Regen.
Der Wald horte auf.
Nicht endgultig, versteht sich. In einer Entfernung von einem Kilometer setzte er sich fort, aber vor ihnen erstreckte sich eine weite Grasflache, durchzogen von mehreren ungeteerten Stra?en, auf denen reger Verkehr herrschte. Sie verfolgten vom Waldrand aus, wie Riesenzyklopen sich hin und her bewegten, manche allein, andere mit gro?en Holzkarren.
»Wenigstens wissen wir, da? wir nicht im Kreis gelaufen sind«, trostete Mavra.
»Ja, wir sind weit von unserem Landungsplatz entfernt«, sagte Renard.»Aber stimmt die Richtung?«
»Wir konnten eine Weile dem Wald auf der linken Seite folgen«, schlug sie vor.»Vielleicht fuhrt er irgendwo zur Stra?e. Wir haben schon Stra?en uberquert.«
»Sieht nicht so aus«, sagte Renard. Seine Satze waren kurzer und knapper geworden.
»Dann mussen wir hier warten, bis es dunkel wird«, meinte Mavra seufzend.»Jetzt konnen wir auf keinen Fall hinuber.«
»Ich will nicht gefressen werden«, erklarte Nikki Zinder plotzlich.»Erinnert ihr euch an den einen, der das Schaf mit drei Bissen verschlungen hat?«
Mavra erinnerte sich. Sie mu?ten sich verstecken, bis die Nacht hereinbrach und der Verkehr nachlie?. Sie setzten sich und dosten. Auch Mavra schlief endlich ein.
Renard war als erster wieder wach und kroch hinaus zum Rand der Ebene. Es waren immer noch viele Zyklopen in Bewegung, wenn auch weniger als vorher. Es hatte also die sichere Ergreifung bedeutet, sich jetzt hinauszuwagen.
Er kroch zuruck. Mavra schlief so fest, da? sie ihn nicht horte, aber Nikki regte sich, offnete die Augen und sah ihn an.
»Glauben Sie, wir konnen hinuber?«fragte sie leise.
»Ja, spater.«
Sie schob sich naher an ihn heran.
»Renard?«
»Ja?«
»Ich habe Angst.«Das Lispeln war erst an diesem Tag bemerkbar geworden.
»Die haben wir alle. Wir mussen einfach weiter.«
»Die hat keine«, sagte sie und zeigte auf Mavra.»Ich glaube nicht, dath thie vor irgend etwath Angth hat.«
»Sie hat eben gelernt, mit der Angst zu leben«, erklarte er.»Sie kann Angst haben, ohne sich davon lahmen zu lassen. Das mu?t du auch lernen, Nikki.«
Sie schuttelte den Kopf.
»Eth itht mehr. Ich will nicht thterben, aber — wenn ich muth — dann…«Sie suchte nach Worten.
Er verstand sie nicht und sagte das auch.
»Rennie?«sagte sie zogernd.»Machtht du Liebe mit mir?«
»Wie?«Er starrte sie verblufft an.
»Ich will eth, nur einmal. Fur alle Falle.«Sie hatte beinahe Tranen in den Augen, und ihre Stimme klang flehend.»Ich will nicht thterben, ohne eth einmal gemacht zu haben.«
Er schaute zur schlafenden Mavra hinuber, dann blickte er auf das Madchen und wunderte sich daruber, wie man selbst im Angesicht des Todes noch in peinliche Situationen geraten konnte. Er uberlegte eine Weile und sagte sich endlich: Warum nicht? Was konnte es schaden? Wenigstens war das etwas, das er fur jemanden tun konnte, ohne es zu verpfuschen.
Mavra Tschang fuhr aus dem Schlaf hoch und schaute sich um. Es war dunkel — sie hatte geraume Zeit geschlafen. Plotzlich spurte sie Kopfschmerzen, und ihr ganzer Korper war steif und verkrampft.
Sie entdeckte Renard und Nikki unter einem gro?en Baum. Er hatte den Arm um sie gelegt, beide schliefen. Mavra begriff sofort, was geschehen war; man konnte sich hier kaum saubermachen. Es storte sie, und da? es sie storte, storte sie erst recht. Vielleicht deshalb, weil sie es nicht verstehen konnte.
