ihr alles, was sie glaubte horen zu wollen. Ungefahr in der Mitte der Geschichte brach ich heulend zusammen, was ich nicht erwartet hatte. Ich schamte mich, aber nur ein bisschen; es war Janice, verstehen Sie, und sie ma? mich nie an den Zeiten, an denen ich von dem Weg abwich, den ein Mann einhalten sollte ... den Weg, den ich jedenfalls einhalten wollte. Ein Mann mit einer guten Frau ist das glucklichste von Gottes Geschopfen, und einer ohne muss zu den unglucklichsten zahlen, denke ich; der einzige wahre Segen ihres Lebens ist, dass sie nicht wissen, wie arm sie dran sind. Ich heulte, und Janice hielt meinen Kopf gegen ihren Busen, und als mein eigenes Gewitter voruber war, fuhlte ich mich besser ... jedenfalls ein wenig. Und ich glaube, da sah ich zum ersten Mal bewusst meine Idee. Nicht den Schuh; das meine ich nicht. Der Schuh war damit verknupft, aber anders. Meine
»Komm ins Bett«, sagte meine Frau schlie?lich. »Komm mit mir ins Bett, Paul.« Das tat ich dann, und wir liebten uns, und als es voruber war, schlief sie ein. Als ich dort lag und das Grinsen des Mondes beobachtete, dachte ich an John Coffeys Worte, dass er geholfen hatte.
Und vielleicht, sagte ich mir, sind wir alle Zirkusmause, die herumlaufen und nicht ahnen, dass Gott und all seine himmlischen Heerscharen uns durch unsere Plexiglasfenster in unseren Bakelit-Hausern beobachten. Ich schlief ein wenig, als der Tag heller wurde - zwei Stunden, schatze ich, vielleicht auch drei; und ich schlief, wie ich heute hier in Georgia Pines immer schlafe und damals kaum jemals - mit kleinen Traumen. Ich schlief mit Gedanken an die Kirchen meiner Jugend ein. Die Namen wechselten je nach den Launen meiner Mutter und Schwestern, aber in Wirklichkeit waren sie alle dieselbe, alle die >Erste Provinz-Kirche. Gelobt Sei Jesus, Der Herr Ist Allmachtig. Im Schatten dieser Kirchturme tauchte der Gedanke an Bu?e so regelma?ig auf wie das Lauten der Glocke, die den Glaubigen zum Gottesdienst ruft. Nur Gott konnte Sunden vergeben, konnte und tat es, wusch sie fort mit dem Blut seines gekreuzigten Sohnes, aber veranderte nicht die Verpflichtung seiner Kinder, fur diese Sunden zu bu?en (und sogar fur ihre einfachen Fehltritte), wann immer es moglich war. Bu?e war stark; sie war der Riegel der Tur, die man vor der Vergangenheit schloss. Ich schlief ein und dachte an Bu?e, an Eduard Delacroix in Flammen, wahrend er auf dem Blitz ritt, an Melinda Moores und meinen gro?en Jungen mit den endlos weinenden Augen. Diese Gedanken bahnten sich ihren Weg in einen Traum. Darin sa? John Coffey an einem Flussufer und schrie seine unverstandliche Mondkalb Trauer hinauf in den Himmel des fruhen Sommers, wahrend auf dem anderen Ufer ein Guterzug scheinbar endlos uber eine rostige Brucke fuhr, die den Trapingus River uberspannte. Auf jedem Arm hielt der Schwarze die Leiche eines nackten blonden Madchens im Kindesalter. Seine Hande, wie riesige braune Felsen an den Enden dieser Arme, waren zu Fausten geballt. Um ihn herum zirpten Grillen, flogen Insekten. Der Tag war hei?. In meinem Traum ging ich zu dem Schwarzen, kniete mich vor ihn hin und ergriff seine Hande. Seine Fauste offneten sich und zeigten ihre Geheimnisse. In einer Hand war eine grun und rot und gelb gefarbte Garnspule. In der anderen war ein Schuh eines Gefangniswarters.
»Ich konnte nichts dafur«, sagte John Coffey. »Ich versuchte, es ungeschehen zu machen, aber es war zu spat« Und diesmal, in meinem Traum, verstand ich ihn.
8
Am Morgen um neun Uhr, wahrend ich meine dritte Tasse Kaffee auf der Veranda trank (meine Frau
sagte nichts, aber ich sah ihr Missbilligung an, als sie mir die dritte Tasse Kaffee brachte), klingelte
das Telefon. Ich ging in die Diele und nahm den Horer ab. Die Frau von der Vermittlung sagte gerade
jemandem, dass er in der Leitung bleiben sollte. Dann wunschte sie mir einen wunderschonen Tag
und schaltete sich aus der Leitung ... vermutlich. Bei Telefonistinnen in der Vermittlung konnte man
nie ganz sicher sein.
