Er sah sie entsetzt an, dann dachte er an ihre Herkunft.

»Auf Kom-Welten tut man so etwas einfach nicht. Jedenfalls nicht auf Moskowitien. Nein, ich wurde dort lange festgehalten, ich wei? nicht genau, wie lange. Dann kam jemand und erklarte mir, ein hohes Tier wolle mit mir reden. Ich hatte keine Wahl, also ging ich hin. Er war von einer anderen Kom-Welt, einer ganz verkommenen — echter Hermaphroditismus, genetisch identische Menschen, darauf programmiert, ihre Arbeit zu lieben, und so weiter. Er sagte, er brauche — ausgerechnet! — einen Bibliothekar. Leute, die Bucher lesen konnten und mit ihnen vertraut waren, gab es selten, gewi?. Selbst Moskowitien hatte zweiundneunzig Prozent Anal-Nicht-Leser.«Wieder hatte er Schwierigkeiten mit den langeren Wortern.

»Trelig«, sagte sie.

Er nickte.

»Genau. Ich wurde mit seinem Schiff nach Neu-Pompeii gebracht, bekam eine gro?e Uberdosis Schwamm und war suchtig. Meine Madchenhaftigkeit verstarkte sich hundertfach, meine Zuge und mein Korper wurden immer weiblicher, bis hin zu den Brusten. Aber es war seltsam. Meine mannlichen Organe wuchsen sogar noch, und im Kopf blieb ich ein Mann. Auf Neu-Pompeii hatte ich dann mein erstes sexuelles Erlebnis. Ich war auch wirklich sein Bibliothekar — und zugleich einer der Aufseher fur besondere Gefangene wie Nikki. Alle Leute auf Neu-Pompeii hatten psychische Probleme irgendeiner Art und eine besondere Fahigkeit, die Trelig nutzen konnte. Er rekrutierte sein Personal bei den besten Anstalten im Kom-Verband.«

»Und hier sind Sie«, sagte sie leise.

»Ja, hier bin ich«, nickte er seufzend.»Als ich Ziggi niederscho? und Ihnen half, zu entkommen, fuhlte ich, da? es die erste wichtige Tat in meinem Leben war. Ich kam mir beinahe vor, als ware ich nur fur diesen einen Augenblick geboren worden. Und jetzt sehen Sie sich an, in welcher Klemme wir sitzen.«

Sie ku?te ihn sanft auf die Wange.

»Schlafen Sie, und machen Sie sich nicht so viele Sorgen. Ich habe noch nicht verloren — und wenn ich nicht, dann Sie auch nicht.«

Sie wunschte sich, daran glauben zu konnen.

Uchjin, nordliche Halbkugel

»Verdammter Mist«, sagte Ben Yulin und starrte auf die Landschaft hinaus. Ohne Strom fur das Lufterneuerungssystem des Schiffes waren sie gezwungen gewesen, ihre Raumanzuge anzuziehen. Der gro?te an Bord war fur Zinder in Gestalt seiner korpulenten Tochter fast zu klein; aber die Anzuge pa?ten sich sehr unterschiedlichen Gro?en an. Man zog sie an, und sie waren riesengro?, schlaff und ausgeheult. Wenn man aber die Luftversorgung anschlo?, zum Gluck vom manuellen Typ, reagierte das Material, als sei es lebendig, und schrumpfte zusammen, bis es beinahe zu einer zweiten, sehr widerstandsfahigen wei?en Haut wurde.

»Wieviel Luft haben wir?«fragte Trelig und starrte auf die nackte Felswuste, wo nirgends etwas Lebendiges zu sehen war.

»Im besten Fall fur einen halben Tag, ohne das elektrische System der Anlagen.«

»Wir sind nicht weit vom nachsten Sechseck entfernt, wo es offenbar Wasser gegeben hat«, meinte Trelig hoffnungsvoll.»Versuchen wir es. Was haben wir zu verlieren?«

Sie machten sich auf den Weg und folgten den Spuren der ungeheuerlichen Rutschpartie, die sie mit dem Kurierschiff bei der Bauchlandung gemacht hatten.

Sie waren nicht weit gekommen, als die Dammerung hereinbrach. Yulin spurte, da? etwas nicht in Ordnung war. Es schienen Umrisse in der Nahe zu sein, Figuren, die im Augenwinkel auftauchten, aber sofort verschwanden, wenn man sich umdrehte.

»Trelig!«rief er.

»Was ist?«

»Konnen Sie oder Zinder feststellen, da? hier etwas Seltsames vorgeht? Ich mochte schworen, da? wir Gesellschaft haben.«

Trelig und Zinder blieben stehen und schauten sich um. Yulin stellte fest, da? die Formen um so leichter zu sehen waren, je dunkler es wurde.