Sie kroch zum Rand der Lichtung. Es herrschte nicht mehr viel Kommen und Gehen drau?en, ab und zu kam ein Wagen vorbei, beleuchtet von Fackeln.
Sie huschte zuruck zu den beiden und weckte sie vorsichtig. Nikki schien ruhiger zu sein, was gut war, geistig aber noch geschwachter.
»Wir konnen bald hinuber«, sagte Mavra.»Wir gehen heute so weit, wie wir konnen, um die verlorene Zeit aufzuholen.«
»Wir laufen hinuber?«fragte Nikki.
»Nein, Nikki, nicht laufen, wir gehen ganz langsam.«
»Aber dath grothe Ding thieht unth!«
»Es sind nicht mehr viele«, erklarte Mavra.»Und wenn eines kommt, legen wir uns einfach hin und warten.«
Renard sah Nikki an und tatschelte ihre Hand. Das gefiel ihr, und sie schmiegte sich an ihn.
»Gehen wir, Nikki«, sagte er leise.
Sie standen auf und schlichen zum Rand der Ebene. Keine Fackeln oder Karren waren zu sehen, bis auf zwei trube Lichter in weiter Ferne.
»Also, gehen wir, ganz ruhig und bedachtig«, sagte Mavra, ergriff Nikkis rechte Hand mit ihrer linken und Renards linke Hand mit ihrer rechten. Sie machten sich auf den Weg.
Es ging fast zu leicht. Die Wolkendecke war immer noch da, so da? es undurchdringlich dunkel war, und niemand befand sich auf den Stra?en. Sie legten den Weg in zwanzig Minuten ohne Zwischenfall zuruck.
Aber dann begann es zu regnen, stetig und warm. Der Boden wurde schnell schlammig, und sie waren im Nu durchna?t. Der Wind nahm zu. Sie begannen zu frieren. Mavra sah keine andere Moglichkeit, als mit den beiden Zuflucht in einem dichten Hain von hohen Baumen zu suchen, wo sie sich aneinanderpre?ten und warteten.
Der nachste Morgen dammerte heller und trockener, aber nur, weil die Wolken dunner geworden waren und der Regen aufgehort hatte. Sie sahen schlimm aus, schlammbespritzt, zerzaust und zerlumpt.
»Ich kann nicht mehr richtig denken«, klagte Renard.»Mir fallt vieles nicht ein. Woran liegt das, Mavra?«
Sie empfand tiefes Mitleid mit ihm, aber seine Frage konnte sie nicht beantworten. Nikki ging es naturlich noch schlechter. Sie fand eine Schlammpfutze und spritzte darin frohlich herum, begann Schlammkuchen zu backen.
»Hallo!«rief sie.»Theht mal, wath ich gemacht hab'!«
Mavra seufzte und dachte angestrengt nach. Ein Blick auf die Sonne hatte ihr verraten, da? sie ungefahr in ostlicher Richtung unterwegs gewesen waren, aber wie weit und in welchem Winkel?
Sie wu?te, da? sie etwas tun mu?te. Es blieb ihr keine andere Wahl. Sie jagte ihnen beiden etwas von der Hypnoseflussigkeit unter die Haut und wahlte ihre Worte mit Bedacht, damit sie ihr folgen konnten.
»Nikki, du wei?t nicht mehr, was oder wer du bist, au?er, da? du Nikki hei?t, verstanden?«
»Mhm«, bestatigte das Madchen.
»Du bist jetzt ein ganz kleines Madchen, und ich bin deine Mami. Du liebst deine Mami und tust immer, was sie sagt, nicht wahr?«
»Mhm.«
Mavra wandte sich Renard zu.
»Renard, du wei?t nichts davon, wer du bist oder wo wir sind, nur, da? du Renard hei?t. Okay?«
»Gut.«
»Du bist Renard. Du bist funf Jahre alt und mein Sohn. Ich bin deine Mami, und du liebst deine Mami und tust immer, was sie sagt. Verstehst du?«
Seine Stimme klang kindlicher, als er sagte:»Ja, Mami.«
»Gut. Nikki ist deine Schwester. Sie ist junger als du, und du mu?t ihr helfen. Verstehst du? Du liebst deine Schwester und mu? ihr helfen.«
»Ja, Mami.«
»Nikki, Renard ist dein gro?er Bruder«, sagte sie zu dem Madchen,»und du liebst ihn sehr. Du la?t dir von