Georgia-Pines-Zeit. Und ich mag den Regen, Schmerzen oder nicht. Besonders am fruhen Morgen, wenn der Tag jung und scheinbar voller Moglichkeiten ist sogar fur einen erschopften alten Knaben wie mich.
Ich ging durch die Kuche, schnorrte zwei Scheiben Toast von einem der noch schlafrigen Koche und ging hinaus. Ich uberquerte die Krocket-Spiel-Stra?e und dann das kleine Putting Green, das voller Unkraut war. Jenseits davon ist ein Waldchen mit einem engen gewundenen Pfad hindurch und ein paar Schuppen am Weg, die nicht mehr benutzt werden und still vor sich hin modern. Ich ging langsam uber diesen Pfad, lauschte auf das geheimnisvolle Prasseln des Regens in den Kiefern und mampfte mit meinen wenigen verbliebenen Zahnen ein Stuck Toast. Meine Beine taten weh, aber es war nur ein leichter, ertraglicher Schmerz. Sonst fuhlte ich mich ziemlich gut. Ich sog die feuchte graue Luft tief ein, wie ich konnte, nahm sie auf wie Nahrung.
Und als ich zum zweiten dieser alten Schuppen gelangte, ging ich fur eine Weile hinein und kummerte mich darin um meine Aufgabe.
Zwanzig Minuten spater spazierte ich auf dem Pfad zuruck. Ich spurte einen Wurm von Hunger in meinem Magen nagen und sagte mir, dass ich etwas Kraftigeres als Toast essen konnte. Einen Teller Haferschleim und vielleicht sogar ein Ruhrei mit einem Wurstchen. Ich liebe Wurstchen, habe sie immer gemocht, aber wenn ich heutzutage mehr als eins esse, neige ich zu Durchfall. Wenn ich nur ein Wurstchen esse, geht jedoch alles gut. Dann, mit vollem Bauch und mit von der feuchten Luft aufgemobeltem Verstand (hoffte ich jedenfalls), wurde ich ins Solarium gehen und uber die Hinrichtung von Eduard Delacroix schreiben. Das wurde ich so schnell wie moglich tun, damit ich nicht den Mut verlore.
Ich dachte an Delacroix' Maus Mr. Jingles, als ich die Krocket-Spielstra?e uberquerte und zur Kuchentur ging - wie Percy Wetmore die Maus niedergestampft und ihr das Ruckgrat gebrochen und wie Delacroix geschrieen hatte, als ihm klar geworden war, was sein Feind getan hatte -, und ich sah nicht Brad Dolan, der, von der Abfalltonne halb versteckt, neben der Tur stand. Ich nahm ihn erst wahr, als er mich am Handgelenk packte. »Kleinen Spaziergang gemacht, Paulie?« fragte er.
Ich zuckte zuruck und riss mein Handgelenk los. Einiges war einfach auf das Erschrecken zuruckzufuhren - jeder wird zuruckzucken, wenn er sich erschreckt -, aber das war nicht alles. Ich hatte an Percy Wetmore gedacht, wissen Sie, und Brad erinnert mich immer an ihn. Teils liegt es daran, dass Brad wie Percy stets mit einem Schmoker in der Tasche herumlauft (bei Percy waren es immer Abenteuermagazine; bei Brad sind es kleine Taschenbucher mit Witzen, uber die man nur lachen kann, wenn man blode und gemein ist), teils weil er sich auffuhrt wie Konig Schei?e von Schloss Kackhaufen, aber hauptsachlich liegt es daran, dass er hinterhaltig ist und anderen gern weh tut.
Er war gerade erst zur Arbeit gekommen und hatte noch nicht seine wei?e Pflegerkluft angezogen. Er trug Jeans und ein lassig aussehendes Hemd im Western-Stil. In einer Hand hielt er den Rest eines Blatterteigteilchens, das er in der Kuche gemopst hatte. Er stand unter dem Dachvorsprung, wo er futtern konnte, ohne nass zu werden. Und wo er mich belauern konnte, dessen bin ich mir jetzt ziemlich sicher. Ich bin mir auch bei etwas anderem ziemlich sicher: Ich werde mich vor Mr. Brad Dolan in acht nehmen mussen. Er mag mich nicht besonders. Ich wei? nicht, warum, aber ich wusste auch nie, warum Percy Wetmore eine Abneigung gegen Delacroix hatte. Und >Abneigung< ist wirklich ein zu schwaches Wort. Percy hasste Del wie die Pest von dem Moment an, als der kleine Franzose zur Green Mile kam.
