»Vielleicht hatte man einfach nur den Namen andern sollen«, sagte ich. »Werbung ist heutzutage alles.«

»Nicht jetzt, Eddie«, meinte Molly.

Giles Todesjager zog sein Langschwert und drehte sich einmal langsam im Kreis. »Sie sind hier. Nah. Nah und todlich.«

»Aber wer zur Holle wurde an so einem Ort leben wollen?«, fragte Molly.

Wir bildeten Schulter an Schulter einen Kreis, die Gesichter nach au?en gewandt. Mir kam es vor als sei ich plotzlich wachsamer und aufmerksamer, als ob ich ein langes Nickerchen abschuttelte. Ich starrte hinaus in die endlose Ebene, den oden und langweiligen violetten Stein, aber nichts bewegte sich irgendwo. Was auch immer hier war, es musste ziemlich machtig und ziemlich gefahrlich sein. Nach allem, was U-Bahn Ute erzahlt hatte, hatten einige erfahrene Leute diese Route benutzt und waren am anderen Ende nicht wieder aufgetaucht. Ich hielt nach etwas Gro?em Ausschau, etwas Beeindruckendem und ganz offensichtlich Todlichem - aber ich hatte es besser wissen mussen. Immerhin war das hier eine sterbende Welt. Und was ziehen Tote und sterbende Korper an? Aasfresser, Parasiten und Schmarotzer.

Sie kamen aus den Spalten und Kratern, kriechend und krabbelnd, auf zwei Beinen oder allen Vieren bewegten sie sich uber den toten Boden auf uns zu. Sie waren uberall um uns herum, rennend, mit gro?en Schritten, eine Welle nach der anderen, sich windend wie Maden in einer offenen Wunde. Ich wusste nicht, ob dieser Ort ihre Heimat war oder ob sie von woanders herkamen, aber die Natur dieser Existenzebene war in sie ubergegangen. Sie sahen aus, als hatten sie sich bemuht, menschlich auszusehen, aber es nicht geschafft. Sie sahen grob aus, unfertig, die Details ihrer Korper waren ungenau oder missgebildet oder fehlten ganz. Sie hatten nicht einmal Gesichter, nur phosphoreszierende, verfaulende Augen und runde Munder mit scharfen Zahnen wie Neunaugen.

Sie drangen von allen Seiten her auf uns ein, und sie schienen zahllos zu sein. Ich sprach leise die Worte, um aufzurusten, aber nichts passierte. Ich versuchte es wieder, aber meine Rustung antwortete nicht. Ich wandte mich zum Seneschall um, und sein schockierter Gesichtsausdruck war alles, was ich wissen musste. Er griff mit seinen Handen ins Leere, offenbar versuchte er, seine Waffen zu ziehen, aber nichts passierte. Molly hob ihre Arme, als wolle sie etwas beschworen, aber dann sah sie mich verdutzt an, als nichts passierte.

»Es ist diese Welt«, sagte U-Bahn Ute. »Komplizierte Magie kann hier nicht wirken. Oder komplizierte Wissenschaft. Die desintegrierenden Gesetze dieser Realitat konnen sie nicht unterstutzen. Das ist der Grund, warum so viele erfahrene Leute es nicht hier herausgeschafft haben. Wir sind hilflos. Ohne Schutz.«

»Fur dich gilt das vielleicht«, sagte Giles. Er schwang sein Langschwert vor sich hin und her. »Ein starker rechter Arm, eine gute Klinge und ein aufrechtes Herz werden immer funktionieren.«

»In der Tat«, meinte Mr. Stich und hielt plotzlich sein langes Messer in der Hand.

Molly griff nach unten in ihre Stiefelschafte und zog zwei schlanke, silberne Dolche heraus. »Athamen«, sagte sie knapp. »Hexendolche. Ich benutze sie meist fur Rituale, aber sie sind trotzdem scharf und gefahrlich genug fur sowas hier.«

Sie gab mir einen. Es fuhlte sich uberraschend schwer an fur etwas, das so zierlich aussah. Der Seneschall zog ein langes Messer mit gezackter Klinge aus seinem Armel.

»Ein Albanischer Sto?dolch«, sagte er. »Ist immer gut, so eine kleine Uberraschung in Reserve zu haben. Wenn man etwas Lebendiges, dass einen argert, unbedingt toten muss.«

»Messer werden nicht funktionieren«, meinte U-Bahn Ute hohl. »Schwerter werden nicht funktionieren. Es sind einfach zu viele. Wir werden hier alle sterben. Wie jeder andere.«

»Ich glaube, du bist schon zu lange auf dieser Welt«, sagte Molly. »Bleib hinter mir und alles wird gut.«

»In der Uberzahl zu sein, ist keine Garantie fur einen Sieg«, sagte Giles. »Jeder erfahrene Soldat wei? das. Behaltet euren Boden, sorgt dafur, dass jeder Streich trifft, erinnert euch an die Ubungen und alles wird gut. Ein geubter Soldat mit einer Klinge ist jedem unbewaffneten Mob gewachsen.«

Wir standen Schulter an Schulter, unsere Waffen gezuckt. U-Bahn Ute setzte sich plotzlich im Inneren des Kreises auf den Boden und bedeckte das Gesicht mit den Handen. Die Schmarotzer rannten von allen Seiten gleichzeitig mit gro?en Schritten uber den rissigen Boden auf uns zu. Eine Welle nach der anderen, zu viele, als dass man sie hatte zahlen konnen. Wenn es einen Ort gegeben hatte, zu dem ich hatte fliehen konnen, ich hatt's getan. Aber die helle Lichtsaule schien so weit weg wie nur je und wir waren umzingelt. Also blieb uns nur ubrig, zu bleiben und zu kampfen und - wenn es notig wurde - gut zu sterben.

