Fotos beweisen? Dass Wharton ziemlich lange zum Zuge kam, bevor jemand ihn zuruckrei?en konnte,
obwohl du gleich neben ihm gestanden hast auf Whartons ungedeckter Seite. Du musstest einige
harte Fragen beantworten, nicht wahr? Und so eine Sache kann einem ziemlich lange anhangen.
Moglicherweise noch lange, nachdem der Onkel nicht mehr Gouverneur ist sondern daheim auf der
Veranda Pfefferminztee trinkt. Eine Personalakte kann machtig interessant sein, und viele Leute
konnen sie sich im Laufe eines Lebens anschauen.«
Percys Blick zuckte misstrauisch zwischen uns hin und her. Mit der linken Hand glattete er sein Haar.
Er sagte nichts, aber ich dachte mir, dass wir ihn fast soweit hatten.
»Na, komm schon, lass uns damit aufhoren«, sagte ich. »Du willst so wenig hier bleiben, wie wir dich
hier haben wollen, ist es nicht so?«
»Ich hasse es hier!« stie? er hervor. »Ich hasse die Art und Weise, wie ihr mich behandelt. Ich hasse
es, dass ihr mir nie eine Chance gebt!«
Das war weit von der Wahrheit entfernt aber ich sagte mir, dass dies nicht der Zeitpunkt war, das
richtig zu stellen.
»Aber ich mag mich auch nicht unter Druck setzen lassen.
Mein Daddy hat mich gelehrt, wenn man einmal nachgibt dann wird man wahrscheinlich sein ganzes Leben lang herumgeschubst werden.« Seine Augen, nicht ganz so hubsch wie seine Hande, aber fast, blitzten. »Und besonders hasse ich es, von gro?en Affen wie diesem Kerl herumgeschubst zu werden.« Er starrte meinen alten Freund an und stie? einen Grunzlaut aus. »Brutal - du hast wenigstens den richtigen Spitznamen.«
»Du musst etwas begreifen, Percy«, sagte ich. »Wir sehen es so, dass du uns herumschubst. Wir sagen dir standig, wie wir die Dinge hier handhaben, und du scherst dich einen Dreck darum und versteckst dich hinter deinen politischen Verbindungen, wenn etwas deinetwegen in die Hosen geht. Delacroix' Maus totzutrampeln -«, ich fing Brutals Blick auf und korrigierte mich hastig, »- der
Er dachte daruber nach. Und nach einer Weile nahmen seine Augen einen Ausdruck an wie bei Leuten, die soeben auf eine gute Idee gekommen sind. Das gefiel mir nicht, denn jede Idee, die Percy fur gut hielt wurden wir fur schlecht halten.
»Denk daran, wie schon es sein wird, von diesem Eitersack Wharton wegzukommen«, sagte Brutal. Percy nickte, und ich lie? ihn vom elektrischen Stuhl aufstehen. Er strich sein Uniformhemd zurecht steckte es hinten in den Hosenbund und 11 ihr sich mit dem Kamm durch sein Haar. Dann schaute er uns an.
»Okay, ich bin einverstanden. Ich leite morgen die Hinrichtung von Del. Und am nachsten Tag lasse ich mich nach Briar Ridge versetzen. Wir sind dann quitt In Ordnung?«
»In Ordnung«, sagte ich. Dieser Ausdruck war noch immer in seinen Augen, aber im Moment war ich zu erleichtert, um mir etwas daraus zu machen. Er streckte mir die Hand hin. »Schlagst du ein?« Ich tat es. Brutal ebenfalls. Wir Narren.
4
Der nachste Tag war der schwulste und der letzte mit unserer merkwurdigen Oktoberhitze. Donner
grollte, als ich zur Arbeit kam, und dunkle Wolken ballten sich im Westen. Sie naherten sich im Laufe
des Abends, und wir sahen blauwei?e Blitze aus ihnen zucken. Gegen zehn Uhr abends tobte ein
Tornado im Trapingus County - vier Leute kamen dabei ums Leben, und das Dach des Mietstalls in
Tefton wurde abgehoben -, und es gab heftige Gewitter und orkanartige Sturme in Cold Mountain.
Spater kam es mir vor, als ob der Himmel gegen den schlimmen Tod von Eduard Delacroix protestiert
hatte.
Am Anfang lief alles prima. Del hatte einen ruhigen Tag in seiner Zelle verbracht und manchmal mit
Mr. Jingles gespielt, jedoch uberwiegend einfach auf seiner Pritsche gelegen und ihn gestreichelt.
Wharton versuchte ein paar Mal, Krawall zu machen - einmal brullte er zu Del hinuber, dass es
Mausi-Burgers geben wurde, wenn der alte Franzose in der Holle Quickstep tanzte -, doch der kleine
Cajun antwortete nicht, und Wharton sagte sich anscheinend, dass er nichts erreichen konnte, und
gab auf.
