»Ich habe seit uber funfzehn Jahren keine Zigarette mehr geraucht«, sagte Elaine, »aber mir ist heute
danach. Ich wei? nicht, wie oft ich paffen kann, bevor der Rauchmelder dort losgeht, aber ich habe
vor, es herauszufinden.«
Ich schaute sie bewundernd an und dachte, wie sehr sie mich an meine Frau erinnerte - Jan hatte
vermutlich das gleiche getan. Elaine schaute mich an und lachelte ihr kesses Feen-Lacheln. Ich
umfasste ihren su?en langen Nacken, zog ihr Gesicht zu mir und kusste sie leicht auf den Mund.
»Ich liebe dich, Ellie«, sagte ich.
»Oh, klopf keine gro?en Spruche«, sagte sie, aber sie war erfreut, das kann ich Ihnen sagen.
»Was ist mit Chuck Howland?« fragte ich. »Wird er Schwierigkeiten bekommen?«
»Nein, denn er ist im Fernsehraum und sieht sich mit zwei Dutzend anderen Leuten
»Fall nicht und tu dir nicht weh, Frau. Ich wurde mir nie verzeihen, wenn ...«
»Oh, hor mit deinem Theater auf«, sagte sie, und diesmal kusste
klingt vielleicht lustig fur einige von Ihnen und grotesk fur die anderen, aber ich will Ihnen etwas
sagen, meine Freunde: Ulkige Liebe ist besser als uberhaupt keine.
Ich schaute ihr nach. Sie ging langsam und steif (aber sie benutzt nur an nassen Tagen einen Stock,
und dann auch nur, wenn der Schmerz furchtbar ist; das ist eine ihrer Eitelkeiten). Ich wartete. Funf
Minuten vergingen, dann zehn, und gerade als ich mir sagte, dass sie entweder den Mut verloren oder
entdeckt hatte, dass die Batterie des Rauchmelders in der Toilette leer war, legte der Feueralarm im
Westflugel mit einem lauten Schnarren los.
Ich machte mich sofort, aber langsam auf den Weg zur Kuche - es hatte keinen Sinn, mich zu beeilen,
bevor ich sicher war, dass Dolan aus dem Weg war. Eine schnatternde Schar alter Leute, die meisten
noch im Morgenrock, kam aus dem Fernsehraum (hier wird es Erholungs-Center genannt; das
grotesk), um zu sehen, was los war. Chuck Howland war darunter, wie ich mit Freude sah.
»Edgecombe!« krachzte Kent Avery, stutzte sich mit einer Hand auf seinen Spazierstock und kratzte
sich mit der anderen im Schritt seiner Pyjamahose. »Richtiger Alarm oder wieder ein Falscher? Was
meinst du?«
»Das kann man nie wissen«, erwiderte ich.
In diesem Augenblick trabten drei Pfleger vorbei, alle auf dem Weg zum Westflugel, und brullten die
Leute an der Tur des Fernsehraums an, sie sollten nach drau?en gehen und warten, bis Entwarnung
gegeben werde. Der dritte Pfleger war Brad Dolan. Er schaute mich nicht mal an, als er vorbeieilte,
was mich grenzenlos freute. Als ich weiter zur Kuche ging, kam mir in den Sinn, dass das Team Elaine
Connelly und Paul Edgecombe es vermutlich mit einem Dutzend Brad Dolans und obendrein noch
einem halben Dutzend Percy Wetmores aufnehmen konnte.
Die Koche in der Kuche raumten weiterhin das Fruhstuck ab und schenkten dem Heulen des
Feueralarms uberhaupt keine Beachtung.
«Mr. Edgecombe«, sagte George. »Ich glaube, Brad Dolan hat Sie gesucht. Sie haben ihn nur knapp
verpasst«
Zum Gluck, dachte ich. Laut sagte ich, dass ich Mr. Dolan vielleicht spater sehen wurde. Dann fragte
ich, ob etwas Toast vom Fruhstuck ubrig geblieben war.
»Gewiss«, sagte Norton, »aber der ist jetzt kalt. Sie sind heute morgen spat dran.«
»Das bin ich«, pflichtete ich ihm bei, »aber ich habe Hunger.«
»Dauert nur 'ne Minute, bis ich eine Scheibe frisch getoastet habe«, sagte George und griff nach dem
Brot.
