Ich ging hinaus aufs Plumpsklo, um mein Geschaft zu erledigen - das war mindestens drei Jahre vor unserem ersten Wasserklosett -, und hatte gerade den Holzstapel an der Ecke des Hauses erreicht, als mir klar wurde, dass ich das Wasser nicht langer bei mir behalten konnte. Ich konnte nur noch meine Pyjamahose runterziehen, und dann floss der Urin bereits, und dieses Flie?en wurde vom qualendsten Schmerz meines ganzen Lebens begleitet Ich hatte 1956 einen Gallenstein, und ich wei?, dass die Leute das fur das Schlimmste halten, aber im Vergleich zu den unertraglichen Schmerzen durch die Blaseninfektion war der Gallenstein wie eine leichte Magenverstimmung. Meine Knie gaben nach, und ich fiel auf sie nieder, wobei die Naht meines Pyjamahosenbodens aufriss, als ich die Beine spreizte, um das Gleichgewicht zu wahren und nicht kopfuber in die Lache meiner eigenen Pisse zu fallen. Es ware vielleicht trotzdem passiert, wenn ich mich nicht mit der linken Hand an einem der Scheite des Holzstapels gestutzt hatte. All diese Einzelheiten hatten jedoch in Australien oder sogar auf einem anderen Planeten stattfinden konnen.

Ich nahm nur den Schmerz wahr, der mich formlich entflammt hatte; mein Unterleib brannte, und mein Penis - den ich meistens vergessen hatte, wenn er mir nicht das gro?te korperliche Vergnugen bereitete, das ein Mann empfinden kann - fuhlte sich jetzt an, als wurde er schmelzen. Als ich hinabblickte, (rechnete ich damit, Blut herausspritzen zu sehen, aber es war anscheinend ein ganz normaler Strahl Urin.

Ich klammerte mich mit einer Hand an den (Holzstapel und presste die andere auf den Mund, um meine Frau nicht mit einem Schrei zu wecken, lieh hatte den Eindruck, eine Ewigkeit zu pinkeln, aber schlie?lich versiegte der Strahl. Unterdessen war der Schmerz tief in meinen Magen und meine Hoden gedrungen, und ich meinte, mit rostigen Zahnen zerfleischt zu werden. Eine lange Zeit - es mochte etwa eine Minute gewesen sein - war ich korperlich nicht in der Lage aufzustehen. Schlie?lich lie? der Schmerz ein wenig nach, und ich kampfte mich auf die Fu?e. Ich schaute meinen Urin an, der bereits vom Boden aufgesogen wurde, und fragte mich, wie ein vernunftiger Gott eine Welt machen konnte, in der das Ausscheiden von einem bisschen Flussigkeit solche schrecklichen Schmerzen hervorrief. Ich sagte mir, dass ich mich krank melden und doch zu Dr. Sadler gehen wurde. Ich konnte den Geruch und die Nebenwirkungen - zum Beispiel Ubelkeit - von Dr. Sadlers Sulfattabletten nicht ausstehen, aber alles wurde besser sein, als neben einem Holzstapel zu knien und Schreie zu unterdrucken, wahrend mein Penis meldete, dass er offenbar mit Petroleum uberschuttet und angezundet worden war. Als ich dann in unserer Kuche Aspirin schluckte und Janice leise im Schlafzimmer schnarchen horte, fiel mir ein, dass an diesem Tag William Wharton in Block E eintreffen und Brutal nicht da sein wurde. Brutal arbeitete laut Dienstplan in einem anderen Teil des Gefangnisses, half beim Umzug der Bucherei und ubrig gebliebener Ausrustung der Krankenstation in das neue Gebaude. Trotz meiner Schmerzen wollte ich Wharton nicht Dean und Harry uberlassen. Sie waren gute Manner, aber in Curtis Andersens Bericht stand, dass William Wharton au?ergewohnlich gefahrlich war. DIESEM MANN IST ALLES EGAL, hatte er geschrieben und dick unterstrichen. Inzwischen hatte der Schmerz etwas nachgelassen, und ich konnte denken. Ich hielt es fur die beste Idee, fruh zum Gefangnis zu fahren. Ich konnte um sechs dort sein, zu der Zeit, in der Direktor Moores fur gewohnlich eintraf. Er konnte Brutus Howell fur Whartons Empfang zum Block E zuruckbeordern, und ich wollte danach meinen lange uberfalligen Besuch beim Arzt machen. Cold Mountain lag praktisch auf meinem Weg. Auf der zwanzig Meilen langen Fahrt zum Gefangnis uberfiel mich zweimal ein plotzlicher Harndrang. Beide Male konnte ich am Stra?enrand stoppen und das Problem losen, ohne dass es peinlich fur mich wurde (zu dieser fruhen Stunde herrschte kaum Verkehr auf dieser Landstra?e). Keine dieser beiden Entleerungen war so schmerzhaft wie diejenige auf dem Weg zum Klo, die mich von den Beinen geholt hatte, aber beide Male musste ich mich an den Turgriff meines kleinen Ford Coupes klammern, um nicht auf die Knie zu gehen, und ich spurte, wie Schwei? uber mein hei?es Gesicht rann. Ich war krank, ja, widerlich krank.