Um Viertel nach zehn tauchte Bruder Schuster auf und erfreute uns alle mit seiner Ankundigung, er
werde das Vaterunser mit Del in Cajun-Franzosisch beten. Das schien ein gutes Omen zu sein.
In diesem Punkt irrten wir uns naturlich alle.
Die Zeugen trafen gegen elf Uhr ein. Die meisten sprachen leise uber das Wetter und stellten
Spekulationen an, dass die Hinrichtung wegen eines Stromausfalls moglicherweise verschoben werden
konnte. Keiner von ihnen wusste anscheinend, dass Old Sparky mit einem Generator betrieben wurde
und die Show weitergehen wurde -es sei denn, der Generator wurde vom Blitz getroffen.
Harry war in dieser Nacht im Schaltraum, und so fungierten er, Bill Dodge und Percy Wetmore als
Platzanweiser, fuhrten die Leute zu ihren Platzen und fragten jeden, ob er ein Glas kaltes Wasser
trinken wollte. Es waren zwei Frauen anwesend: die Schwester des Madchens, das von Del
vergewaltigt und ermordet worden war, und die Mutter von einem der Brandopfer. Letztere Lady war
gro? und bleich und entschlossen. Sie sagte zu Harry Terwilliger, sie hoffe, der Mann, dessentwegen
sie gekommen war, habe Angst und wisse, dass die Feuer der Holle fur ihn geschurt waren und
Satans Teufelchen auf ihn warteten. Dann brach sie in Tranen aus und vergrub ihr Gesicht in einem
Spitzentaschentuch, das fast die Gro?e eines Kissenbezugs hatte.
Donner krachte, kaum gedampft durch das Blechdach. Die Leute blickten beklommen nach oben.
Manner, die sich unbehaglich fuhlten, weil sie mitten in der Nacht Krawatten trugen, wischten sich
uber ihre geroteten Wangen. Es war hollisch schwul in dem Lagerschuppen, der als Hinrichtungsraum
diente. Und sie blickten naturlich immer wieder zu Old Sparky. Sie mochten vielleicht fruher in der
Woche Witze uber diese Aufgabe gerissen haben, aber der Spa? war ihnen in dieser Nacht so gegen
halb zwolf vergangen. Ich habe Ihnen schon zu Anfang gesagt, dass der Spa? schnell fur die Leute
vorbei ist, die sich auf diesen Eichenstuhl setzen mussen, aber die zum Tode verurteilten Gefangenen
waren nicht die einzigen, deren Lacheln verschwand, wenn es tatsachlich soweit war.
Der elektrische Stuhl wirkte irgendwie so
abstanden, sahen aus wie Dinge, die jemand tragen muss, der an Polio leidet. Es wurde nicht viel
geredet, und als der Donner wieder drohnte und es krachte, als habe der Blitz in einen Baum
eingeschlagen, stie? die Schwester von Delacroix' Opfer einen Schrei aus. Als letzter nahm Curtis
Anderson, Direktor Moores Stellvertreter, seinen Platz bei den Zeugen ein.
Um halb zwolf ging ich zu Delacroix' Zelle, und Brutal und Dean folgten mir. Del sa? auf seiner
Pritsche, und Mr. Jingles war auf seinem Scho?. Der Kopf der Maus war zu dem Todeskandidaten
gereckt, und die kleinen schwarzen Augen schauten Dels Gesicht an. Del kraulte Mr. Jingles' Kopf
zwischen den Ohren. Gro?e Tranen rollten uber Dels Wangen, und sie waren es anscheinend, auf die
Mr. Jingles spahte. Del blickte auf, als er unsere Schritte horte. Er war sehr bleich.
Ich spurte, dass hinter mir John Coffey an der Tur seiner Zelle stand und zuschaute.
Del zuckte zusammen, als meine Schlussel klirrten, doch er streichelte weiter Mr. Jingles' Kopf,
wahrend ich aufschloss und die Tur offnete.
»'allo, Boss Edgecombe«, sagte er. »'allo, Jungs. Sag 'allo, Mr. Jingles.« Aber Mr. Jingles schaute nur
weiter wie hingerissen auf das Gesicht des fast kahlkopfigen kleinen Mannes, wie um die Quelle der
Tranen zu ergrunden.
Die farbige Spule lag ordentlich in der Corona-Zigarrenkiste, zum letzten Mal darin abgelegt, dachte
ich wehmutig.
»Eduard Delacroix, als Beamter des Strafvollzugs ...«
»Boss Edgecombe?«
Ich wollte schon die formelle Ansprache fortsetzen, doch dann uberlegte ich's mir anders. »Was ist,
Del?«