jegliches Schamgefuhl: »Komm her und fick mein Loch, du Hurensohn! Bring deine Arschloch-Freunde

mit! Sie sollen sich alle abwechseln!«

Ich schaute erschuttert zu Brutal. Ich hatte gewusst, dass sie fluchte - dass der Tumor sie irgendwie

dazu brachte -, aber das war mehr als Fluchen. Viel mehr.

»Was treibt ihr hier?« fragte Moores von neuem. Viel von seiner Entschlossenheit war verschwunden -

die zittrigen Rufe seiner Frau hatten das bewirkt »Ich verstehe das nicht. Ist das ein Ausbruch oder...«

John stellte Harry beiseite - er hob ihn einfach an und stellte ihn wieder ab - und stieg dann auf die

Veranda. Er blieb zwischen Brutal und mir stehen, so gro?, dass er uns fast beiseite und in Mellys

Stechpalmen schubste. Moores' Blick folgte ihm, wie jemand hochschielt wenn er versucht, den Wipfel

eines hohen Baums zu sehen. Und plotzlich verstand ich.

Dieser Geist der Zwietracht, der meine Gedanken durcheinander gebracht hatte wie machtige Hande,

die Sand oder Maiskorner verstreuen, war verschwunden. Ich glaubte auch zu verstehen, warum.

Harry hatte handeln konnen, wahrend Brutal und ich nur hoffnungslos und unentschlossen vor

unserem Boss gestanden hatten. Harry war bei John gewesen ..., und welcher Geist es auch immer ist

der den anderen, damonischen bekampft, er war in dieser Nacht in John. Und als John Direktor

Moores entgegentrat, war es dieser andere Geist - etwas Wei?es, so sehe ich das, etwas Wei?es -,

der die Lage in den Griff bekam. Das andere Ding verzog sich nicht aber ich spurte, dass es sich

zuruckzog wie ein Schatten in einem plotzlich starken Licht.

»Ich mochte helfen«, sagte John Coffey. Moores schaute zu ihm auf, fasziniert offenen Mundes. Ich

bezweifle, dass Hal es uberhaupt mitbekam, als Coffey ihm den Buntline Special aus der Hand nahm

und mir ubergab. Ich senkte vorsichtig den Hammer.

Spater uberprufte ich die Trommel und stellte fest, dass sie die ganze Zeit leer gewesen war.

Manchmal frage ich mich, ob Hal das gewusst hat. Unterdessen murmelte John immer noch: »Ich bin

gekommen, um ihr zu helfen. Nur um zu helfen. Das ist alles, was ich mochte.«

»Hal!« schrie Melinda aus dem Schlafzimmer. Ihre Stimme klang jetzt etwas fester, aber auch

angstlich, als hatte sich das Ding, das uns so verwirrt und entmutigt hatte, jetzt zu ihr zuruckgezogen.

»Schick sie weg, wer immer sie sind! Wir brauchen keine Vertreter mitten in der Nacht! Kein

Elektrolux! Kein Hoover! Keine franzosischen Schlupfer mit Schlitz zwischen den Beinen. Sie sollen

verschwinden. Sag ihnen, sie sollen sich verpissen, diese ... diese ...« Etwas zerklirrte - es kann ein

Wasserglas gewesen sein -, und dann begann sie zu schluchzen.

»Ich will nur helfen«, sagte John Coffey so leise, dass es kaum mehr als ein Flustern war. Er ignorierte

das Schluchzen der Frau und ihre vulgare Sprache gleicherma?en. »Nur helfen, Boss, das ist alles.«

»Das kannst du nicht«, sagte Moores. »Keiner kann das.« Es war ein Tonfall, den ich schon gehort

hatte, und nach einer Weile wurde mir klar, wie ich geklungen hatte, als ich in Coffeys Zelle

gegangen war, in jener Nacht, in der er meine Blaseninfektion geheilt hatte.

Hypnotisiert Kummer du dich um deine Angelegenheiten, und ich kummere mich um meine, hatte ich

zu Delacroix gesagt..., aber es war Coffey gewesen, der sich um meine Angelegenheiten gekummert

hatte, wie er sich jetzt um die von Hal Moores kummerte.

»Wir denken, er kann das«, sagte Brutal. »Und wir haben unsere Jobs - plus vielleicht eine Weile im

Knast - nicht riskiert, nur um herzufahren und wieder zuruckzukehren, ohne es wenigstens versucht

zu haben.«

Dazu war ich vor drei Minuten bereit gewesen. Brutal ebenfalls.

John Coffey nahm uns das Spiel aus den Handen. Er schob sich an Moores vorbei, der kraftlos eine

Hand hob, um ihn aufzuhalten (sie wischte uber Coffeys Hufte und sank hinab; ich bin uberzeugt,

dass der Riese es nicht einmal spurte), ging ins Haus und schlurfte durch die Halle, vorbei am

Wohnzimmer, der Kuche und zum Schlafzimmer jenseits davon, in dem diese schrille, nicht

wieder zu erkennende Stimme ertonte: »Bleib drau?en! Wer auch immer du bist, bleib drau?en! Ich

bin nicht angezogen, meine Titten sind frei, und uber meine Mose streicht der Wind!«

John ignorierte sie, ging einfach unerschutterlich weiter, den Kopf gesenkt, damit er keine Lampen

rammte. Sein runder, brauner Schadel glanzte, und seine Hande schwangen an den Seiten. Nach

einem Moment folgten wir ihm, ich zuerst, Brutal und Hal Seite an Seite und Harry am Schluss. Eines

war mir sonnenklar: Es war alles nicht mehr in unseren Handen, sondern in denen von John.

