»Wir mussen sie stechen, und zwar schnell«, sagte die Anfuhrerin.»Mindestens jeweils zwei von uns fur einen Zyklopen, wenn nicht mehr.«
»Wird das Gift wirken?«fragte eine andere.
»Ja. Ich habe vorher noch einmal nachgeschlagen.«
»Wenn hier nur Strahler funktionieren wurden«, meinte die Zweiflerin.»Riskant ist es immer noch.«
»Du wei?t, da? das ein Nicht-Tech-Hex ist. Es konnte sein, da? Zunderwaffen wirken, aber wir hatten keine Zeit, in Museen und bei Sammlern nachzuforschen. Also, Jebbi, Tasala und Miry, ihr nehmt den gro?eren, Sadi, Nanigu und ich den anderen. Vistaru, du nimmst Bahage und Asmaro mit und siehst, was du fur die Gefangenen tun kannst. Die anderen halten sich in Bereitschaft. Greift da ein, wo es notig erscheint.«
Sie nickten einander zu. Die Wesen am Felsen schwangen sich hinaus in die Luft, und sie teilten sich zu ihren Einsatzen auf.
Mavra Tschang schlief. Sie war hundertmal zu dem Gitter hinaufgeklettert und war jedesmal fast heruntergesturzt, bevor sie das schwere Ding auch nur einen Zentimeter zu bewegen vermochte. Sie hatte die anderen in Schlaf versenkt, um ihrem Jammern ein Ende zu machen, und war selbst eingeschlafen.
Plotzlich horte sie ein Gerausch, so, als sei etwas ziemlich Schweres auf dem Gitter gelandet. Sie starrte hinauf. Dort stand wirklich etwas Gro?eres.
»Mehensch? Horst du mich, Mehensch?«flusterte eine fremde Stimme. Sie war auf sehr exotische Weise akzentuiert, hoch und hell, die sinnliche Stimme einer kleinen Frau.
»Ich hore dich«, sagte Mavra Tschang halblaut.
»Wir schlafern die Gro?wesen ein«, erklarte das Wesen.»Macht euch bereit, da? wir euch herausholen.«
Mavra versuchte zu erkennen, wie das Wesen aussah, aber es war zu dunkel.
Plotzlich zerri? ein Brullen die Stille. Der gro?e mannliche Zyklop war aufgewacht, fluchte furchterlich und stie? dann einen Schmerzensschrei aus. Mavra horte ein gewaltiges Krachen, als er zu Boden sturzte, seine Begleiterin larmte ebenfalls und brach kurz danach zusammen.
Mavra Tschang fragte sich, was fur Ungeheuer derart riesige und gefahrliche Wesen so muhelos niederwerfen konnten.
Sie horte sie in einer fremden Sprache, die aus hellen und leisen Glockentonen zu bestehen schien, miteinander reden, eine sehr schone, aber ganzlich unmenschliche Sprache.
Das eine Wesen, das sich in der Konfoderationssprache ausdrucken konnte, kehrte zuruck.
»Mehensch, wie viele von euch sind da unten?«
»Drei!«rief Mavra hinauf.»Aber zwei sind im Betaubungsschlaf!«
Eine Gestalt, offenbar eine sehr kleine, beugte sich tiefer und blickte durch das Gitter.
»Ah, ja, jetzt sehe ich es. Wir mussen das Gitter wegziehen, also geh zu ihnen hinuber.«
Man horte ein Knirschen und Quietschen. Offenbar hatte man am Gitter Seile befestigt. Ein klingender Ruf, und sie zerrten alle gemeinsam daran. Das Gitter schwebte in die Hohe und kippte nach au?en. Die Gestalt kehrte zuruck, schien dann herabzusinken und landete im Wagen.
Es war eine winzige Frau, eigentlich ein Madchen, dem Anschein nach nicht alter als neun oder zehn Jahre, ungefahr einen Meter gro?, mit feingemei?elten Zugen, wohlproportioniert. Mavra begriff, da? sie kein Kind vor sich hatte, sondern eine Erwachsene. Sie war sehr schmal und leicht, wog ganz gewi? nicht mehr als zwolf bis funfzehn Kilogramm, wenn uberhaupt soviel. Sie besa? zwei winzige Bruste, kaum entwickelt, aber in ihrer Art genau richtig. Das Gesicht war das Abbild madchenhafter Unschuld, jugendlich und engelhaft.
Dann schien das Madchen plotzlich zu leuchten. Das Licht strahlte von ihrem ganzen Korper aus, ein goldener Schein, der unfa?bar und unerklarbar war.
