Ihr Blick schweifte uber Harry hinweg, fast ohne ihn wahrzunehmen - das war der Schock, nehme ich
an -, und heftete sich auf mich. »Paul? Bin ich gerontgt worden?«
»Ja«, sagte ich. »Alles in Ordnung.«
»Haben sie keinen Tumor gefunden?«
»Nein, sie haben keinen gefunden«, sagte ich. »Sie sagen, die Kopfschmerzen werden jetzt
wahrscheinlich aufhoren.«
Neben ihr brach Hal in Tranen aus.
Sie neigte sich vor und kusste seine Schlafe. Dann schweifte ihr Blick in die Ecke. »Wer ist dieser
Neger? Warum ist er in der Ecke?«
Ich wandte den Kopf und sah, dass John versuchte, auf die Fu?e zu kommen. Brutal half ihm, und
John schaffte es mit einem letzten Ruck. Er stand mit dem Gesicht zur Wand wie ein Kind, das bose
gewesen war. Er hustete immer noch krampfhaft, aber die Krampfe schienen sich
abgeschwacht zu haben.
»John«, sagte ich. »Dreh dich um, gro?er Junge, und sieh dir diese Lady an.«
Er wandte sich langsam um. Sein Gesicht hatte immer noch die Farbe von Asche, und er wirkte zehn
Jahre alter, wie ein einst kraftiger Mann, der schlie?lich einen langen Kampf gegen die Schwindsucht
verloren hat. Johns Blick war auf seine Gefangnispantoffeln gesenkt, und er wirkte, als wunschte er
sich einen Hut, den er in den Handen drehen konnte.
»Wer sind Sie?« fragte Melinda. »Wie hei?en Sie?«
»John Coffey, Ma'am«, antwortete er, worauf sie sofort erwiderte: »Aber anders geschrieben als das
Getrank«
Hal schreckte neben ihr zusammen. Sie spurte es und tatschelte beruhigend seine Hand, ohne den
Blick von dem schwarzen Mann zu nehmen.
»Ich habe von Ihnen getraumt«, sagte sie mit leiser, erstaunt klingender Stimme. »Ich traumte, Sie
wanderten in der Dunkelheit, und ich ebenfalls. Und wir fanden einander.«
John Coffey sagte nichts.
»Wir fanden einander in der Dunkelheit«, sagte sie. »Steh auf, Hal, du quetschst mich hier fest«
Hal erhob sich und beobachtete unglaubig, wie sie die Tagesdecke zur Seite schlug.
»Melly, du kannst nicht...«
»Sei nicht albern«, sagte sie und schwang die Beine aus dem Bett »Selbstverstandlich kann ich.«
Sie strich ihr Nachthemd glatt, reckte sich und stand auf.
»Mein Gott«, wisperte Hal. »Lieber Gott im Himmel, sieh dir das an.«
Sie ging zu John Coffey. Brutal trat etwas zur Seite, von Ehrfurcht ergriffen. Sie humpelte beim ersten
Schritt, beim zweiten zog sie das rechte Bein nur etwas nach, und dann war selbst dieses leichte
Hinken verschwunden. Ich erinnerte mich, wie Brutal die bunte Spule an Delacroix gegeben und
gesagt hatte: »Wirf sie - ich will sehen, wie die Maus laufen kann.« Mr. Jingles hatte zu diesem
Zeitpunkt noch gehumpelt, aber in der nachsten Nacht in der Nacht, in der Del uber die Green Mile
zum elektrischen Stuhl ging, war wieder alles mit ihm in Ordnung gewesen.
Melly umarmte John. Coffey stand einen Moment lang da, lie? sich umarmen, und dann hob er
langsam eine Hand und streichelte uber ihren Kopf.
Das tat er mit unendlicher Sanftheit. Sein Gesicht war immer noch grau. Ich fand, er sah schrecklich
krank aus.
Sie trat von ihm fort, schaute zu ihm auf und sagte: »Danke.«
»Gern geschehen, Ma'am.«
Sie wandte sich Hal zu und ging zu ihm zuruck Er legte den Arm um sie.
»Paul ...« Das war Harry. Er tippte auf seine Armbanduhr. Es ging auf drei Uhr zu. Um halb funf
wurde es hell werden. Wenn wir vorher Coffey nach Cold Mountain zuruckbringen wollten, mussten
wir bald aufbrechen. Und ich wollte ihn zuruckbringen. Teils naturlich, weil unsere Chancen,
ungestraft davonzukommen, schlechter wurden, je langer das hier dauerte. Aber ich wollte John auch
an einem Ort haben, wo ich legitim einen Arzt fur ihn rufen konnte, wenn es notig war.
Bei seinem Anblick war es vielleicht notig.