Sie schienen nur in zwei Dimensionen zu existieren — Lange und Breite —, und selbst die waren variabel. Von der Seite her gesehen, schienen sie zu verschwinden. Sie flogen oder schwebten — es war schwer zu sagen, was es war — uberall in ihrer Umgebung herum. Yulin wurde an Farbe erinnert, die man auf einem durchsichtigen Plastiktuch verschuttet hatte. Es gab einen dicken vorderen Rand, und er flo? dahin — nicht unbedingt abwarts, sondern auch nach oben und seitlich. Dabei schien der Rand sich auszubreiten, so da? er manchmal einen Meter breit und fast zwei Meter lang war. Das war die Grenze fur sie wenn sie sich ganz ausgedehnt hatten, schien der hintere Rand langsam zum vorderen zuruckzuflie?en, bis nur noch ein Farbklumpen von einem Meter Breite vorhanden war, bevor er sich wieder auszubreiten begann.

Auch verschiedene Farben waren zu erkennen, fast jede Farbe, die man sich vorstellen konnte, aber jeweils stets nur eine: Blau, Rot, Gelb, Grun — in allen Schattierungen und Abschattungen.

»Sind sie intelligent?«fragte Yulin laut.

Trelig hatte auch daran gedacht.

»Sie scheinen sich auf jeden Fall um uns zu versammeln, wie Neugierige an einer Unfallstelle«, meinte er.»Ich verstehe zwar nicht, wie, aber ich wurde wetten, da? das die Bewohner hier sind.«

›Bewohner‹ ist fast ein zu starker Ausdruck, dachte Yulin. Diese Wesen scheinen fantastischen Kunstlertraumen entsprungen zu sein.

»Ich will versuchen, einen zu beruhren«, sagte Trelig.

»He! Warten Sie —«, begann Yulin, aber er horte nur ein Lachen.

»Dann mache ich eben etwas Schlimmes«, sagte Trelig.»Wir sind ohnehin tot, wissen Sie.«Damit versuchte er eines der Wesen in seiner Nahe zu packen. Nichts, was er je gesehen, hatte so schnell reagiert. Den einen Augenblick war es da, ganz ausgestreckt, im nachsten schien es einfach woanders zu sein, einen oder zwei Meter au?er Reichweite.

»Mensch!«rief Trelig.»Die konnen sich aber bewegen, wenn sie wollen!«

»Vielleicht konnen wir mit ihnen reden, wenn sie in irgendeiner Weise Intelligenz besitzen«, meinte Yulin.

»Was sagt man zu einem zwei Meter langen lebenden Farbenwisch und wie?«fragte Trelig spottisch.

»Vielleicht konnen sie auf irgendeine Weise sehen. Versuchen wir es mit Gesten.«Er zeigte auf Zinders Sauerstoffflaschen, dann fuhrte er die Hande an die Kehle, wurgte sich und fiel zu Boden.

Den stromenden Streifen schien das zu gefallen. Es kamen immer mehr, und sie schienen erregter zu werden. Yulin fuhrte die Pantomime mehrmals vor, und sie glitten wild durcheinander und beruhrten sich teilweise sogar.

Genug gespielt, dachte Yulin. Damit verbrauchte man zuviel Luft. Er stand auf und streckte ihnen mit einer, wie er hoffte, freundschaftlichen, hilfeflehenden Geste die Hande entgegen.

Das schien sie noch starker aufzuregen. Er hatte das seltsame Gefuhl, Objekt einer heftigen Debatte zu sein, die au?er diesen Wesen niemand horen konnte.

Aber diskutierten sie, ob sie helfen wollten? Wie sie helfen sollten? Oder was hatte ihr Verhalten zu bedeuten?

Zwei von den Wesen schwebten heran, schienen aus einer Entfernung von funfzig Zentimetern sein Atemgerat zu betrachten, und er sah immer mehr ihrer Genossen herankommen. Er beobachtete, da? sie aus Spalten im Boden quollen, wie Gespenster, voll ausgestreckt, um sich dann einzurollen oder zu flie?en.

Schlie?lich schienen sie zu einem gemeinsamen Entschlu? zu gelangen. Sie drangten sich um die Menschen, so dicht, da? man hinter ihnen nichts mehr zu erkennen vermochte. Dann offnete sich auf einer Seite ein schmaler Durchgang. Sie warteten.

»Ich glaube, wir werden irgendwo hingeleitet«, sagte Trelig.»Sollen wir gehen?«

»Immer noch besser, als in ein, zwei Stunden hier zusammenzubrechen und zu sterben«, erwiderte Yulin.

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