Hoffentlich konnte jemand anderes noch rechtzeitig einen Weg zum Turm finden und ihn zerstoren. Ich wunschte … na ja. Es gab so vieles, von dem ich mir wunschte, es noch getan oder gesagt zu haben. So viele Dinge, die ich noch tun wollte - aber ich vermute, das will man immer, auch wenn man gerade nicht stirbt. Ich warf einen kurzen Blick auf Molly und wir tauschten ein letztes, su?es und wildes Lacheln. Und dann waren die Schmarotzer da.

Sie erreichten Giles zuerst und er hieb sie mit muheloser Leichtigkeit nieder. Sein Langschwert schwang vor und zuruck, als ware es schwerelos, die unglaublich scharfe Klinge fuhr durch Fleisch und Knochen gleicherma?en. Dunkles Blut sprudelte und die Schmarotzer fielen, ohne ein Gerausch von sich zu geben. Giles lachte glucklich; er tat, was er am besten konnte und war dabei in seinem Element. Mr. Stich benutzte sein Messer beinahe beilaufig und durchschnitt mit elegantem Konnen Kehlen, stach in Bauche und Augen. Er lachelte ebenfalls, aber in seinen Augen lag keine Emotion, nur ein dunkles, verzweifeltes Bedurfnis, das nie befriedigt werden konnte. Der Seneschall stampfte und warf sich mit brutaler Effizienz in den Kampf und totete alles, was ihm zu nahe kam. Er runzelte dabei die Stirn, als sei er mit etwas Notwendigem, aber Abscheulichem beschaftigt.

Molly und ich kampften Seite an Seite, hackten und stachen auf die schrecklich unfertigen Kreaturen ein, die nach wie vor auf uns eindrangen. Die Schmarotzer hatten keinen Sinn fur Taktik oder gar Selbstschutz. Sie gingen einfach mit zu Klauen geformten Handen auf uns los, die bruchig wie tote Zweige waren; gluhende, verfaulende Augen schauten blicklos, und dunkler Speichel, troff aus ihren runden Maulern. Ihnen war nichts au?er der Gier zu toten und zu fressen geblieben. Sie versuchten, uns herabzuziehen und auseinanderzurei?en, ohne zu wissen oder sich auch nur darum zu kummern, was sie da zu zerstoren suchten.

Die Toten hauften sich um uns herum auf, das Fleisch zerfiel bereits, das dunkle Blut wurde von dem zersprungenen Steinboden gierig aufgesogen. Mein ganzer Korper schmerzte von der Anstrengung, das silberne Messer pausenlos zu benutzen, durch Fleisch wie durch Schlamm zu schneiden und zu hacken, Fleisch das an dem Messer hangen blieb und es langsam zersetzte. Ich trug Prellungen und Schnitte davon, meine Kleider waren zerrissen und Schwei? und Blut liefen mein Gesicht herunter. Ich konnte Molly horen, wie sie laut neben mir atmete, und Giles, wie er ein obskures Schlachtlied sang. Irgendwie lag etwas Unmenschliches in seiner frohlichen Weigerung, sich von den unglaublichen Massen, die sich ihm in den Weg stellten bremsen oder gar aufhalten zu lassen. Er totete und totete und er war immer bereit fur mehr, wie ein Verhungernder bei einem Festmahl. Mir kam der Gedanke, dass Giles in einiger Hinsicht furchterregender war als Mr. Stich.

Und dann plotzlich, als hatte jemand ein unhorbares Signal gegeben, zogen sich die Schmarotzer zuruck. In einem Moment griffen sie mit all ihrer schweigsamen Wut an, im nachsten krabbelten sie uber die ausgetrocknete Ebene davon, wie das Meer bei Ebbe. Giles schuttelte das Blut von seinem Langschwert und lehnte sich dann darauf. Er sah sich um und lachelte angesichts der Leichenhaufen, die sich um uns herum turmten. Er nickte kurz, als begutachte er die wohlgetane Arbeit nach einem langen Tag.

Molly und ich lehnten uns aneinander und rangen nach Luft.

»Sie werden wiederkommen«, sagte U-Bahn Ute hinter uns. Ich drehte mich um und sah sie bose an.

»Wir mussen hier weg. Es muss einen Weg geben. Finde ihn!«

»Ja«, sagte Ute langsam. »Ich stehe mit diesem Ort in Verbindung. Er spricht zu mir. Einer von uns muss hierbleiben, damit die anderen zum Licht kommen konnen.«

»Was?«, fragte Molly. »Wieso das denn auf einmal?«

»U-Bahn Ute sah sie mude an. »Ich kenne die Geheimen Wege. Ich kann die Regeln hier lesen, die in diese sterbende Welt geschrieben sind. Wenn wir alle bleiben, sterben wir alle. Einer von uns muss hierbleiben und sich selbst opfern fur die anderen. Damit sie gehen konnen.«

»Wir sollten Lose ziehen«, sagte Giles.

»Nein«, sagte Ute sofort. »Es muss ein freiwilliges Opfer sein. Ein positiver Akt, der gegen die Entropie dieser Welt gesetzt wird. Hier geht es nicht darum, wie weit man gehen muss. Wir konnten fur den Rest unseres Lebens gehen und wurden das Licht doch nicht erreichen. Aber man kann es durch einen Akt der Liebe

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