Gangsterfilm aus den Vierzigern. Der Todeskuss hei?t er.« Ich spurte, dass ich wieder zittern wollte, und kampfte dagegen an.

»Richard Widmark spielt dort mit«, sagte ich. »Ich glaube, es war seine erste gro?e Rolle. Ich hab' den Film nie mit Jan angesehen - wir machten uns eigentlich nichts aus Gangsterfilmen -, aber ich habe irgendwo gelesen, dass Widmark den Bosewicht hollisch gut spielt. Und das stimmt. Er ist bleich ... scheint nicht zu gehen, sondern zu schleichen ... nennt die Leute immer >Schei?er< ... redet uber 'Verrater ... wie sehr er Verrater hasst...«

Ich begann wieder zu zittern, sosehr ich mich auch bemuhte, es zu unterdrucken. Ich konnte einfach nichts dafur.

»Blondes Haar«, flusterte ich. »Strahniges blondes Haar. Ich habe bis zu der Szene, in der er diese alte Frau in einem Rollstuhl die Treppe hinuntersto?t, zugeschaut und dann abgeschaltet.« »Er hat dich an Wharton erinnert?« »Er war Wharton«, sagte ich. »Naturgetreu.«

»Paul ...«, begann Elaine und verstummte. Sie schaute auf den leeren Bildschirm (die rote Anzeige zeigte noch die 10, den AMC-Kanal), und dann sah sie wieder mich an.

»Was?« fragte ich. »Was, Elaine?« Und ich dachte: Sie wird mir sagen, dass ich nicht mehr daruber schreiben soll. Dass ich die Seiten, die ich bis jetzt geschrieben habe, zerrei?en und einfach aufhoren soll.

Aber sie sagte: »Lass dich davon nicht aufhalten.« Ich starrte sie an. »Mach den Mund zu, Paul - es konnte eine Fliege hineinfliegen.« »Verzeihung. Es ist nur ...«

»Du hast gedacht, ich wurde dir genau das Gegenteil sagen, nicht wahr?« »Ja.«

Sie ergriff meine Hande (sanft, so sanft waren ihre langen und schonen Finger, ihre knorrigen und hasslichen Knochel), neigte sich vor und schaute mir in die blauen Augen. Ihre Augen waren haselnussbraun, und das linke war leicht getrubt vom Nebel des grauen Stars. »Ich mag zu alt und gebrechlich zum Leben sein«, begann sie, aber ich bin nicht zu alt zum Denken. Was sind ein paar schlaflose Nachte in unserem Alter? Was bedeutet es schon, einen Geist auf dem Bildschirm zu sehen? Willst du mir weismachen, es sei der einzige Geist, den du jemals gesehen hast?« Ich dachte an Direktor Moores, an Harry Terwilliger und Brutus Howell. Ich dachte an meine Mutter und an Jan, meine Frau, die in Alabama gestorben war. Mit Geistern kannte ich mich aus, das kann man wohl sagen.

»Nein, es war nicht der erste Geist, den ich gesehen habe«, sagte ich. »Aber, Elaine - es war ein Schock Weil er es war.«

Sie kusste mich von neuem und erhob sich. Sie zuckte dabei zusammen und presste die Hande auf ihre Huften, als befurchtete sie, dass sie aus ihrer Haut springen konnten, wenn sie nicht sehr vorsichtig war.

»Mir ist nicht mehr nach Fernsehen«, sagte sie. »Ich habe mir eine zusatzliche Pille fur einen besonders schlimmen Tag ... oder fur eine besonders schlimme Nacht aufgehoben. Ich werde sie nehmen und wieder ins Bett gehen. Vielleicht solltest du das auch tun.«

»Ja«, erwiderte ich, »das sollte ich wohl tun.« Einen wilden Augenblick lang dachte ich daran, ihr vorzuschlagen, zusammen ins Bett zu gehen, aber dann sah ich den Schmerz in ihren Augen und besann mich eines Besseren. Denn vielleicht hatte sie ja gesagt, und zwar nur mir zuliebe.

Nicht gerade toll.

Wir verlie?en den Fernsehraum (ich werde ihn nicht mit diesem anderen Namen wurdigen, nicht

einmal, um ironisch zu sein) Seite an Seite, und ich passte mich Elaines Schritten an, die langsam und

qualend vorsichtig waren. Im Gebaude war es still bis auf das Stohnen von jemandem, der hinter

irgendeiner geschlossenen Tur in den Klauen eines schlechten Traums gefangen war.

»Wirst du schlafen konnen?« fragte Elaine.

»Ich denke, ja«, erwiderte ich, aber das war naturlich zu optimistisch. Ich lag bis zum Sonnenaufgang

wach im Bett und dachte an Todeskuss. Ich sah Richard Widmark, der mit einem wahnsinnigen

Kichern die alte Lady in ihrem Rollstuhl festschnallte und dann die Treppe hinunterstie? -»Das tun wir

mit Verratern!« sagte er ihr -, und dann verwandelte sich sein Gesicht in das von William Wharton,

wie es an dem Tag ausgesehen hatte, als er zum Block E und der Green Mile gekommen war -

Wharton, der gekichert hatte wie Widmark, Wharton, der geschrieen hatte: Das ist eine Party, was?