Ich schaffte es jedoch, durch das Sudtor in den Gefangniskomplex zu fahren und an meinem ublichen Platz zu parken, und dann machte ich mich sofort auf den Weg zum Direktor. Es ging auf sechs Uhr zu. Miss Hannahs Buro war verwaist - sie wurde erst zu einer relativ zivilisierten Zeit, so gegen sieben, eintreffen -, aber in Moores' Buro brannte Licht; ich sah es durch die Milchglasscheibe. Ich klopfte fluchtig an und offnete die Tur. Moores blickte auf, erschreckt, jemanden zu dieser ungewohnlichen Stunde zu sehen, und ich hatte viel darum gegeben, ihn nicht in dieser Verfassung uberrascht zu haben. Sein wei?es Haar, normalerweise sorgfaltig gekammt, stand wirr ab, und er versuchte offenbar, Ordnung hineinzubringen, als ich eintrat Seine Augen waren gerotet, das Gesicht war geschwollen. Seine Schuttellahmung war schlimmer, als ich sie jemals gesehen hatte; er sah aus wie ein Mann, der soeben nach einer langen Wanderung durch eine schrecklich kalte Nacht zuruckgekehrt war. »Hai, entschuldigen Sie, ich komme spater ...«, begann ich.

»Nein«, unterbrach er mich. »Bitte, Paul, kommen Sie rein. Kommen Sie rein, und schlie?en Sie die Tur. Ich brauche jetzt jemanden. Wenn ich jemals in meinem ganzen Leben jemanden gebraucht habe, dann jetzt Kommen Sie rein, und schlie?en Sie die Tur.« Ich tat, was er verlangte, und verga? zum ersten Mal nach dem Erwachen an diesem Morgen meine Schmerzen. »Meine Frau hat einen Gehirntumor«, begann Moores. »Die Arzte haben Rontgenaufnahmen davon gemacht Sie waren anscheinend sehr zufrieden damit. Einer von ihnen sagte, es seien die besten, die sie jemals gehabt hatten, jedenfalls bis jetzt; er sagte, sie werden sie in einer gro?en arztlichen Fachzeitschrift in New England veroffentlichen. Der Tumor ist so gro? wie eine Zitrone, sagten sie, und geht tief nach innen, wo sie nicht operieren konnen. Sie sagten, dass sie bis Weihnachten tot sein wird. Ich habe es ihr nicht erzahlt. Ich wei? nicht wie ... Ich wei? es beim besten Willen nicht« Dann begann er zu weinen, und sein Schluchzen und Heulen erfullte mich mit Mitleid und einer Art Entsetzen - wenn ein Mann, der sich stets so beherrscht wie Hai Moores, schlie?lich die Kontrolle uber sich verliert, ist das ein schlimmer Anblick Ich stand einen Moment lang da, und dann ging ich zu ihm und legte einen Arm um seine Schulter. Er klammerte sich mit beiden Handen an mich wie ein Ertrinkender und begann noch hemmungsloser zu schluchzen. Spater, als er sich wieder unter Kontrolle hatte, entschuldigte er sich. Er sah mir dabei nicht in die Augen.

