworden. Der Asteroid war von den Robotschleppern fruhzeitig in Position gebracht worden; Yulin war bereit, das ubrige Personal uberwachte alle notwendigen Instrumente. Trelig sah keinen Grund, bis dreizehn Uhr zu warten. Er befahl, mit dem Versuch zu beginnen, und Yulin gab die Anweisung an Obie weiter.
Der Computer selbst war beunruhigt. Er konnte Yulins direkten Befehl nicht mi?achten, obwohl er versucht hatte, ihn durch kleine Defekte hinauszuzogern. Obie hatte selbst Grenzen, und wenn Yulin den Code durchgab, mu?te Obie gehorchen, in der Hoffnung, da? Mavra fruhzeitig entkommen war.
Die vollige Schwarze und das Fallgefuhl kamen fur Zinder unerwartet. Selbst Obie spurte sie; der Computer wu?te, da? sie nirgends hinsturzten, und kam zu dem Schlu?, da? die erste funfzigprozentige Moglichkeit eingetreten war. Es gab nicht genug Energie, um Neu-Pompeii in einer stabilen Beziehung zum Rest des Universums zu halten; der Zug hatte sich ausgewirkt, zu stark, und der Planetoid hatte ihm nachgegeben.
Unbeeinflu?t von den schrecklichen Sinneswahrnehmungen der anderen sondierte Obie den Zustand. Drau?en war nichts. Uberhaupt nichts.
Neu-Pompeii war noch intakt; das vermochte Obie festzustellen. Aber er hatte bei der Zuschaltung der gro?en Schussel sofort auf Reserveenergie umgeschaltet und konnte nirgends Materie entdecken, nicht das winzigste Staubpartikel au?erhalb des Strahles, der knapp unter ein Lichtjahr weit reichte. Sie befanden sich ganz allein in einem eigenen Kosmos.
Und doch war da etwas, das nur Obie fuhlen konnte. Die Zugkraft und das gigantische Kraftfeld, die Stabilitatsgleichung fur ihre physische Existenz, horten schlagartig auf, als sei ein gespanntes Gummiband von einer Verankerung gerutscht. Das war die Zugkraft, begriff Obie. Alle Materie und alle Energie im Kosmos hatten irgendwo ihre Verbindung zum Zentralcomputer; wenn diese Verbindung gestort oder unterbrochen wurde, loste die betroffene Wirklichkeit sich in ihr primares Energiemuster auf. Deshalb konnten sie keine Wirklichkeit fuhlen, konnten den Planetoiden nicht beruhren, obwohl Obies Instrumente zeigten, da? er da war. Er war nicht da. Sie waren alle, Obie eingeschlossen, ein abstraktes mathematisches Konzept, das zu seinem Schopfer zuruckkehrte.
Dann trat plotzlich wieder Stabilitat ein. Die Energie kehrte zuruck, und Obie konnte wahrnehmen, wie Sonnenenergie das Plasma bestrahlte, das wie durch ein Wunder gehalten zu haben schien.
Alle Menschen lagen im Kontrollraum und auf dem Laufgang herum, betaubt, schockiert oder bewu?tlos.
Dann stohnte plotzlich eine Gestalt und setzte sich auf, bewegte den Kopf, wie um schmerzhafte Muskeln zu bewegen. Schwer atmend, halb gehend, halb kriechend erreichte der Mann den Kontrollraum, ohne das Stohnen der anderen zu beachten.
Yulin war aus seinem Sessel an eine Schalttafel geschleudert worden und hatte das Bewu?tsein verloren. Aus einer Wunde an der Stirn rann Blut.
Die Gestalt achtete nicht darauf. Sie druckte auf eine Taste.
»Obie! Alles in Ordnung mit dir?«rief sie.
»Ja, Dr. Zinder«, erwiderte der Computer.»Das hei?t, es steht viel besser, als Sie oder ich erwartet haben.«
»Wie sieht es aus, Obie? Was ist geschehen?«
»Ich habe alle Daten analysiert und korreliert, so gut ich konnte, Sir. Wir sind, wie erwartet, aus der Wirklichkeit entfernt und an einem anderen Ort wieder zusammengefugt worden. Wir scheinen uns in einer stabilen Umlaufbahn ungefahr vierzigtausend Kilometer uber dem Aquator eines sehr seltsamen Planeten zu befinden.«
»Das Gehirn, Obie!«rief Zinder aufgeregt.»Ist es das markovische Gehirn?«
»Ja, Sir, das scheint es zu sein«, erwiderte der Computer beunruhigt.
