Sie lachte daruber, und das Lachen klang silberhell in dem stinkenden Krankenzimmer. Hal war jetzt neben mir. Er atmete schnell, versuchte jedoch nicht zu storen. Als Melly lachte, stockte ihm fur einen Moment der Atem, und er packte mich mit einer seiner gro?en Hande an der Schulter. Er druckte hart genug zu, um einen blauen Flecken zu hinterlassen - ich sah ihn am nachsten Tag -, aber in diesem Augenblick spurte ich es kaum. »Wie hei?en Sie?« fragte Melinda. »John Coffey, Ma'am.« »Wie das Getrank?« »Ja, Ma'am, nur anders geschrieben.«

Sie legte sich zuruck auf ihre Kissen, aufgerichtet, aber nicht ganz sitzend, und sah ihn an. Er sa? neben ihr, schaute sie ebenfalls an, und der Lichtkreis der Lampe kreiste sie ein wie Schauspieler auf einer Buhne - der ungeschlachte schwarze Koloss im Gefangnisoverall und die kleine, sterbende wei?e Frau. Sie starrte mit leuchtender Faszination in Johns Augen. »Ma'am?«

»Ja, John Coffey?« Die Worte waren gehaucht und wehten kaum zu uns durch die ubel riechende Luft. Ich spurte, wie sich die Muskeln an meinen Armen und Beinen und am Rucken spannten. Irgendwo, weit entfernt, spurte ich, dass der Gefangnisdirektor meinen Arm druckte, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass Harry und Brutal die Arme umeinander gelegt hatten wie kleine Jungen, die sich in der Nacht verirrt hatten. Etwas wurde geschehen. Etwas Gro?es. Wir spurten es jeder auf seine Weise.

John Coffey neigte sich naher zu ihr. Die Bettfedern knarrten, das Bettzeug raschelte, und der kalt lachelnde Mond spahte durch die obere Scheibe des Schlafzimmerfensters. Coffey musterte mit blutunterlaufenen Augen Melinda Moores' eingefallenes Gesicht, das zu ihm aufblickte. »Ich sehe es«, sagte er. Er sprach nicht zu ihr - das glaube ich jedenfalls -, sondern zu sich selbst »Ich sehe es, und ich kann helfen. Halt still... Halt ganz still...«

Er neigte sich naher zu ihr und noch naher. Fur einen Moment verharrte sein gro?es Gesicht dicht vor ihr. Er hob eine Hand mit gespreizten Fingern, wie um jemandem zu sagen, dass er warten sollte ... nur warten ..., und dann senkte er wieder sein Gesicht. Seine breiten, weichen Lippen pressten sich auf ihre und zwangen sie auf. Einen Moment lang konnte ich eines ihrer Augen sehen, das an Coffey vorbei emporstarrte. Das Auge spiegelte einen Ausdruck wider, der anscheinend Uberraschung war. Dann verdeckte sein glatter, kahler Kopf die Sicht auf das Auge.

Es gab ein leises pfeifendes Gerausch, als er die Luft einsog, die tief in ihrer Lunge war. Das war alles fur ein, zwei Sekunden, und dann bewegte sich der Boden unter uns und das ganze Haus um uns.

Ich bildete mir das nicht ein; sie alle spurten es, sie alle sagten es spater. Es war eine Art

wellenartiges, dumpfes Grollen. Etwas Schweres krachte im Wohnzimmer zu Boden - die Standuhr,

wie sich nachher herausstellte. Hal Moores versuchte, sie reparieren zu lassen, doch sie ging nie

langer als eine Viertelstunde an einem Stuck.

Naher bei uns knallte es, gefolgt von Klirren, als die Glasscheibe zerbarst, durch die der Mond gespaht

hatte. Ein Bild an der Wand - ein Segelschiff auf einem der sieben Meere - fiel vom Haken und

klatschte zu Boden, wobei das Glas zerklirrte.

Ich roch etwas Hei?es und sah Rauch am Ende der wei?en Tagesdecke aufsteigen, die auf Melindas

Bett lag. Ein Stuck der Decke unten bei ihrem zitternden rechten Fu? wurde schwarz. Ich fuhlte mich

wie in einem Traum. Ich riss mich von Moores' Hand los und trat zum Nachttisch. Darauf stand ein

Glas Wasser, umgeben von drei oder vier Pillenflaschchen, die bei der Erschutterung umgefallen

waren. Ich nahm das Glas und schuttete das Wasser auf die rauchende Stelle. Es zischte.

John Coffey kusste sie weiterhin auf diese tiefe und intime Weise, atmete ein, immer wieder. Eine

Hand hatte er immer noch erhoben und ausgestreckt, und mit der anderen stutzte er auf dem Bett

sein enormes Gewicht. Die Finger waren gespreizt, und die Hand wirkte auf mich wie ein brauner

Seestern.

Plotzlich krummte sich ihr Rucken. Eine ihrer Hande drosch durch die Luft, die Finger ballten und

losten sich in einer Reihe von Krampfen. Ihre Fu?e trommelten gegen das Bett. Dann schrie etwas.

Das war wiederum nicht meine Phantasie; die anderen Manner horten es ebenso. Fur Brutal klang es

wie das Heulen eines Wolfs oder Kojoten, der mit einem Bein in einer Falle gefangen ist. Fur mich

klang es wie der Schrei eines Adlers, wie man ihn damals an stillen Morgen horen konnte, wenn sie

mit ausgebreiteten Schwingen durch dunstige Taler herabschwebten.