In der Helligkeit konnte man das Wesen nun genau erkennen. Die Haut war von rotlicher Farbe, ein blasser Widerschein des Leuchtens; die Haare waren zu einer Pagenfrisur geformt, von blauschwarzer Farbe. Zwei winzige Ohren, sehr spitz, ragten am Kopf empor, und die Augen schienen wie die einer Katze das Licht widerzuspiegeln. An ihrem Rucken wuchsen paarweise vier fur den Korper verhaltnisma?ig gro?e und vollig durchsichtige Doppelflugel. Das Wesen lachelte und ging auf Mavra zu, die Hand gru?end erhoben. Beim Gehen horte man ein leises Scharren. Mavra sah, da? es von etwas sehr Starrem herruhrte, das von ihrem Ruckgrat bis zum Boden hinabreichte. Der Auswuchs war von viel dunklerem Rot als der Teint des Madchens und endete in einer gefahrlich aussehenden Spitze, die eine Spur am Boden hinterlie?.
»'allo, ich bin Vistaru«, sagte das Wesen.
»Mavra Tschang. Der gro?e Mann dort ist Renard, das dicke Madchen Nikki.«
»Riihnard«, wiederholte das Madchen.»Nihkih.«
»Sie leiden an einer Drogensucht«, erklarte Mavra.»Man nennt sie Schwamm. Sie brauchen sehr schnell Hilfe.«
Die Miene des Madchens wurde grimmig. Sie sagte etwas zu sich in ihrer eigenen Sprache.
»Wir mussen sie sehr schnell fortbringen«, bestatigte Vistaru.»Und sie sind so schwer.«
»Ich komme allein hinaus«, sagte Mavra.»Vielleicht kann ich drau?en mithelfen.«
Die Frau, die fliegen konnte, nickte, und Mavra kletterte an der Wagenwand hinauf und sprang hinunter auf den Boden.
Der Himmel war klarer geworden, und von den gro?en Sternkugelhaufen drang Licht herunter.
Sie sah die beiden Zyklopen regungslos am Boden liegen. Sie schienen tot zu sein.
Von ihren Retterinnen schien es eine ganze Anzahl zu geben, funfzehn oder zwanzig. Sie schwebten lautlos umher, unbeeinflu?t von den Gesetzen der Schwerkraft. Ihre Flugel summten leise, wenn sie ganz in der Nahe flogen, sonst waren sie lautlos. Einige nutzten jetzt ihre innere Leuchtkraft und erwiesen sich als in allen Regenbogenfarben schillernd, Rot und Orange, Grun, Blau, Braun, alles, und manche waren sehr dunkel, andere ganz hell. Abgesehen davon sahen sie alle ganz gleich aus. Einige hatten Packen an die Bauche geschnallt. Von dort stammten offenbar die Seile her.
Zusammen mit den Wesen, die Lata hie?en, wie Vistaru ihr mitteilte, gelang es Mavra, eine Klappe an der Ruckseite des Wagens zu offnen und herunterzukippen, so da? sie die Bewu?tlosen herausziehen konnten.
»Konnen Sie sie wehecken?«fragte Vistaru.
Mavra nickte, und die Lata sahen erstaunt zu, als sie die beiden mit ihren Fingernageln stach.
»Nikki, kannst du mich horen?«fragte sie.
Das Madchen nickte mit geschlossenen Augen.
»Du stehst auf und gehst mit mir«, fuhr Mavra fort. Das Madchen offnete die Augen, stand unsicher auf und blieb stehen.»Du gehst, wenn ich gehe, bleibst mit mir stehen und setzt dich mit mir hin.«
Dasselbe machte sie mit Renard, wahrend sie befriedigt vermerkte, da? Nikki alle ihre Bewegungen getreu nachvollzog.
Das schien die Lata zu verwundern. Vistaru kam auf sie zu, wahrend die anderen ihre Glockentone hervorbrachten.
»Wie machen Sie das?«fragte sie.»Sie wollen wissen, ob Sie Stacheln in den Fingern haben?«
»Sozusagen«, sagte Mavra, und sie machten sich auf den Weg.
Es ging ziemlich muhelos. Mavra kam dahinter, da? der Grat der Berge auch die Grenze zwischen dem Zyklopen-Sechseck war, das Teliagin genannt wurde, und dem Hex namens Kromm. Der Unterschied war erstaunlich. Vom Regen war die Luft noch kuhl, und der Wind wehte scharf, als sie die Grenze erreichten. Es gab dort keine Markierungen, Wachen oder Aufpasser, aber man wu?te, da? es die Grenze war. Man kam sich vor, als trete man durch einen Vorhang.
Die Luft war plotzlich schwul und schwer, so feucht, da? Mavra binnen Minuten schwei?bedeckt war. Insektengerausche, schwach und leise in Teliagin, drangten sich hier auf, als hatte man einen Lautsprecher eingeschaltet. Das Atmen fiel schwer, der Geruch war merkwurdig.
»Keine Sorge«, sagte Vistaru.»Anders, ja, aber nicht gefahrlich.«