heranziehen. Also, wer von uns ist bereit zu sterben, damit die anderen leben konnen?«
»Es muss einen anderen Weg geben«, sagte Molly. »Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. Sag's ihnen, Eddie!«
»Ich werde bleiben«, sagte ich.
»Was?« Molly starrte mich wie betaubt an.
»Ich bleibe«, wiederholte ich. »Das war meine Mission, meine Idee. Meine Verantwortung.«
»Nein, das ist sie nicht.« Molly warf bose Blicke um sich. »Sagt es ihm!«
»Du kannst nicht bleiben, Edwin«, sagte der Seneschall ruhig. »Die Familie braucht dich, um Truman und den Turm zu zerstoren. Du bist jetzt der Held. Also bleibe ich. Ich sagte, alles fur die Familie und die Welt und ich meinte es so. Ihr werdet alle gebraucht, da, wo ihr hingeht. Ihr seid etwas Besonderes, ich nicht.«
»Seneschall -«, fing ich an, doch er unterbrach mich mit einem Blick.
»Eddie, ich will es so. Ich will einmal das Zunglein an der Waage sein. Ein Held sein und nicht der, der sie trainiert und sie wegschickt. Ich habe immer davon getraumt, einmal so etwas wie das hier zu machen, der Letzte zu sein, der noch bleibt und eine verlorene, edle Sache gegen jede Wette durchzustehen. Um die Familie und die Welt zu retten. Also, bring sie hier raus, Eddie. Mach Schluss mit Truman und dem Turm. Mach die Familie stolz.«
Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten und direkt auf die erstbeste Gruppe von Schmarotzern zu. Sie sahen ihn von ihren Spalten und Kratern aus kommen und wurden unruhig. Ich sammelte die anderen. Wir lie?en ihn zuruck, als wir auf die Lichtsaule zuliefen, die schon auf uns zuschoss. Ich horte, wie die Schmarotzer hinter uns aus ihren Verstecken krochen, aber ich sah mich nicht um. Die Lichtsaule fuhr durch die Schmarotzer hindurch, angezogen von der Kraft eines freiwilligen Opfers. Sie flammte vor uns auf und versprach Hoffnung und Leben und einen Weg hier raus.
Aber nicht fur den Seneschall.
Molly und U-Bahn Ute tauchten ein in das helle Licht und verschwanden, gefolgt von Giles und Mr. Stich. Und nur ich hielt noch einmal inne und sah mich zum Seneschall um, der unerschutterlich gegen eine lebende Welle von mit ihren Klauen wild um sich schlagenden Schmarotzern stand. Er wehrte sich heftig gegen sie, warf mit der Kraft seiner Schlage Leichen in jede Richtung. Er stand aufrecht bis zu dem Moment, in dem sie alle uber ihn kamen und ihn zu Boden zerrten und er aus meiner Sicht verschwand. Er schrie nicht einmal auf. Und erst dann trat ich in das Licht.
Und so starb Cyril Drood: gegen seine Feinde bis zum Ende kampfend, so, wie ein Drood sterben sollte. Fur die Familie. Und fur die ganze, verdammte Welt, die sich nicht darum kummerte.
Als das Licht erstarb, war ich wieder in meiner eigenen Welt. Es war Nacht, aber der Mond war voll und strahlte hell. Der Himmel hing voller Sterne, die noch mindestens ein paar Aonen leuchten wurden. Meine Wunden hatten sich spurlos geschlossen und ich fuhlte mich wieder stark. Die Luft war angenehm kuhl, voller Geruche - es war eine Freude, darin zu atmen. Ich trat auf das feuchte Gras und erfreute mich am festen Grund unter mir. Die ganze Nacht fuhlte sich lebendig an, wie auch ich.
Erst als ich mich umsah, erkannte ich, dass die anderen mich nicht einmal bemerkten. Sie standen um einen Korper herum, der auf dem Boden lag. Ich hastete zu ihnen heruber. Molly kniete auf dem Gras neben U-Bahn Ute. Sie war tot. Sie hatte keine Verletzungen, die Schmarotzer hatten sie nicht in die Finger gekriegt. Aber sie war trotzdem tot. Molly sah zu mir auf.
»Ute hat es nicht geschafft«, sagte sie dumpf. »Zu viel Anstrengung, zu viel Magie, sie war nie sehr stark.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Nicht deine Schuld«, erwiderte Molly. »Sie hat sich ja freiwillig gemeldet.« Sie kam wacklig wieder auf die Beine. »Wir werden zu dir zuruckkommen, Ute. Spater. Noch haben wir eine Aufgabe zu erledigen.«
»Ihr wird es hier gut gehen«, sagte ich, weil man in so einer Situation ja irgendetwas sagen musste.
Molly funkelte mich an. »Ute war meine Freundin. Sie war nicht immer so wie vorhin. Du hast sie nie zu ihrer besten Zeit gesehen, reich und glamouros und jemand, mit dem man rechnen musste.«
»Ich wei?«, antwortete ich.