Drau?en lie? eine Sturmbo das Haus zum zweiten Mal erzittern - und das war merkwurdig,

wissen Sie, denn bis dahin hatte es uberhaupt keinen Sturm gegeben, nicht mal nennenswerten Wind.

John Coffey zog sich von ihr zuruck, und ich sah, dass ihr Gesicht entspannt war. Die rechte Seite

ihres Mundes hing nicht mehr hinab. Die Augen hatten wieder die normale Form, und sie wirkte zehn

Jahre junger. Er betrachtete sie sekundenlang hingerissen, und dann begann er zu husten. Er wandte

den Kopf zur Seite, damit er ihr nicht ins Gesicht hustete, verlor das Gleichgewicht (was leicht zu

verstehen war; so gro? und schwer, wie er war, hatte er nur mit einer Backe auf der Bettkante

gesessen) und ging zu Boden. Es gab genug von ihm, um das Haus ein drittes Mal erbeben zu lassen.

Er landete auf den Knien und hustete mit gesenktem Kopf wie ein Mann im letzten Stadium von

Tuberkulose.

Ich dachte: Jetzt die Insekten. Er wird sie aushusten, und wie viele werden das diesmal sein!

Aber das tat er nicht. Er hustete nur weiter; es war ein wurgendes Bellen, und er fand zwischen den

Hustenanfallen kaum Zeit fur den nachsten Atemzug.

Seine schokoladenbraune Haut wurde grau. Alarmiert ging Brutal zu ihm, lie? sich neben ihm auf ein

Knie sinken und legte einen Arm um seinen breiten, zuckenden Rucken. Als ob Brutals Bewegung den

Bann gebrochen hatte, ging Moores zum Bett seiner Frau und setzte sich dorthin, wo Coffey gesessen

hatte. Er nahm die Anwesenheit des hustenden, wurgenden Riesen anscheinend uberhaupt nicht

wahr. Obwohl Coffey zu seinen Fu?en kniete, hatte Moores nur Augen fur seine Frau, die ihn mit

klaren Augen erstaunt anschaute. Sie anzuschauen war, wie in einen Spiegel zu sehen, der zuvor

verschmutzt und jetzt saubergewischt war.

»John!« rief Brutal. »Sto? es aus! Sto? es aus, wie du es schon mal getan hast!«

John bellte weiter diesen wurgenden Husten. Seine Augen waren feucht, doch nicht von Tranen,

sondern von der Anstrengung. Speichel flog in feinem Spray von seinem Mund, aber sonst kam nichts

heraus.

Brutal schlug ihm ein paar Mal auf den Rucken und blickte dann uber die Schulter zu mir. »Er erstickt!

Was auch immer er aus ihr herausgesaugt hat, er erstickt daran!«

Ich eilte zu ihm. Bevor ich zwei Schritte zuruckgelegt hatte, rutschte John auf den Knien von mir fort

in die Ecke des Schlafzimmers, und er hustete immer noch entsetzlich und rang um jeden Atemzug. Er

lehnte die Stirn gegen die Tapete - wilde rote Rosen, die sich an einer Gartenmauer hochrankten -

und stie? einen grauenhaften, tiefen Laut aus, als versuche er, seine eigene Kehle zu erbrechen. Ich

erinnere mich, dass ich dachte, das wird die Insekten herausbringen, wenn irgend etwas das

uberhaupt bewirken kann, doch es gab nichts zu sehen. Aber sein Hustenanfall beruhigte sich

anscheinend ein bisschen.

»Alles in Ordnung, Boss«, sagte er, immer noch mit der Stirn an der Tapete mit den wilden Rosen.

Seine Augen blieben geschlossen. Ich bin mir nicht sicher, woher er wusste, dass ich da war, aber er

wusste es eindeutig. »Ehrlich, es ist alles in Ordnung mit mir. Kummern Sie sich um die Lady.«

Ich blickte ihn zweifelnd an und wandte mich dann zum Bett. Hal streichelte Melly uber die Stirn, und

ich sah daruber etwas Erstaunliches:

Etwas von dem Haar - nicht sehr viel, aber etwas - war wieder schwarz geworden.

»Was ist geschehen?« fragte Melinda ihren Mann. Wahrend ich sie anschaute, bekamen ihre Wangen

eine rotliche Farbe. Es war, als hatte sie ein Paar Rosen aus der Tapete gestohlen. »Wie komme ich

hierher? Wir wollten doch rauf zum Krankenhaus in Indianola, nicht wahr? Ein Arzt wollte

Rontgenstrahlen in meinen Kopf schie?en und Bilder von meinem Gehirn machen.«

»Pst«, sagte Hal. »Pst, Liebste, das ist alles nicht mehr wichtig.«

»Aber ich verstehe das nicht!« Sie klang fast weinerlich. »Wir haben an einem Blumenstand an der

Stra?e angehalten, du hast mir einen Strau? Mohnblumen gekauft... und dann ... bin ich hier. Es ist

dunkel! Hast du zu Abend gegessen, Hal? Warum bin ich im Gastezimmer? Bin ich gerontgt worden?«

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