Bergab. Dieses Wort benutzten die Alten nicht um eine sterbende Person zu beschreiben, sondern

eine, die sich vom Leben loszulosen beginnt »Die Kopfschmerzen sind wohl ein bisschen besser ... im

Moment jedenfalls ..., aber sie kann nicht ohne Hilfe gehen, kann nichts mit den Handen greifen und

halten und verliert die Kontrolle uber ihre Blase, wahrend sie schlaft ...« Es folgte wieder eine Pause,

und dann sagte Hal mit noch leiserer Stimme etwas, das ich nicht verstand, das aber wie »Sie sucht«

klang.

»Was sucht sie, Hal?« fragte ich und runzelte die Stirn. Meine Frau war auf der Turschwelle zur Diele

aufgetaucht. Sie trocknete die Hande mit einem Geschirrtuch ab und sah mich an.

»Nein«, sagte Hal Moores mit einer Stimme, die zwischen Arger und Tranen schwankte. »Sie flucht«.

»Oh.« Ich wusste immer noch nicht was er meinte, aber ich wollte nicht naher darauf eingehen.

Das brauchte ich auch nicht, denn er erklarte es von sich aus.

»Sie ist gerade noch in Ordnung, vollig normal, redet uber ihren Blumengarten oder ein Kleid, das sie

im Katalog sah, oder erzahlt vielleicht wie sie Roosevelt im Radio horte und wie wunderbar er klang,

und plotzlich, wie aus heiterem Himmel, sagt sie die schrecklichsten Dinge, die scheu?lichsten ...

Worter. Sie hebt nicht die Stimme. Ich denke, es ware fast besser, wenn sie das tate, denn dann ...

Verstehen Sie, dann ..

»Dann wurde sie nicht wie sie selbst klingen.«

»Genau das meine ich«, sagte er dankbar. »Aber sie in dieser schrecklichen Gossensprache mit

ihrer su?en Stimme zu horen . .. Entschuldigen sie, Paul.«

Seine Stimme brach, und ich horte, wie er sich rausperte. Dann sprach er weiter, mit etwas festerer

Stimme, jedoch ebenso unglucklich. »Sie will, dass Pastor Donaldson ruberkommt, und ich wei?, dass

er ein Trost fur sie ware, aber wie kann ich ihn um einen Besuch bitten? Angenommen, er sitzt bei ihr,

liest aus der Bibel, und sie beschimpft ihn mit einem obszonen Wort? Das konnte passieren. Sie tat es

gestern Abend bei mir. Sie sagte: »Gibst du mir bitte das Liberty Magazin, du Arschficker?< Paul, wo

kann sie solche Ausdrucke gehort haben? Wie kann sie diese Worter kennen?«

»Ich wei? es nicht Hal, werden Sie heute Abend zu Hause sein?«

Wenn es ihm gut ging und er sich unter Kontrolle hatte, nicht von Sorgen oder Kummer gequalt

wurde, hatte Hal Moores einen scharfen und sarkastischen Humor; seine Untergebenen furchteten

diese Seite von ihm sogar mehr als seinen Zorn oder seine Verachtung, glaube ich. Sein Sarkasmus,

fur gewohnlich ungeduldig und oftmals schroff, konnte brennen wie Saure. Ein wenig davon spritzte

jetzt auf mich. Es war unerwartet, aber im gro?en und ganzen freute ich mich daruber. Anscheinend

hatte ihn doch nicht aller Mut verlassen.

»Nein, ich werde nicht zu Hause sein«, sagte er. »Ich fuhre Melinda zum Tanz aus, wir legen eine

flotte Sohle beim Square Dance aufs Parkett und sagen dann dem Geiger, dass er ein Wichser und

Huhnerficker ist«

Ich schlug die Hand vor den Mund, um nicht zu lachen. Glucklicherweise ging der Lachreiz schnell

voruber.

»Entschuldigung«, sagte Hal. »Ich habe in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Das macht mich grantig.

Naturlich sind wir zu Hause. Warum fragen Sie?«

»Ich nehme an, es spielt keine Rolle«, sagte ich.

»Sie dachten doch nicht daran, vorbeizukommen, oder? Denn wenn Sie gestern Nacht Dienst hatten,

dann haben Sie heute Abend Dienst. Oder haben Sie mit jemandem getauscht?«

»Nein, ich habe nicht getauscht«, sagte ich. »Ich habe heute Abend Dienst«

»Es ware ohnehin keine gute Idee bei Melindas Verfassung.«

»Vielleicht nicht. Danke fur Ihre Neuigkeiten.«

»Gern geschehen. Beten Sie fur meine Melinda, Paul.«

Ich versprach es und dachte, dass ich vielleicht ein bisschen mehr tun wurde als beten. Gott hilft

denjenigen, die sich selbst helfen, wie es in der Kirche »Gelobt Sei Jesus, Der Herr Ist Allmachtig«

hei?t Ich hangte den Horer ein und schaute Janice an.