8

Die Frau im hinteren Schlafzimmer, die im Bett sa?, sich gegen das Kopfbrett lehnte und den Riesen, der in ihr vernebeltes Blickfeld getreten war, mit glasigen Augen anstarrte, sah uberhaupt nicht aus wie die Melly Moores, die ich seit zwanzig Jahren kannte; sie sah auch nicht aus wie die Melly Moores, die Janice und ich kurz vor Delacroix' Hinrichtung besucht hatten. Die Frau, die im Bett sa?, sah wie ein krankes Kind aus, das als Halloween- Hexe herausgeputzt war. Ihre totenbleiche Haut war ein hangender Teig von Runzeln. Sie war um das rechte Auge verzogen, als versuche sie zu zwinkern. Dieselbe Seite ihres Mundes verzog sich nach unten; ein alter gelber Eckzahn ragte uber ihre blutleere Unterlippe. Das Haar lag wie ein wilder dunner Nebel um ihren Schadel. Das Zimmer stank nach dem Stoff, den unsere Korper mit Schicklichkeit ausscheiden, wenn die Dinge richtig verlaufen. Das Nachtgeschirr bei ihrem Bett war halbvoll mit gelblichem, schmierigem Zeug. Jetzt sind wir auch noch zu spat gekommen, dachte ich entsetzt. Es war nur eine Sache von Tagen gewesen, seit sie zu erkennen gewesen war - krank aber noch sie selbst. Seither musste sich das Ding in ihrem Kopf mit erschreckender Schnelligkeit vergro?ert haben, um seine Position zu starken. Ich bezweifelte, dass John Coffey ihr jetzt noch helfen konnte.

Bei Coffeys Eintreten spiegelte ihr Gesicht Furcht und Entsetzen wider - als ob irgend etwas in ihr einen Arzt erkannte, der an es herankommen und es herausholen konnte ... oder es mit Salz bestreuen konnte, wie man es mit einem Blutegel macht, damit sich seine Saugnapfe losen. Horen Sie mir genau zu: Ich sage nicht, dass Melly Moores besessen war, und mir ist bewusst, dass all meine Wahrnehmungen in dieser Nacht zweifelhaft sein mussen, weil ich so aufgeregt und durcheinander war. Aber ich habe auch nie vollig die Moglichkeit ausgeschlossen, dass sie von einem Damon besessen war. Da war etwas in ihren Augen, sage ich Ihnen, das wie Furcht aussah. In diesem Punkt konnen Sie mir vertrauen, das ist eine Gefuhlsregung, die ich zu oft gesehen habe, um mich zu irren.

Was auch immer es war, es verschwand schnell und wurde ersetzt durch einen Ausdruck von leb­haftem, irrationalem Interesse. Dieser entsetzliche Mund zitterte und zeigte etwas, das vielleicht ein Lacheln war.

»Oh, so gro?!« rief sie. Sie klang wie ein kleines Madchen, das gerade an einer schlimmen Hals­entzundung erkrankt war. Sie zog ihre Hande - so schwammigwei? wie ihr Gesicht - unter der Bettdecke hervor und klatschte sie zusammen. »Lass die Hosen runter! Ich habe mein Leben lang von Nigger-Pimmeln gehort, aber noch nie einen gesehen!« Hinter mir stie? Moores ein leises Stohnen voller Verzweiflung aus.

John Coffey schenkte alldem keine Aufmerksamkeit. Nachdem er einen Moment lang still dagestanden hatte, wie um sie aus der Nahe zu beobachten, ging er zum Bett, das von einer einzelnen Nachttischlampe erhellt war. Die Lampe warf einen hellen Lichtkreis auf die wei?e Tagesdecke, die bis zur Halskrause ihres Nachthemds hochgezogen war. Jenseits des Bettes, im Schatten, sah ich die Chaiselongue, die eigentlich ins Wohnzimmer gehorte. Ein Teppich, ein Afghane, den Melly in glucklicheren Tagen selbst gewebt hatte, lag halb auf der Chaiselongue und halb auf dem Boden. Hier hatte Hal geschlafen - wenigstens gedost -, als wir eingetroffen waren. Als John sich ihr naherte, veranderte sich Mellys Miene ein drittes Mal. Plotzlich sah ich wieder die Melly, deren Freundlichkeit mir im Laufe der Jahre so viel bedeutet hatte und Janice sogar noch mehr, nachdem die Kinder aus dem Nest ausgeflogen waren und sie sich einsam und nutzlos und traurig gefuhlt hatte. Melly schaute immer noch interessiert, aber jetzt wirkte ihr Interesse gesund, und sie wusste, was sie sagte.

»Wer sind Sie?« fragte sie mit klarer Stimme. »Und warum haben Sie so viele Narben auf den Handen und Armen? Wer hat Sie so schlimm verletzt?«

»Ich erinnere mich kaum, woher all die Narben kommen, Ma'am«, sagte John Coffey in demutigem Tonfall und setzte sich neben ihr aufs Bett.

Melinda lachelte, so gut sie konnte - die nach unten verzogene rechte Seite ihres Mundes bebte, kam jedoch nicht ganz hoch. Sie beruhrte eine wei?e Narbe auf seinem linken Handrucken, die wie ein Krummsabel gebogen war. »Welch ein Segen das ist! Verstehen Sie, warum?« »Ich nehme an, wenn man nicht wei?, wer einen verletzt oder verfolgt hat, dann liegt man des Nachts nicht wach«, sagte John Coffey in seiner Beinahe- Sudstaatenstimme.

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