»Was ist denn, Obie?«
»Das Gehirn, Sir«, sagte Obie zogernd.»Ich habe eine direkte Verbindung damit. Es ist unfa?bar, mir so weit uberlegen wie ich einem Taschenrechner. Ich kann knapp ein Millionstel der Informationssignale entziffern, die es ubermittelt, und ich bezweifle, ob ich es je ganz verstehen kann, aber —«
»Aber was?«drangte Zinder, der nicht einmal bemerkte, da? Yulin hinter ihm aufstand.
»Nun, Sir, soweit ich das verstehen kann, scheint es mich um Anweisungen zu bitten«, erwiderte Obie.
Auf Treligs Schiff, ein halbes Lichtjahr von Neu-Pompeii entfernt — 12.10 Uhr
Die Welt kehrte plotzlich zuruck. Mavra Tschang schaute sich betaubt um, dann prufte sie die Instrumente. Sie zeigten Unsinniges an, also schaute sie hinuber zu Renard und sah, wie er muhsam den Kopf schuttelte.»Was ist passiert?«stie? er hervor.
»Wir sind im Feld gepackt und mitgerissen worden«, erklarte Mavra mit gro?erer Sicherheit, als sie empfand. Sie blickte wieder auf die Instrumente, dann tippte sie einen unbestimmten Suchbefehl ein. Der Bildschirm flackerte, blieb aber leer. Schlie?lich schaltete sie ab.
»Jetzt sitzen wir da«, sagte sie resigniert.
»Was meinen Sie?«fragte Renard.
»Ich habe gerade das Sternkarten-Ortungsgerat eingeschaltet. In dem kleinen Chip sind samtliche bekannten Sternanordnungen aus jedem Winkel gespeichert. Es gibt Milliarden Kombinationen. Er ist sie alle durchgegangen — ohne etwas anzuzeigen. Wir sind in keinem Sektor des bekannten Weltraums.«
»Und was tun wir jetzt?«fragte er angstvoll.
Mavra betatigte eine Reihe von Schaltern und zog einen langen Hebel zu sich heran. Das Heulen und die Vibration des Schiffes lie?en nach.
»Zuerst sehen wir uns an, wie die Gegend aussieht, dann entscheiden wir, wohin wir dort wollen«, sagte sie sachlich.
Sie tastete neue Befehle ein, und der Hauptschirm vor ihnen, der gewohnlich ein simuliertes Sternfeld zeigte, prasentierte etwas ganz anderes. Da waren Sterne — viel mehr Sterne, als einer von ihnen je zuvor gesehen hatte. Sie standen so eng beieinander, da? es aussah, als ware das Firmament in wei?gluhendem Feuer aufgegangen. Es bedurfte mehrerer Filter, um Trennscharfe zu erzielen, und auch das nutzte nicht viel. Daneben gab es riesige Wolken aus Raumgas, blutrot und gelb leuchtend, und es gab Umrisse und Formen, die noch nie jemand gesehen hatte, auch nicht auf astronomischen Aufnahmen.
»Wir sind ganz eindeutig in einer fremden Gegend«, sagte Mavra trocken, setzte die Geschwindigkeit weiter herunter und begann das Raumschiff zu wenden.»Wir sind fast im Stillstand«, sagte sie zu ihm.»Ich werde uns eine Panoramaubersicht geben.«
Die riesigen Sternwolken und fremdartigen Formen schrumpften nicht; sie waren umgeben davon. Ein kleines, grunes Gitter links von Mavra war fast leer und zeigte an, da? innerhalb eines Lichtjahres sich nichts in ihrer Nahe befand. Dann tauchte plotzlich eine Reihe kleiner Punkte auf.
»Da, Treligs Roboterstationen«, sagte sie.»Alles andere sind Uberreste vom Rest des zersprengten Systems. Die ganze Umgebung scheint mitgekommen zu sein. Wenn das zutrifft — ja, sehen Sie? Der gro?e Punkt dort, mit dem etwas kleineren nahebei. Das ist Neu-Pompeii mit dem vorgesehenen Ziel.«
»Aber was ist das gro?e Objekt rechts davon?«fragte Renard.
»Ein Planet. Dem Anschein nach der einzige Planet des Systems. Seltsam, da? es das ganze Sonnensystem mitgerissen hat, aber nicht den Stern. Dieser Stern ist entschieden gro?er und alter.«
»Es bewegt sich«, sagte Renard, wider Willen fasziniert.»Neu-Pompeii bewegt sich.«
Mavra studierte den Planetoiden, tastete Anweisungen ein und erhielt die Daten.
»Er befindet sich in einer Umlaufbahn um den Planeten, ist zu seinem Satelliten geworden. Sehen wir uns das genau an.«Wieder druckte sie auf Knopfe, und der gro?e Planet ruckte auf dem grunen Schirm naher.
»Nicht sehr gro?«, meinte Mavra.»Augenblick… ungefahr Durchschnitt, wurde ich sagen. Etwas mehr als