»Wie geht's Melly?« fragte sie.

»Nicht gut« Ich erzahlte ihr, was Hal mir gesagt hatte, einschlie?lich ihres Fluchens, wobei ich jedoch

die Kraftausdrucke weglie?. Ich schloss mit Hals Wort bergab, und Janice nickte traurig.

Dann musterte sie mich genauer.

»Wie denkst du daruber? Du denkst irgend etwas, vielleicht nichts Gutes. Ich sehe es dir an.«

Lugen kam nicht in Frage; so gingen wir nicht miteinander um. Ich sagte ihr nur, es sei das beste, sie

wisse es nicht, jedenfalls im Augenblick.

»Ist es ... kann es dich in Schwierigkeiten bringen?« Sie klang nicht alarmiert - mehr interessiert -,

was eines der Dinge ist die ich immer an ihr geliebt habe.

»Vielleicht«, sagte ich.

»Ist es eine gute Sache?«

»Vielleicht«, wiederholte ich. Ich hatte immer noch die Hand auf dem Telefonhorer.

»Mochtest du, dass ich dich allein lasse, wahrend du telefonierst?« fragte sie. »Dass ich ein gutes

Frauchen bin und abwasche oder bugele?«

Ich nickte. »So wurde ich es nicht formulieren, aber...«

»Haben wir Gaste beim Mittagessen, Paul?« »Ich hoffe es«, sagte ich.

9

Ich erwischte Brutal und Dean sofort, denn beide hatten Telefon. Harry hatte keins, damals jedenfalls nicht, aber ich kannte die Telefonnummer von seinem nachsten Nachbarn. Harry rief zwanzig Minuten spater zuruck sehr verlegen, weil es ein R-Gesprach war, und mit dem Versprechen, seinen Anteil zu zahlen, wenn unsere nachste Telefonrechnung kam. Ich sagte ihm, dass wir diese Eier zahlen wurden, wenn sie gelegt waren, und fragte ihn, ob er zum Mittagessen ruberkommen konnte. Brutal und Dean wurden hier sein, und Janice hatte versprochen, ihren beruhmten Krautsalat zu machen ... ganz zu schweigen von ihrem noch beruhmteren Apfelkuchen. »Ein Mittagessen, einfach so?« Harry klang skeptisch.

Ich gab zu, dass ich etwas mit ihnen besprechen wollte, uber das man am Telefon nicht reden konnte. Harry stimmte zu. Ich hangte den Horer ein, ging zum Fenster und schaute nachdenklich hinaus. Obwohl wir die Spatschicht hatten, waren durch meine Anrufe weder Brutal noch Dean geweckt worden, und Harry hatte ebenfalls nicht geklungen, als ware er eben erst aus dem Traumland gekommen. Anscheinend hatte nicht nur ich Probleme mit den Ereignissen der letzten Nacht, und angesichts der Verrucktheit, die ich im Sinn hatte, war das vielleicht gut.

Brutal, der am nachsten bei mir wohnte, traf um Viertel nach elf ein. Dean tauchte eine Viertelstunde spater auf, und Harry - schon in Dienstkleidung - kam ungefahr funfzehn Minuten nach Dean. Janice servierte uns in der Kuche Roastbeef-Sandwiches, Krautsalat und Eistee. Noch vor einem Tag hatten wir auf der Veranda gegessen und waren froh uber eine Brise gewesen, doch seit dem Gewitter war die Temperatur um gut funfzehn Grad gefallen, und ein scharfer kuhler Wind wehte von den Hugeln. »Du kannst dich gern zu uns setzen«, sagte ich zu meiner Frau.

Sie schuttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass ich wissen will, was ihr ausheckt - ich werde mir weniger

Sorgen machen, wenn ich nichts daruber wei?. Ich werde im Wohnzimmer essen. Ich habe diese

Woche Besuch von Miss Jane Austen, und sie ist eine sehr gute Gesellschaft.«

»Wer ist Jane Austen?« fragte Harry, als Janice fort war. »Eine Cousine? Von dir oder von Janice? Ist

sie hubsch?«

»Sie ist eine Schriftstellerin, du Blodmann«, sagte Brutal. »Die ist tot, praktisch seit Betsy Ross die

Sterne an die erste Flagge heftete.«

»Oh.« Harry wirkte verlegen. »Ich bin kein gro?er Leser. Ich lese hauptsachlich das Radioprogramm.«

»Was hast du vor, Paul?« fragte Dean.

»Fangen wir mit John Coffey und Mr. Jingles an.« Sie blickten mich uberrascht an, was ich erwartet

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