Er wirkte wie ein Mann, der sich furchtbar schamt weil er sich so hat gehen lassen, vielleicht so sehr schamt dass er nie daruber hinwegkommt. Manche Leute konnen denjenigen sogar hassen, der sie in einer solchen Verfassung gesehen hat Ich sagte mir, dass Direktor Moores nicht zu diesen Leuten zahlte, aber es kam mir nie in den Sinn, jetzt noch zu erledigen, was ich ursprunglich vorgehabt hatte, und als ich Moores' Buro verlie?, ging ich hinuber zu Block E und nicht zuruck zu meinem Wagen. Das Aspirin wirkte inzwischen, und der Schmerz in meinem Unterleib war gedampft Ich nahm an, dass ich den Tag irgendwie uberstehen wurde. Ich wurde Wharton in Empfang nehmen, am Nachmittag noch einmal mit Hai Moores sprechen und mich fur morgen krank melden. Das Schlimmste hatte ich hinter mir, so dachte ich, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass das gro?te Unheil dieses Tages noch nicht einmal begonnen hatte.

11

»Wir dachten, er ware noch gedopt von den Untersuchungen«, sagte Dean am spaten Nachmittag. Seine Stimme war leise und rauh, fast krachzend, und er hatte blaue Flecken am Hals. Ich sah ihm an, dass ihm das Sprechen Schmerzen bereitete, und ich wollte ihn auffordern, es Seinzulassen, doch manchmal schmerzt es mehr zu schweigen. Dies war vermutlich so ein Augenblick, und ich hielt den Mund. »Wir alle dachten, er ware noch halb betaubt, nicht wahr?« krachzte Dean. Harry Terwilliger nickte. Sogar Percy, der sich abgesondert hatte und sich selbst auf seiner kleinen, verdrossenen Ein-Mann-Party genug war, nickte zustimmend. Brutal schaute zu mir, und fur einen Moment trafen sich unsere Blicke. Wir dachten so ziemlich das gleiche, namlich dass es nun mal passiert war. Man denkt, man hat alles im Griff, alles lauft prima, dann macht man einen Fehler, und ehe man sich versieht, fallt das ganze Kartenhaus in sich zusammen. Sie hatten gedacht, er ware gedopt, eine durchaus vernunftige Annahme, aber keiner hatte gefragt, ob er nach den Untersuchungen tatsachlich noch unter Beruhigungsmitteln stand. Ich glaubte, noch etwas anderes in Brutals Augen zu sehen: Harry und Dean wurden aus ihrem Fehler lernen. Besonders Dean, der dabei leicht hatte draufgehen konnen. Percy wurde nicht lernen. Vielleicht konnte er das nicht. Percy konnte sich nur in eine Ecke hocken und schmollen, weil er wieder Mist gebaut hatte. Sieben Mann fuhren rauf nach Indianola, um Wild Bill Wharton abzuholen: Harry, Dean, Percy und zwei andere Warter hinten im Transporter (ich habe ihre Namen vergessen, obwohl ich uberzeugt bin, dass ich sie einst wusste) plus zwei, die vorne sa?en.

Sie fuhren mit dem Wagen, den wir die Postkutsche nannten - ein Ford Truck, der mit Stahl verstarkt worden war und angeblich kugelsichere Scheiben hatte. Der Truck sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Milchtransporter und einem gepanzerten Wagen.

Harry Terwilliger war der Leiter der Expedition. Er uberreichte dem County Sheriff (nicht Homer Cribus, sondern einem anderen gewahlten Bauerntrampel, kann ich mir vorstellen) die Papiere und bekam im Austausch Mr. William Wharton uberreicht - den Hollenhund extra ordinare, wie Delacroix vielleicht gesagt hatte. Eine Gefangnisuniform von Cold Mountain war vorausgeschickt worden, aber der Sheriff und seine Manner hatten sich

Вы читаете The Green Mile
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату