»Harold hat ein Recht, gehort zu werden«, sagte der Seneschall.

»Ich verstehe«, sagte ich. »Und das denkt ihr alle?«

»Er war bei dir, als alles schieflief«, erwiderte Penny. »Wir brauchen einen unabhangigen Zeugen, um genau herauszufinden, was passiert ist. Das musst du verstehen, Eddie.«

»Oh, ich verstehe eine ganze Menge«, sagte ich. »Ich hatte mich daran erinnern sollen, dass Betrug und Hintenrum in dieser Familie ganz normal sind.«

Der Waffenmeister wand sich unbehaglich. »Sei nicht so, Eddie. Du wei?t, ich bin auf deiner Seite. Aber wir brauchen Fakten uber die Geschehnisse. Und wir mussen zusammenhalten. Es kann ja sein, dass Harry uns Dinge uber die Schlacht erzahlen kann, die du nicht wahrgenommen hast. Wir werden jede Information brauchen, die wir kriegen konnen, wenn wir mehr Abscheuliche in ihren Nestern erwischen wollen. Wir sind nicht hier, um uber dich zu urteilen.«

»Ach nein?«, fragte ich. »Nun, du vielleicht nicht, Onkel Jack. Aber die anderen schon. Ihre Meinung steht fest. Ich habe dafur keine Zeit, Leute. Es mussen ganz andere Dinge erledigt werden. Zum Wohl der Familie.«

»Wag es nicht, uns hier einfach stehenzulassen«, sagte der Seneschall.

»Du kannst mich mal, Cyril«, sagte ich.

Und ich ging einfach aus dem Sanktum hinaus, ohne mich umzudrehen, selbst als der Waffenmeister und Penny meinen Namen riefen. Ich war so wutend, dass meine Hande sich wieder zu Fausten geballt hatten, so fest, dass sie mir tatsachlich wehtaten. Mein Herz pochte wie ein Vorschlaghammer und ich konnte spuren, dass ich vor Zorn rot im Gesicht war. Ich musste raus. Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich dazu brachten, das Falsche zu sagen, das Falsche zu entscheiden. Es ergab keinen Sinn zu bleiben; die Richter hatten ihr Urteil gefallt. Und ohne Molly, die mir zur Seite stand, und mit einem schwankenden Waffenmeister ware ich uberstimmt oder uberschrien worden, egal, was ich sagte. Von meinem eigenen Inneren Zirkel! Ich konnte nicht fassen, dass sie Harry eingeladen hatten, ohne das zunachst mit mir abzusprechen.

Ich schritt durch die Korridore und Verbindungszimmer des Herrenhauses, schimpfte vor mich hin und warf wutende Blicke auf jedes Familienmitglied, das mir begegnete. Die meisten hatten Verstand genug, angemessenen Abstand zu halten. Keiner von ihnen sprach mit mir, sie sahen mir nur schweigend hinterher, wahrend ich vorbeiging. Das passte mir gut. Nur ein dummer Kommentar und ich hatte ihnen eine reingehauen.

Dennoch, so wutend ich auch war, ein Teil von mir stand im Hintergrund, schuttelte den Kopf und sagte immer wieder: Das bist nicht du. Du hast immer daran geglaubt, nicht wutend zu werden, sondern klaren Kopf zu bewahren. Als die Matriarchin mich zum Vogelfreien erklarte und mich zum Tode verurteilt hatte, war ich nicht ausgerastet; nein, ich bin damals sofort dazu ubergegangen, zu planen, wie ich sie uberfuhren konnte. Aber damals hatte ich gewusst, dass ich unschuldig war, ich hatte nichts Falsches getan. Das hatte mir Mut gemacht, trotz all der Hindernisse, die man mir in den Weg gelegt hatte. Das hier war anders. Nichts au?er der Wut hatte Raum in mir und der gro?te Teil davon richtete sich gegen mich selbst.

Weil ich es vermasselt hatte. Ich hatte meine Leute umgebracht. Meine Familie. Alles andere war unwichtig.

Als ich am Haupteingang angekommen war, war die Wut einem dumpfen Druck gewichen und ich konnte klarer denken. Oder zumindest so klar, dass ich mir mehr Sorgen um Molly machte, als um mich selbst. Ich hatte sie nicht ernst genug genommen, als sie gesagt hatte, sie konne im Herrenhaus nicht wohnen, dass sie unter lebendigen Dingen leben musse, in der Wildnis. Ich wusste, dass sie sich nur schwer eingewohnte, aber ich hatte gedacht, dass sie es schaffen wurde. Und jetzt musste ich mich fragen, ob ihr das je gelingen wurde. Ob sie es je konnte. Sie war immerhin eine Frau, die sonst in ihrem eigenen privaten Wald lebte, wahrend ich hier bleiben musste, im Herrenhaus, oder riskierte, die Kontrolle uber meine Familie zu verlieren.

Martha hatte mir schon ins Gesicht gesagt, dass sie nur darauf warte, dass ich alles so durcheinanderbrachte, dass sie wieder die Macht ergreifen und das Matriarchat erneut errichten konnte. Und was dann? Wurde sie die alten Sitten wieder etablieren? Goldene Rustungen statt silberner, fur die mit Kinderopfern gezahlt wurde? Zuruck zu der Zeit, in der die Familie die Welt regierte, statt sie zu schutzen? Nein. Ich konnte das nicht zulassen. Meine Pflicht der Familie gegenuber wog schwerer als die Pflicht mir selbst gegenuber. Das war immer so gewesen. Ich konnte meiner Familie nicht den Rucken zukehren, nicht einmal fur Molly. Es ist immer die Familie, die zahlt, ob wir das nun mogen oder nicht.

