Geburtstag Anfang September im Schrank, aber dies war erst das dritte oder vierte Mal, dass ich sie

trug. »Ergreife sie.«

Und sie schob mich praktisch aus der Tur.

4

Ich trat den Dienst an diesem Abend - der sonderbarste Abend meines ganzen Lebens - um sechs Uhr

zwanzig an. Ich glaubte immer noch schwach den Geruch von verbranntem Fleisch wahrzunehmen. Es

musste eine Sinnestauschung sein - die Turen nach drau?en, sowohl vom Block als auch vom

Hinrichtungsraum, waren den gro?ten Teil des Tages geoffnet gewesen, und die vorherigen beiden

Schichten hatten dort stundenlang geschrubbt -, aber das anderte nicht, was meine Nase mir meldete,

und ich bezweifle, dass ich etwas hatte essen konnen, wenn ich nicht solche Heidenangst vor der

Nacht gehabt hatte, die vor mir lag.

Brutal kam um sechs Uhr funfundvierzig zum Block, Dean zehn Minuten spater. Ich fragte Dean, ob er

zum Krankenrevier gehen und mir ein Heizkissen fur meinen Rucken besorgen konnte, den ich

anscheinend in der Nacht uberlastet hatte, als ich geholfen hatte, Delacroix' Leiche in den Tunnel

hinunterzubringen. Dean sagte, er werde das gern tun. Ich glaube, er wollte mir zuzwinkern, aber er

hielt sich zuruck.

Harry kam drei Minuten vor sieben Uhr zum Dienst.

»Der Truck?« fragte ich.

»Wie abgesprochen.«

So weit, so gut. Es folgte einige Zeit, in der wir beim Wachpult standen, Kaffee tranken und uns

bemuhten, nicht zu erwahnen, was wir alle dachten und hofften: dass Percy zu spat kam oder

vielleicht uberhaupt nicht auftauchte. Angesichts der leidseligen Kritik wegen der Art und Weise, wie

er die Hinrichtung durchgefuhrt hatte, war das immerhin moglich.

Aber Percy hielt sich anscheinend an den alten Grundsatz, dass man gleich wieder auf das Pferd

steigen soll, das einen abgeworfen hat, denn um sechs Minuten nach sieben Uhr kam er durch die

Tur, prachtvoll in seiner blauen Uniform, mit der Waffe an einer Hufte und seinem

Hickory-Schlagstock in dem albernen handgefertigten Holster an der anderen. Er druckte seine

Stechkarte und schaute uns (mit Ausnahme von Dean, der noch nicht vom Krankenrevier

zuruckgekehrt war) Misstrauisch an. »Mein Anlasser ist kaputt«, sagte er. «Ich musste den Wagen

ankurbeln.«

»Armer Junge«, sagte Harry.

»Du hattest zu Hause bleiben und das verdammte Ding reparieren lassen sollen«, sagte Brutal kuhl.

»Wir wollen doch nicht, dass du deinen Arm uberanstrengst, nicht wahr, Jungs?«

»Ja, das hatte dir gefallen, was?« Percy grinste hohnisch, aber ich glaube, er wirkte beruhigt durch

Brutals relativ milde Erwiderung. Das war Gut. In den nachsten paar Stunden mussten wir mit ihm

zurechtkommen - nicht zu feindselig, aber auch nicht zu freundlich. Nach der vergangenen Nacht ware

ihm alles, das auch nur annahernd an Herzlichkeit herankam, verdachtig gewesen. Wir wurden seine

Wachsamkeit nicht einschlafern konnen, das war uns allen klar, doch ich sagte mir, dass wir ihn

vielleicht ein bisschen einlullen konnten, wenn wir die Dinge richtig angingen.

Es war wichtig, dass wir schnell waren, aber es war ebenfalls wichtig - fur mich jedenfalls -, dass

niemand zu Schaden kam. Nicht einmal Percy Wetmore. Dean kehrte zuruck und nickte mir unauffallig

zu.

»Percy«, sagte ich, »ich mochte, dass du in den Lagerraum gehst und den Boden aufwischst. Auch die

Treppe zum Tunnel. Dann kannst du deinen Bericht uber gestern Nacht schreiben.«

»Der sollte kreativ sein«, bemerkte Brutal, hakte die Daumen hinter seinen Gurtel und blickte zur

Decke.

»Ihr Jungs seid lustiger als ein Fick in der Kirche«, sagte Percy, aber daruber hinaus protestierte er

nicht. Er wies nicht mal auf das Offenkundige hin, namlich dass der Boden dort bereits zweimal an

diesem Tag geschrubbt worden war. Ich nehme an, er freute sich uber die Moglichkeit, von uns

fortzukommen.