»Was ist mit dem Poncho, den du anhast, Paulie?« fragte Brad Dolan und drehte den Kragen um. »Das ist nicht deiner.«
»Den hab' ich aus dem Flur vor der Kuche genommen«, sagte ich. Ich hasse es, wenn er mich Paulie nennt, und ich denke, das wei? er, aber ich wollte ihm nicht die Befriedigung geben, es mir anzusehen. »Da hangt eine ganze Reihe davon. Ich hab' ihn nicht beschadigt, nicht wahr? Schlie?lich ist das Ding fur den Regen gemacht«
»Aber er ist nicht fur
Brad lachelte mich an. Konnte mich nicht leiden. Hasste mich vielleicht sogar. Und warum? Ich wei? es nicht. Manchmal gibt es keinen Grund. Das ist das Unheimliche.
»Nun, es tut mir leid, dass ich gegen die Vorschriften versto?en habe«, sagte ich. Es klang ein wenig weinerlich, etwas schrill, und ich hasste mich deswegen, aber ich bin alt, und alte Leute sind leicht weinerlich. Alte Leute sind leicht
Brad nickte. »Entschuldigung angenommen. Und jetzt hang das Ding wieder auf. Du hast ohnehin nicht drau?en im Regen herumzuspazieren. Besonders nicht in dem Waldchen. Was ist, wenn du ausrutschst und fallst und dir die Hufte brichst? Ha? Wer, glaubst du, muss deine Last dann den Hugel hoch zuruck ins Haus schleppen?«
»Ich wei? es nicht«, sagte ich. Ich wollte nur von ihm weg. Je langer ich ihm zuhorte, desto mehr klang er wie Percy. William Wharton, der Verruckte, der im Herbst '32 zur Green Mile kam, schnappte einmal Percy und jagte ihm eine solche Angst ein, dass er sich in die Hosen pinkelte.
Ich tat so, als wollte ich durch die Kuchentur gehen, und Brad packte mich wieder am Handgelenk. Ich wei? nicht, ob es auch schon beim ersten Mal so war, aber diesmal tat er mir absichtlich weh, quetschte mein Handgelenk, um mir Schmerzen zuzufugen. Sein Blick zuckte hin und her, und Brad vergewisserte sich, dass niemand in der Nasse des fruhen Morgens sah, wie er einen der Alten misshandelte, die er pflegen sollte.
»Was treibst du auf diesem Pfad?« fragte er. »Ich wei?, dass du nicht dort hingehst, um zu wichsen, diese Zeit hast du lange hinter dir, also, was treibst du da?«
»Nichts«, sagte ich und ermahnte mich, ruhig zu sein, ihm nicht zu zeigen, wie sehr er mir weh tat. Ja, ich musste die Ruhe bewahren und daran denken, dass er nur den Pfad erwahnt hatte - von dem Schuppen wusste er nichts. »Ich gehe nur spazieren. Um einen klaren Kopf zu bekommen.« »Zu spat dafur, Paulie, dein Kopf wird nie wieder klar werden.« Er quetschte mein dunnes Altmannerhandgelenk wieder, dass ich glaubte, das Knirschen der Knochen zu horen, und dabei irrte sein Blick hin und her, und er vergewisserte sich, dass er sicher war.
Brad machte es nichts aus, gegen die Vorschriften zu versto?en; er hatte nur Angst davor, dabei
»Lass mich los«, sagte ich und bemuhte mich, nicht weinerlich zu klingen. Nicht nur aus Stolz. Ich dachte mir, das Weinerliche in meiner Stimme wurde ihn reizen - wie der Geruch von Schwei? manchmal einen Hund zum Zubei?en reizt der sonst nur knurren wurde. Das brachte mich auf den Gedanken an einen Reporter, der uber John Coffeys Prozess berichtet hatte. Der Reporter war ein schrecklicher Mann namens Hammersmith, und das Schrecklichste an ihm war, dass er nicht gewusst hatte, wie schrecklich er war.
Anstatt mich loszulassen, quetschte Brad Dolan wieder mein Handgelenk. Ich stohnte auf. Ich wollte es nicht, aber ich konnte nichts dafur. Der Schmerz stach bis zu meinen Fu?knocheln hinab. »Was treibst du dort auf dem Pfad, Paulie? Sag's mir.«
»Nichts!« sagte ich. Ich heulte nicht noch nicht aber ich befurchtete, dass ich es bald tun wurde, wenn er mir weiter so zusetzte. »Nichts, ich gehe nur spazieren, ich spaziere gern, lass mich los!«
Das tat er, aber nur, um meine andere Hand zu packen. Die war zur Faust geballt »Mach auf«, sagte er. »Lass Papa sehen, was du da hast.«
Ich zeigte ihm die Handflache, und als er sah, was darauf lag, grunzte er angewidert. Es war muder Rest meiner zweiten Scheibe Toast. Ich hatte die rechte Hand zur Faust geballt, als er mein linkes Handgelenk