Aber so konnte ich Molly verlieren. Die einzige Frau, die ich je geliebt hatte.

Ich kam am Haupteingang an, schritt durch die Tur und sah die lange, kiesbestreute Auffahrt entlang, als sich auf einmal aus dem Nichts eine Ambulanz materialisierte. Das sorgte definitiv fur meine Aufmerksamkeit, denn eigentlich hatte sich auf unserem Grund und Boden nichts materialisieren durfen, es sei denn, wir hatten es im Voraus erlaubt. Was wir meist nicht tun. Die Ambulanz kam rohrend die Auffahrt hinauf und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor mir und spritzte Kies auf meine Schienbeine, auf der Seite stand Dr. Syn's nachtlicher Fluglieferservice. Die Fahrertur offnete sich und der Fahrer stieg aus. Ein frohlicher Mensch mit einer traditionell wei?en und gestarkten Uniform. Er schlenderte heruber zu mir und druckte mir ein Clipboard und einen Stift in die Hand. Dann salutierte er kurz.

»Bitte unterschreibt hier, edler Junker. Ein Verruckter frei Haus und nein, ich beantworte keine Fragen. Ich liefere Leute einfach ab und verschwinde wieder, bevor es hasslich wird. Bitte, hier auf der gepunkteten Linie unterschreiben. Damit quittieren Sie die Lieferung eines William Dominic Drood, auch bekannt als Seltsamer John. Und machen Sie voran, Junker, ich habe auch noch diesen amerikanischen Gentleman und sein Riesenkaninchen abzuliefern.«

Ich unterschrieb mit Harrys Namen und gab das Clipboard zuruck. Ich war immer schon von der vorsichtigen Sorte gewesen. Der Fahrer salutierte noch einmal kurz und ging hinten an die Ambulanz. Dort schloss er ein sehr gro?es Vorhangeschloss auf und zog die Tur mit einem herzhaften: »Raus mit dir, mein Lieblingsverruckter, du bist zu Hause!« auf. William Drood trat heraus und blinzelte im hellen Sonnenschein, wahrend der Fahrer ihn fest am Arm packte und ihn zu mir brachte.

»Bitte sehr, Junker. Ein Bekloppter, wie bestellt. Stundenlanger Spa? fur die ganze Familie. Versuchen Sie, ihn nicht zu verlieren. Sie wurden nicht glauben, was fur einen Papierkram ich hatte, wenn ich ihn wieder einfangen musste. Ihnen einen schonen Tag noch! Ich hab Sie schon vergessen!«

Noch ein Salut und er war wieder in seiner Fahrerkabine. Die Ambulanz brauste mit quietschenden Reifen den Kiesweg hinunter und verschwand in gro?tem Larm. Auf einmal schien der Tag wunderbar still.

»Eine beunruhigend frohliche Person«, sagte William. »Ich darf nicht vergessen, ihm einen Dankesbrief zu schicken. Mit einer Briefbombe.«

»Willkommen zuruck, William«, sagte ich. »Willkommen zu Hause.«

Er nickte vage und sah sich um. Er schien nicht besonders glucklich, wieder hier zu sein. Er sah besser aus als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, allein in seiner Zelle im Sanatorium »Frohliches Delirium«. Sie hatten ihn in einen guten Anzug gesteckt, bevor sie ihn nach Hause geschickt hatten, auch wenn er aussah, als fuhle er sich nicht sehr wohl darin. Genaugenommen sah er allgemein so aus, als fuhle er sich unbehaglich. Sein Gesicht konnte sich nicht so recht fur einen Ausdruck entscheiden, und seine Augen sahen wie immer gehetzt um sich, so als sehe er immer noch seltsame Welten und alternative Realitaten in den Augenwinkeln. Und wenn man bedachte, wer er war … Ich sagte wieder seinen Namen und sein starrer Blick wandte sich langsam wieder mir zu. Ich streckte meine Hand aus und nach einer Pause schuttelte er sie ernst.

»Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich.

»Naturlich erinnere ich mich an dich, Edwin. Ich bin nicht vollig gaga. Du hast mich an diesem … Ort besucht. Du hattest eine Botschaft fur mich, du meintest, es sei wieder sicher, heimzukommen. Also bin ich hier. Ich hoffe, du hast recht, Edwin.«

»Es ist gut, dich wieder hier zu haben, wo du hingehorst«, sagte ich.

»Ist es das?«, fragte er geistesabwesend und sah auf das Herrenhaus hinter mir, als sehe er es zum ersten Mal. »Es fuhlt sich nicht wie ein Zuhause an. Aber das tat es nicht einmal, als ich ging. Ich habe etwas herausgefunden, wei?t du, und danach schien nichts mehr beim Alten zu sein. Ich kann nicht einmal mehr sagen, dass ich mich wie William Dominic Drood fuhlte. Ich denke, ich war als Seltsamer John glucklicher. Ich denke, vielleicht … habe ich William hier gelassen, als ich wegging. Vielleicht kommt er ja ebenfalls wieder, jetzt, wo ich wieder hier bin. Wenn es sicher ist. Ich habe etwas im Sanktum gesehen, wei?t du …«

»Es ist in Ordnung, William«, sagte ich schnell. »Ich wei?, was du gesehen hast, was du herausgefunden

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