Ich ging den Bericht der vorherigen Schicht durch, sah nichts, was mich anbetraf, und machte einen

Spaziergang zu Whartons Zelle. Er hockte mit angezogenen Knien und um die Schienbeine

verschrankten Handen da und schaute mich mit einem strahlenden, feindseligen Grinsen an.

»Wenn das nicht der gro?e Boss ist«, sagte er. »Lebensgro? und zweimal so hasslich. Du siehst

glucklicher als ein Schwein in knietiefer Schei?e aus, Boss Edgecombe. Deine Alte hat an deinem

Fimmel gezupft, bevor du hergefahren bist, wie?«

»Wie geht's, Kid?« fragte ich mit ruhiger Stimme, und das heiterte ihn wirklich auf. Er lie? seine Beine

los, stand auf und reckte sich. Sein Lacheln wurde breiter, und etwas von der Feindseligkeit

verschwand daraus.

»Nicht zu glauben!« sagte er. »Diesmal wei?t du meinen richtigen Namen! Was ist los, Boss

Edgecombe? Bist du krank oder was?«

Nein, nicht krank. Ich war krank, aber John Coffey hatte mich geheilt. Seine Hande wussten nicht

mehr, wie man Schnursenkel zubindet, wenn sie das je gewusst hatten, aber sie kannten andere

Tricks. Ja, ganz bestimmt.

»Mein Freund«, sagte ich, »wenn du Billy the Kid statt Wild Bill sein willst ist mir das einerlei.«

Er blies sich sichtlich auf wie einer dieser widerlichen Fische, die in sudamerikanischen Flussen leben

und einen mit den Stacheln auf dem Rucken und an den Seiten fast zu Tode stechen konnen. Ich

hatte es wahrend meiner Zeit auf der Green Mile mit vielen gefahrlichen Mannern zu tun gehabt, aber

wenige waren so absto?end wie William Wharton gewesen, der sich selbst als gro?en Outlaw

betrachtete, dessen Verhalten im Knast jedoch selten uber Pissen und Spucken durch die Gitterstabe

seiner Zelle hinausging. Bis jetzt hatten wir ihm noch nicht den ehrfurchtigen Respekt

entgegengebracht der ihm nach seiner Ansicht zustand, aber in dieser besonderen Nacht wollte ich

ihn fugsam haben. Wenn ich ihm dafur Honig ums Maul schmieren musste, wurde ich das gern tun.

»Ich habe viele Gemeinsamkeiten mit dem Kid, und das solltest du besser glauben«, sagte Wharton.

»Ich bin nicht hier, weil ich Bonbons aus einem Su?warenladen geklaut habe.« So stolz wie ein Mann,

der von der Heldenbrigade der franzosischen Fremdenlegion verpflichtet worden war, und nicht wie

jemand, der in eine Zelle gesteckt worden war, die funf lange Schritte vom elektrischen Stuhl entfernt

war. »Wo ist mein Abendessen?«

»Komm schon, Kid, im Bericht steht, dass du es um funf Uhr funfzig bekommen hast Hackbraten mit

So?e, Kartoffelbrei und Erbsen. So leicht kannst du mich nicht reinlegen.«

Er lachte breit und setzte sich wieder auf die Pritsche. »Dann stell das Radio an.« Er sprach >Radio<

aus, wie es Leute scherzhaft taten, damit es sich mit den Slangwort >Daddy-O< der funfziger Jahre

reimte. Komisch, an wie viel man sich erinnern kann, wenn die Nervenstrange so scharf gespannt

sind, dass sie fast singen.

»Vielleicht spater, gro?er Junge«, sagte ich. Ich trat von seiner Zelle zuruck und schaute den Gang

hinab. Brutal war zum fernen Ende geschlendert, wo er sich vergewisserte, dass die Tur zur

Gummizelle einfach abgeschlossen war, nicht doppelt. Ich wusste, dass sie es war, weil ich sie bereits

selbst uberpruft hatte. Spater wollten wir die Tur so schnell wie moglich offnen konnen. Es wurde

keine Zeit bleiben, das Gerumpel, das sich im Laufe der Jahre dort angesammelt hatte, zu entfernen

wie vor Whartons Ankunft; wir hatten es herausgebracht, sortiert und an anderen Platzen aufbewahrt,

kurz nachdem sich Wharton zu unserer frohlichen Band gesellt hatte. Wir hatten uns gesagt, dass die

Zelle mit den weichen Wanden oft benutzt werden wurde, bis >Billy the Kid< uber die Green Mile

spazieren wurde.

John Coffey, der fur gewohnlich zu dieser Zeit dalag, mit dem Gesicht zur Wand, die langen, klobigen

Beine uber die Kante der Pritsche baumelnd, sa? mit verschrankten Handen auf der Pritsche und

beobachtete Brutal mit einer Wachsamkeit - einem Dasein -, was untypisch fur ihn war.

Er heulte auch nicht.

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