»Sie war meine Freundin«, sagte Molly. »Sie ist nur in das alles reingezogen worden, weil ich sie drum gebeten hatte.«
»Ja«, sagte ich. »Das scheint ansteckend zu sein.«
»Der Seneschall war ein guter Mann«, sagte Giles Todesjager. »Er kannte seine Pflicht und er hielt stand bis zuletzt.«
»Naturlich«, meinte ich. »Er war ein Drood.«
Ich sah mich wieder um. Wir befanden uns auf einer Wiese ungefahr eine halbe Meile von Stonehenge entfernt. Von Harry oder Roger oder irgendeinem von Trumans Beschleunigten war nichts zu sehen.
»Wir sind nur einen Moment nach unserem Aufbruch hier angekommen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Molly. »Nicht mal ich kann den Nachthimmel so akkurat lesen.«
»Ich wei? es, weil die implantierte Uhr in meinem Kopf gerade wieder angefangen hat zu arbeiten«, sagte Giles.
»Klugschei?er«, sagte Molly. Sie sah mich an. »Ich frage mich, wie Jacob und Jay vorankommen.«
»Ich bezweifle, dass wir das je erfahren werden«, antwortete ich. »Es war ein ganz schoner Schuss ins Blaue. Aber wie auch immer, wir konnen uns nicht auf sie verlassen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, also kommt's jetzt auf uns an.«
»Es gibt einen Eingang zu dem unterirdischen Bunker, nicht weit von hier«, verkundete Mr. Stich auf einmal. Er wies zuversichtlich in die Dunkelheit. Als er bemerkte, dass wir ihn alle anstarrten, lachelte er kurz. »Ich habe viele Fahigkeiten«, sagte er ruhig. »Ich verrate sie nur nicht unnotig. Sollen wir gehen?«
»Auf alle Falle«, meinte ich. »Bitte nach Ihnen.«
Er nickte, schritt uber die weite Ebene und wir alle folgten ihm. Ich war froh, dass er die Fuhrung ubernommen hatte. Ohne den Seneschall wollte ich Mr. Stich nicht hinter mir wissen. Er war vielleicht ein Teil der Mission, aber ich wurde ihm nie wieder vertrauen. Nicht nach der Sache mit Penny.
Plotzlich hielt er an und starrte herunter auf ein Stuck Wiese, dass sich nicht vom Rest unterschied. Dann stampfte er zwei Mal fest auf den Boden und trat zuruck. Ein gro?es Stuck des Rasens hob sich langsam und gab einen dunklen Tunnel frei, der nach unten fuhrte. Mr. Stich wollte ihn betreten, doch ich hielt ihn zuruck und ubernahm nach einem bedeutungsvollen Blick auf Molly wieder die Fuhrung. Wenn das wirklich ein Weg in Trumans Bunker war, wollte ich nicht, dass Mr. Stich voran ging und Entscheidungen fur uns alle traf. Molly konnte ihn im Auge behalten.
Elektrische Lichter flammten auf, als wir den Tunnel betraten, wahrscheinlich ausgelost durch einen versteckten Sensor. Die Wande bestanden aus gewolbtem Stahl und schimmerten dumpf. Truman hatte es mit Stahl. Personlich war ich der Ansicht, dass er einfach zu viele James-Bond-Filme gesehen hatte. Aber das hatte ich auch. Wir gingen den Stahlkorridor entlang, bis er auf einen anderen traf, genauso breit, genauso nackt und schlicht. Unsere Schritte hallten laut auf dem geriffelten Boden und ich erwartete fast, dass jeden Moment bewaffnete Wachleute auftauchten. Aber niemand kam, um zu sehen, was los war. Kein Alarm, keine erhobenen Stimmen - nichts. Der ganze Ort war unnaturlich still. Molly stupste mich in die Seite, sah sich finster um und blieb jetzt so dicht bei mir, dass ich die Spannung in ihr ebenfalls spuren konnte.
»Da stimmt was nicht«, sagte sie leise. »In Trumans letzter Basis wimmelte es nur so von Leuten. Wo sind die alle?«
»Gute Frage«, erwiderte ich. »Wir durfen nicht vergessen, dass das hier nicht nur ein Quartier des Manifesten Schicksals, sondern auch ein Nest der Abscheulichen ist.«
Sie sah mich nicht an. Sie musste wissen, was ich dachte. Sie hatte einen Abscheulichen in sich, der wuchs und gro?er wurde. Wer wusste schon, was das Ding tat, jetzt, wo es sich endlich unter seinesgleichen befand.
Ich begann zu hoffen, dass wir bald auf ein paar bewaffnete Wachen trafen. Ich hatte wirklich den Eindruck, ich musste meine angestaute Frustration an einer ganzen Meute von armen, hilflosen, bewaffneten Wachen auslassen.
Aber als wir um eine letzte Stahlecke bogen und endlich in den ersten offenen Raum in diesem Bunker spahten, fiel auf einmal ein massives Stahlschott von der Decke und versperrte den Korridor. Es blockierte unseren