Hal Moores' Stimme erschutterte mich. Sie klang zitternd und krachzend wie die eines Achtzigjahrigen.
Mir kam in den Sinn, dass die Dinge in der vergangenen Nacht im Tunnel zum Gluck mit Curtis
Anderson klargegangen waren, dass er genauso uber Percy dachte wie wir, denn der Mann, mit dem
ich am Telefon sprach, wurde hochstwahrscheinlich nie wieder einen Tag im Gefangnis Cold Mountain
arbeiten.
»Paul, ich horte, dass es gestern Nacht Probleme gab. Ich erfuhr ebenfalls, dass unser Freund
Mr. Wetmore daran beteiligt war.«
»Kleine Schwierigkeiten«, gab ich zu, druckte den Horer fester ans Ohr und beugte mich naher an die
Sprechmuschel. »Aber der Job wurde erledigt. Das ist das Wichtige.«
»Ja, naturlich.«
»Darf ich fragen, wer es Ihnen erzahlt hat?«
dachte ich, aber ich sagte es nicht.
»Sie durfen fragen, Paul, aber weil es Sie wirklich nichts angeht werde ich meinen Mund halten. Als
ich bei meinem Buro angerufen habe, um festzustellen, ob es irgendwelche Post oder dringende
Arbeit gibt, hat man mir etwas Interessantes erzahlt«
»So?«
»Ja, anscheinend ist ein Versetzungsgesuch in meinem Postkorbchen gelandet. Percy Wetmore will so
bald wie moglich nach Briar Ridge gehen.
Nachtschicht geschrieben haben, meinen Sie nicht auch?«
»So klingt es«, pflichtete ich bei.
»Normalerweise lasse ich so etwas von Curtis erledigen, aber angesichts der ... Atmosphare in Block E
in der jungsten Zeit bat ich Hannah, es mir in der Mittagspause vorbeizubringen. Sie war so nett und
will das tun.
Ich werde das Gesuch genehmigen und noch heute Nachmittag in die Hauptstadt schicken. Ich denke,
es wird nicht langer als einen Monat dauern, bis Sie Percy zum letzten Mal sehen - von hinten, wenn
er geht. Vielleicht dauert es nicht mal einen Monat.«
Der Direktor erwartete von mir Freude uber diese Nachricht und er hatte ein Recht darauf. Er hatte
Zeit von der Pflege seiner Frau abgezweigt um eine Sache zu erledigen, die sonst vielleicht bis zu
einem halben Jahr gedauert hatte, selbst bei Percys Beziehungen.
Dennoch rutschte mein Herz in die Hose. Einen Monat! Aber vielleicht machte das so oder so nicht viel
aus. Es raumte den vollig naturlichen Wunsch aus dem Wege, zu warten und eine riskante
Unternehmung aufzuschieben, und das, woran ich jetzt dachte, war wirklich riskant. Manchmal ist es
besser in so einem Fall, ins kalte Wasser zu springen, bevor man den Mut verliert.
Wenn wir mit Percy fertig werden mussten (immer vorausgesetzt ich konnte die anderen dazu
bringen, bei meinem Wahnsinn mitzumachen - mit anderen Worten, immer vorausgesetzt dass es ein
Wir gab), konnte es genauso gut heute Nacht sein.
»Paul? Sind Sie noch da?« Moores sprach mit gesenkter Stimme, als glaubte er, jetzt mit sich selbst zu
reden. »Verdammt ich glaube, die Verbindung ist unterbrochen.«
»Nein, ich bin noch dran, Hal. Das ist eine gro?artige Nachricht«
»Ja«, stimmte er zu, und ich dachte wieder betroffen, wie alt er klang. Irgendwie dunn und schwach.
»Oh, ich wei?, was Sie denken.«
»Sie denken, dass unser junger Freund noch bei der Hinrichtung von Coffey da sein wird. Das stimmt
vielleicht - Coffey wird vor dem Thanks-giving Day dran sein, denke ich -, aber sie konnen Wetmore
wieder in den Schaltraum schicken. Keiner wird etwas dagegen haben. Er auch nicht, sollte man
annehmen.«
»Das werde ich tun«, sagte ich. »Hal, wie geht es Melinda?«
Es folgte eine lange Pause - so lang, dass ich hatte annehmen konnen,
verloren, wenn ich nicht sein Atmen gehort hatte. Als er wieder sprach, war es viel leiser.
»Es geht mit ihr bergab.«