»Nicht notig, kalt ist prima«, sagte ich, und als er mir zwei Toastscheiben gab (er sah verwirrt aus -
alle beiden Koche wirkten verwundert), eilte ich aus der Tur und fuhlte mich wie der Junge, der ich
einmal gewesen war, als ich die Schule geschwanzt und mit einem im Hemd versteckten
Marmeladenbrot in Wachspapier zum Angeln gegangen war.
Als ich die Kuche verlassen hatte, schaute ich mich schnell, reflexartig nach Dolan um, sah nichts
Beunruhigendes und eilte uber das Krocketfeld und das Putting Green und mampfte dabei eine meiner
Toastscheiben.
Ich wurde ein wenig langsamer, als ich den Schutz des Waldchens erreicht hatte, und wahrend ich
uber den Pfad ging; dachte ich an den Tag nach Eduard Delacroix' grauenvoller Hinrichtung.
Ich hatte an diesem Morgen mit Hal Moores gesprochen, und er hatte mir gesagt, dass der
Gehirntumor seiner Frau Melinda dazu gefuhrt hatte, dass sie in Fluchen und obszone Sprache
verfiel..., was meine Frau spater als Tourette-Syndrom bezeichnet hatte (eher versuchsweise; sie war
sich nicht sicher, ob es das tatsachlich war). Das Zittern seiner Stimme, gepaart mit der Erinnerung
daran, wie John Coffey sowohl meine Blaseninfektion als auch das gebrochene Ruckgrat von
Delacroix' Lieblingsmaus geheilt hatte, veranlasste mich, die Grenze zwischen dem Gedanken an eine
Tat und dem tatsachlichen Tun zu uberschreiten.
Und da war noch etwas anderes. Etwas, das mit lohn Coffeys Handen und meinem Schuh zu tun
hatte.
So hatte ich meine Kollegen angerufen, die Manner, denen ich all die Jahre vertraut hatte - Dan
Stanton, Harry Terwilliger, Brutus Howell. Sie kamen am Tag nach Delacroix' Hinrichtung zum
Mittagessen zu mir nach Hause, und sie horten mir wenigstens zu, als ich meinen Plan erlauterte.
Naturlich wussten sie alle, dass Coffey die Maus geheilt hatte. Brutal hatte es mit eigenen Augen
gesehen. So lachten sie mich nicht aus, als ihnen erklarte, dass ein anderes Wunder geschehen
konnte, wenn wir John Coffey zu Melinda Moores brachten. Es war Dean Stanton, der die
beunruhingendste Frage stellte: Was war, wenn John Coffey auf seinem Ausflug aus dem Knast
fluchtete?
»Und wenn er noch jemanden umbringt?« fragte Dean. »Ich verliere ungern meinen Job und komme
ungern hinter Gitter - ich muss Frau und Kinder ernahren -, aber ich hasse noch mehr den Gedanken,
ein weiteres totes Madchen auf dem Gewissen zu haben.«
Schweigen. Alle schauten mich an und warteten auf meine Reaktion. Ich wusste, dass sich alles
verandern wurde, wenn ich sagte, was ich auf der Zunge hatte; wir hatten einen Punkt erreicht an
dem ein Ruckzug wahrscheinlich unmoglich war.
Fur mich gab es jetzt schon kein Zuruck mehr. lch offnete den Mund und sagte:
2
»Das wird nicht passieren.«
»Wie, in Gottes Namen, kannst du dir dessen sicher sein?« fragte Dean.
Ich gab keine Antwort. Ich wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte.
Ich hatte gewusst, dass dies zur Sprache kommen wurde, naturlich war ich darauf vorbereitet, aber
ich wusste immer noch nicht, wie ich ihnen sagen konnte, was in meinem Kopf und Herzen war.
Brutal half mir.
»Du meinst, er hat es nicht getan, nicht wahr, Paul?« Er schaute mich unglaubig an. »Du meinst,
dieser gro?e Trottel ist unschuldig.«
»Ich bin mir ganz sicher, dass er unschuldig ist«, sagte ich.
»Wie kannst du das sein?«
»Dafur gibt es zwei Grunde«, sagte ich. »Einer davon ist mein Schuh.«
»Dein
beiden kleinen Madchen ermordet hat oder nicht?«
»Ich zog gestern Nacht einen meiner Schuhe aus und gab ihn Coffey«, sagte ich. »Nach der
Hinrichtung war das, als die Dinge sich ein bisschen beruhigt hatten. Ich schob den Schuh durch die
Gitterstabe, und er nahm ihn in seine gro?en Hande. Ich forderte ihn auf, die Schnursenkel