Ich verzichtete aufs Fruhstuck, nach diesen Erinnerungen war mir nicht danach.

Ich ging hinunter ins Solarium und begann zu schreiben.

Geister? Klar.

Ich wei? alles uber Geister.

2

»Jucheee, Jungs!« Wharton lachte. »Das ist 'ne Party, was?«

Immer noch schreiend und lachend, wurgte Wharton weiterhin Dean mit seiner Kette. Warum nicht? Wharton wusste, was auch Dean und Harry und mein Freund Brutus Howell wussten - man konnte einen Mann nur einmal braten.

»Schlag ihn!« brullte Harry Terwilliger. Er hatte mit Wharton gekampft, hatte versucht, die Dinge im Keim zu ersticken, aber Wharton hatte ihn von sich geschleudert, und jetzt versuchte Harry, sich aufzurappeln. »Percy, schlag ihn!«

Aber Percy stand nur da, den Hickory-Schlagstock in der Hand, die Augen so weit aufgerissen wie sonst sein Maul. Er liebte diesen verdammten Schlagstock, und man hatte sagen konnen, dies war die einmalige Chance, ihn zu benutzen, wie er es herbeigesehnt hatte, seit er in die Strafvollzugsanstalt Cold Mountain gekommen war - aber jetzt war er zu angstlich, um die Gelegenheit zu nutzen. Dies war kein verangstigter kleiner Franzose wie Delacroix und kein schwarzer Riese wie John Coffey, der anscheinend kaum wusste, dass er zu seinem eigenen Korper gehorte; dies war ein wirbelnder Teufel. Ich lie? mein Klemmbrett fallen, sprang aus Whartons Zelle und zog meinen 38er. Zum zweiten Mal an diesem Tag verga? ich die Infektion, die in meinem Unterleib gluhte. Ich habe nicht bezweifelt, was die anderen hinterher uber Whartons ausdrucksloses Gesicht und seinen teilnahmslosen Blick erzahlten, aber das war nicht der Wharton, den ich gesehen habe. Ich sah das verzerrte Gesicht eines Tieres ... keines intelligenten Tieres, sonders eines, das von Verschlagenheit ... und Bosartigkeit... und Freude erfullt war. Ja. Er tat das, wozu er bestimmt war. Der Ort und die Umstande spielten keine Rolle. Das andere, was ich sah, war Dean Stantons hochrotes, anschwellendes Gesicht. Er war dabei, vor meinen Augen zu sterben.

Wharton sah die Waffe in meiner Hand und drehte Dean darauf zu, so dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit draufgegangen ware, wenn ich geschossen hatte. Uber Deans Schulter hinweg funkelte mich ein gluhendes blaues Auge an: Schie? doch! Whartons anderes Auge wurde von Deans Haaren verdeckt Schrag hinter ihnen sah ich Percy stehen, der unentschlossen seinen Schlagstock halb erhoben hielt Und dann tauchte auf der Turschwelle zum Gefangnishof ein Wunder in Fleisch und Blut auf: Brutus Howell. Sie hatten den Umzug der Krankenstation beendet und Brutus war gekommen, um zu fragen, wer Kaffee wollte.

Brutal handelte, ohne auch nur eine Sekunde zu zogern. Er stie? Percy heftig zur Seite und gegen die Wand, zog seinen eigenen Schlagstock aus dem Halfter und knallte ihn mit voller Wucht auf Whartons Hinterkopf. Es gab einen dumpfen, fast hohlen Laut - als ob sich gar kein Gehirn unter Whartons Schadeldecke befunden hatte -, und endlich lockerte sich die Kette um Deans Hals. Wharton ging wie ein Mehlsack zu Boden, und Dean kroch von ihm weg. Er hustete sto?weise, hielt eine Hand an die Kehle, und seine Augen quollen hervor. Ich kniete mich neben ihn, und er schuttelte heftig den Kopf. »Okay«, krachzte er. »Kummert euch um ihn!« Er wies auf Wharton. »Einsperren! Zelle!« Ich bezweifelte, dass er eine Zelle brauchte, nachdem Brutal ihn so hart geschlagen hatte; ich dachte, er wurde eher einen Sarg brauchen. Doch das war Wunschdenken. Wharton war bewusstlos, aber noch langst nicht tot.

Er lag ausgestreckt auf der Seite, einen Arm vorgereckt, so dass die Fingerspitzen das Linoleum der

Green Mile beruhrten. Die Augen waren geschlossen, und er atmete langsam, aber regelma?ig. Es lag

sogar ein kleines friedliches Lacheln auf seinem Gesicht, als ob er mit seinem liebsten Wiegenlied

eingeschlafen ware. Ein Rinnsal Blut sickerte aus seinem Haar auf den Kragen des neuen

Gefangnishemds. Das war alles.

»Percy«, sagte ich, »hilf mir!«

Percy regte sich nicht, stand nur an der Wand und starrte wie betaubt mit weit aufgerissenen Augen

vor sich hin. Ich glaube nicht, dass er genau wusste, wo er war.

»Percy, verdammt, pack ihn!«

Da bewegte er sich endlich, und Harry half ihm. Wir drei schleppten den bewusstlosen Mr. Wharton in

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