sehen, wer besser dabei abschneidet.«

Ich neigte mich vor, die Hande auf meinem Schreibtisch aufgestutzt, und sprach in einem Tonfall, der

- wie ich hoffte - klang wie der eines Freundes, der einem etwas Vertrauliches mitteilt »Brutus Howell

kann dich nicht besonders leiden«, begann ich. »Und er ist dafur bekannt, dass er einen eigenen

Bericht anfertigt wenn er jemanden nicht leiden kann. Er ist kein Genie im Umgang mit einem

Fullfederhalter, und er kann es nicht lassen, an diesem Bleistift herumzulutschen, aber er schreibt

starke Berichte mit seinen Fausten, wenn du verstehst, was ich meine.«

Percys selbstgefalliges Lacheln verschwand. »Was willst du damit sagen?«

»Ich will nichts sagen, ich habe es gesagt Lind wenn du einem von deinen ... Freunden ... von diesem

Gesprach erzahlst, werde ich behaupten, dass du das Ganze erfunden hast.« Ich schaute ihn

unschuldig und ernst an. »Au?erdem versuche ich, dein Freund zu sein, Percy. Wer gescheit ist hort

auf einen guten Rat, hei?t es. Lind warum willst du dir uberhaupt Arger wegen Delacroix einhandeln?

Er ist es nicht wert.«

Und eine Zeitlang klappte es. Es herrschte Frieden. Ein paar Mal konnte ich Percy sogar mit Dean

oder Harry losschicken, wenn Delacroix mit dem Duschen an der Reihe war. Wir schalteten abends

das Radio ein, Delacroix begann sich in der sparlichen Routine von Block E etwas zu entspannen, und

es herrschte Frieden.

Dann horte ich ihn eines Abends lachen.

Harry Terwilliger sa? am Wachpult, und bald lachte er ebenfalls. Ich stand auf und ging zu Delacroix'

Zelle, um zu sehen, was er zu lachen hatte. »Schauen Sie mal, Capiteine!« sagte er, als er mich sah.«

Ich 'abe eine Maus dressieren!«

Es war Steamboat Willy. Er war in Delacroix' Zelle. Mehr noch: Er sa? auf Delacroix' Schulter und

schaute mit seinen kleinen glanzenden Augen ruhig durch die Gitterstabe zu uns. Sein Schwanz war

um die Pfoten geschlungen, und er wirkte vollig entspannt Und Delacroix? Freunde, man hatte nicht

gedacht, dass es derselbe Mann war, der noch vor einer Woche, geduckt und vor Angst schlotternd,

auf seiner Pritsche gehockt hatte. Er wirkte jetzt wie meine Tochter am Weihnachtsmorgen, wenn sie

die Treppe herunterkam und die Geschenke sah.

»Sehen Sie das an!« rief Delacroix. Die Maus sa? auf seiner rechten Schulter. Delacroix streckte den

linken Arm aus. Die Maus hupfte auf Delacroix' Kopf, benutzte sein Haar (das wenigstens hinten noch

dicht genug war), um daran hochzuklettern, und flitzte auf der anderen Seite den Arm hinunter.

Delacroix kicherte, als ihn der Schwanz der Maus am Hals kitzelte. Die Maus lief uber den Arm bis zu

seinem Handgelenk, machte kehrt, flitzte wieder den Arm hinauf, blieb auf Delacroix' linker Schulter

sitzen und ringelte den Schwanz um die Pfoten. »Nicht zu glauben!« sagte Harry.

»Ich 'abe ihr beigebracht«, erklarte Delacroix stolz. Quatsch, dachte ich, aber ich hielt den Mund.

»Er hei?t Air. Jingles.«

»Unsinn«, sagte Harry gutmutig. »Er hei?t Steamboat Willy wie die Mickey Mouse in dem Comicfilm.

Boss Howell hat ihm diesen Namen gegeben.«

»Es ist Mr. Jingles«, beharrte Delacroix. Bei jedem anderen Thema ware er kompromissbereit

gewesen, aber beim Namen der Maus blieb er unnachgiebig. »Er 'at mir in die Ohr geflustert Chef,

kann ich eine Kistchen fur ihn 'aben? Eine petite Kiste fur meine Maus, damit Mr. Jingles 'ier mit mir

schlafen kann? Bitte, Capitaine.« Seine Stimme klang flehend und schmeichelnd, wie ich es schon

tausendmal gehort hatte. »Ich stelle ihn unter meine Bett, und sie niemals wird machen Argeeer,

niemals.«

»Dein Englisch wird viel besser, wenn du etwas haben willst«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Oh, oh«, murmelte Harry und stie? mich mit dem Ellenbogen an. »Da kommt Argeeer.«

Aber Percy sah nicht nach Krawall aus, nicht an diesem Abend. Er streichelte sich nicht durchs Haar

und fummelte auch nicht an seinem Schlagstock herum, und der oberste Knopf seines Uniformhemds

war tatsachlich aufgeknopft.

Zum ersten Mal sah ich ihn so, und es war erstaunlich, was eine so kleine Veranderung bewirken kann. Am meisten verbluffte mich jedoch seine Miene. Sie strahlte Ruhe aus. Keine heitere Ruhe, aber die Gelassenheit eines Mannes, der auf die Dinge warten kann, die er sich wunscht Das war eine gewaltige Veranderung fur einen jungen Mann, dem ich erst vor ein paar Tagen mit Brutus Howells Fausten drohen musste.

Delacroix sah die Veranderung jedoch nicht. Er presste sich angstlich gegen die Wand seiner Zelle und zog die Knie bis vor die Brust. Seine Augen schienen zu wachsen, bis sie fast sein halbes Gesicht einnahmen. Die Maus kletterte auf seine Glatze und hockte sich hin. Ich wei? nicht ob Mr. Jingles sich daran erinnerte, dass er ebenfalls Grund hatte, Percy zu misstrauen, aber es sah ganz danach aus. Vielleicht roch er einfach die Furcht des kleinen Franzosen und reagierte darauf. »Aha«, sagte Percy. »Sieht aus, als hattest du einen Freund gefunden, Eddie.« Delacroix setzte zum Sprechen an - ich vermute mal, er wollte Percy trotzig erklaren, was passieren wurde, wenn Percy seinem neuen Freund etwas antun wurde -, aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Unterlippe zitterte ein bisschen, doch das war schon alles. Mr. Jingles, oben auf seiner Glatze, zitterte nicht Er sa? vollkommen ruhig mit den Hinterfu?en in Delacroix' Haarkranz und den Vorderpfoten auf Delacroix' kahler Platte und sah Percy geradezu abschatzend an. Wie man einen alten Feind taxiert.

Percy schaute mich an. »Ist das nicht die Maus, die ich gejagt habe? Die in der Gummizelle haust?« Ich nickte. Mir kam in den Sinn, dass Percy den neu benannten Mr. Jingles seit dieser letzten Jagd nicht mehr gesehen hatte und er keine Anstalten machte, ihn jetzt zu jagen. »Ja, das ist sie«, sagte ich. »Nur behauptet Delacroix, dass ihr Name Mr. Jingles ist nicht Steamboat Willy. Er sagt, die Maus habe ihm das ins Ohr geflustert.«

»Tatsachlich?« erwiderte Percy. »Wunder gibt es immer wieder, nicht wahr?« Ich erwartete fast, dass er seinen Schlagstock ziehen und gegen die Gitterstabe klopfen wurde, nur um Delacroix zu zeigen, wer der Boss war, doch er stand nur mit den Handen auf den Huften da und schaute in die Zelle. Aus keinem Grund, den ich hatte in Worte kleiden konnen, sagte ich: »Delacroix hat soeben nach einer kleinen Kaste gefragt, Percy. Er denkt, dass die Maus darin schlafen wird, nehme ich an. Dass er sie als Kuscheltier halten kann.« Ich bemuhte mich um einen skeptischen Tonfall und spurte mehr, als dass ich es sah, wie Harry mich uberrascht anblickte. »Wie denkst du daruber?« »Ich denke, die Maus wird ihm vermutlich eines Nachts, wenn er schlaft, auf die Nase schei?en und abhauen«, antwortete Percy ruhig, »aber das ist das Problem des Franzosen. Ich habe gestern eine schone Zigarrenkiste auf TootToots Karren gesehen. Ich wei? allerdings nicht, ob er sie weggeben wurde. Vielleicht will er einen Nickel dafur, moglicherweise sogar einen Dirne.« Jetzt riskierte ich einen Blick zu Harry und sah, dass sein Mund offen stand. Dies war zwar noch nicht ganz die Verwandlung des Ebenezer Scrooge von einem Geizhals in einen noblen Spender an einem Weihnachtsmorgen, nachdem sich in der Nacht die Geister mit ihm beschaftigt hatten, aber es kam dem verdammt nahe.

Percy neigte sich naher zu Delacroix und steckte den Kopf zwischen die Gitterstabe. Delacroix wich sogar noch weiter zuruck. Ich schwore bei Gott, dass er in die Wand gekrochen ware, wenn er das gekonnt hatte.

»Hast du einen Nickel oder vielleicht einen Dime, um eine Zigarrenkiste zu bezahlen?« fragte er. »Ich 'abe vier Pennies«, sagte Delacroix. »Ich gebe fur eine Zigarrenkiste, wenn es eine gute, s'il est bon.«

»Wei?t du was?« fragte Percy. »Wenn dieser zahnlose alte Hurensohn dir die Zigarrenkiste fur vier Pennies verkauft, dann klaue ich etwas Watte von der Krankenstation, um sie damit auszupolstern. Das wird ein richtiges Mause-Hilton, wenn es fertig ist« Er blickte mich an. »Ich soll einen Bericht uber meine Eindrucke im Schaltraum bei Bitterbucks Hinrichtung schreiben«, sagte er. »Gibt es einen Fuller in deinem Buro, Paul?«

»Klar«, erwiderte ich. »Formblatter ebenfalls. Im Schreibtisch in der linken oberen Schublade.« »Na prima«, sagte Percy und stolzierte davon.

Harry und ich tauschten einen Blick »Meinst du, dass er krank ist?« fragte Harry. »War er vielleicht bei seinem Arzt und hat erfahren, dass er nur noch drei Monate zu leben hat?«

Ich gestand, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was da los war. Das stimmte zu diesem Zeit­punkt und noch eine Weile danach, aber dann fand ich es heraus. Und ein paar Jahre spater hatte ich ein interessantes Gesprach beim Abendessen mit Hai Moores. Zu der Zeit konnten wir offen reden, denn der Direktor war pensioniert worden, und ich arbeitete in der Jugendstrafanstalt Es war eine dieser Mahlzeiten, bei denen man zuviel trinkt und zuwenig isst so dass die Zungen gelockert werden. Hai erzahlte mir, dass Percy sich uber mich und uber die Arbeit auf der Green Mile im allgemeinen beschwert hatte. Das war kurz nach dem Tag, an dem Delacroix in den Block gekommen war und Brutal und ich Percy davon abgehalten hatten, den kleinen Franzosen halbtot zu prugeln. Am meisten hatte Percy gewurmt, dass ich ihn aufgefordert hatte, mir aus den Augen zu

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