Das Ehepaar Moores sa? Arm in Arm auf der Bettkante. Ich spielte mit dem Gedanken, Hal auf ein
privates Wort ins Wohnzimmer zu bitten, doch dann wurde mir klar, dass ich ihn bitten konnte, bis die
Kuhe heimkamen, und er trotzdem nicht von der Stelle weichen wurde.
Er war vielleicht in der Lage, den Blick von ihr zu nehmen - jedenfalls fur ein paar Sekunden -, wenn
die Sonne aufging, aber nicht jetzt.
»Hal«, sagte ich. »Wir mussen jetzt fahren.«
Er nickte, ohne mich anzusehen. Er war in die Betrachtung der Farbe ihrer Wangen, der naturlichen,
unverzerrten Linie ihrer Lippen und des neuen schwarzen Haars vertieft.
Ich klopfte ihm auf die Schulter, hart genug, um wenigstens fur einen Moment seine Aufmerksamkeit
zu erhalten.
»Hal, wir waren niemals hier.«
»Was ... ?«
»Wir waren niemals hier«, wiederholte ich. »Wir werden spater miteinander reden, aber im Augenblick
ist das alles, was Sie wissen mussen. Wir waren nie hier.«
»Ja, in Ordnung ....« Er zwang sich, mich kurz anzusehen, aber es kostete ihn Muhe, den Blick von
seiner Frau loszurei?en. »Ihr habt ihn rausgebracht. Konnt ihr ihn auch wieder reinbringen?«
»Ich glaube ja. Vielleicht. Aber wir mussen fahren.«
»Woher wussten Sie, dass er das tun kann, Paul?« Dann schuttelte er den Kopf, als ihm klar wurde,
dass dies nicht der richtige Zeitpunkt zum Reden war. »Paul... danke.«
»Danken Sie nicht mir«, sagte ich. »Danken Sie John.«
Er schaute zu John Coffey und streckte ihm die Hand hin - genau wie ich es an dem Tag getan hatte,
an dem Harry und Percy ihn in den Block gebracht hatten. »Danke. Vielen Dank«
John sah auf die Hand. Brutal stie? ihm nicht sehr feinfuhlig den Ellenbogen in die Seite. John zuckte
zusammen, ergriff die Hand und schuttelte sie. Auf und ab, wieder zur Mitte, loslassen, »Keine
Ursache«, sagte er mit heiserer Stimme. Die Stimme klang fur mich wie vorhin die von Melly, als sie in
die Hande geklatscht und John aufgefordert hatte, die Hosen runterzulassen. »Keine Ursache«, sagte
John und schuttelte dem Mann die Hand, der beim normalen Ablauf der Dinge mit dieser Hand John
Coffeys Hinrichtungsbefehl unterzeichnen wurde.
Harry tippte wieder demonstrativ auf seine Armbanduhr, diesmal noch drangender.
»Brutus?« sagte ich. »Bereit?«
»Hallo, Brutus«, sagte Melinda frohlich, als bemerke sie ihn zum ersten Mal. »Schon, Sie zu sehen.
Mochten die Gentlemen einen Tee? Mochtest du Tee, Hal? Ich kann welchen machen.« Sie erhob sich
wieder. »Ich war krank aber jetzt fuhle ich mich prima. Besser als seit Jahren.«
»Danke, Mrs. Moores, aber wir mussen jetzt gehen«, sagte Brutal.
»John muss ins Bett« Er lachelte, um zu zeigen, dass es ein Scherz war, aber sein Blick auf John war
so besorgt wie ich mich fuhlte.
»Nun, wenn Sie wirklich gehen mussen ...«
»Ja, Ma'am. Komm, John Coffey.« Brutal zupfte an Johns Arm, und John ging.
»Einen Moment noch!« Melinda entzog sich Hals Hand und lief so leichtfu?ig wie ein Madchen zu
John. Sie legte die Arme um ihn und herzte ihn noch einmal. Dann griff sie an ihren Nacken und hakte
eine dunne Kette auf. An der Kette hing ein silbernes Medaillon. Sie hielt es John hin, der
verstandnislos darauf schaute.
»Das ist der Heilige Christophorus«, sagte sie. »Ich mochte, dass Sie das Medaillon nehmen und
tragen, Mr. Coffey. Er wird Sie beschutzen. Bitte, tragen Sie es. Fur mich.«
John blickte unschlussig zu mir, und ich schaute zu Hal, der erst die Hande ausbreitete und dann
nickte.
»Nimm es, John«, sagte ich. »Es ist ein Geschenk.« John nahm die Kette mit dem Medaillon, schlang
die Kette um seinen Stiernacken und steckte das Christophorus-Medaillon in die Tasche im Latz seines