wenn ich bei so etwas erwischt werde ...«

»Schon okay«, brummte Brutal. »Ich bin einfach nervos, das ist alles.«

»Ich auch«, sagte Harry steif. »Wenn jetzt die verdammte alte Kiste nur startet ...« Er ging um die

Motorhaube des Trucks herum und murmelte immer noch vor sich hin, und Brutal zwinkerte mir zu.

Fur Coffey existierten wir nicht mehr. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sog den Anblick der

Sterne auf, die am Himmel funkelten.

»Ich setze mich hinten zu ihm, wenn du willst«, bot Brutal an. Hinter uns winselte kurz der Anlasser

des Farmalls, und es klang, als versuche ein alter Hund sich an einem kalten Wintermorgen auf die

Fu?e zu qualen; dann sprang der Motor an. Harry gab einmal Gas und lie? ihn dann gemachlich

tuckern. »Nicht notig, dass wir ihn beide bewachen«, fugte Brutal hinzu.

»Steig vorne ein«, sagte ich. »Du kannst auf der Ruckfahrt mit ihm fahren. Wenn wir nicht in unserem

Gefangenentransporter landen, meine ich.«

»Sag so was nicht« Brutal schien wirklich entsetzt zu sein, als hatte er zum ersten Mal erkannt wie

ernst es fur uns werden wurde, wenn wir geschnappt wurden. »Mensch, Paul!«

»Geh und steig vorne ein«, sagte ich.

Er tat, was ich verlangte. Ich zog an John Coffeys Arm, bis ich ihn fur eine Weile wieder auf die Erde

zuruckholen konnte, und fuhrte ihn zum Heck des Trucks, dessen Ladeflache seitlich von Pfosten

begrenzt wurde. Harry hatte ein Stuck Segeltuchplane uber die Pfosten geworfen. Das wurde hilfreich

sein und etwas Sichtschutz geben, wenn wir Wagen uberholten oder uns welche aus der anderen

Richtung passierten. Das offene Heck hatte er jedoch nicht verhullen konnen.

»Hopplahopp, gro?er Junge«, sagte ich. »Machen wir jetzt unsere Spazierfahrt?« »Richtig.«

»Gut.« Er lachelte. Es war su? und lieb, dieses Lacheln, vielleicht um so mehr, weil es nicht durch viel

Denken kompliziert wurde. Er stieg hinten auf. Ich folgte ihm, ging auf der Ladeflache vor und klopfte

auf das Dach des Fuhrerhauses. Harry legte den ersten Gang ein, und der Truck rollte ruttelnd und

schuttelnd aus der kleinen Laube, in der Harry ihn versteckt hatte.

John Coffey stand breitbeinig mitten auf der Ladeflache, blickte wieder zu den Sternen, lachelte breit

und nahm nicht die Aste und Zweige wahr, die ihn peitschten, als Harry den Truck zum Highway

lenkte. »Sieh mal, Boss«, sagte er leise und entzuckt und wies in das Schwarz der Nacht hinauf. »Es

ist Cassie, die Lady in dem Schaukelstuhl!«

Er hatte recht. Ich konnte sie in der Sternenstra?e zwischen den Wipfeln der Baume sehen, an denen

wir vorbeifuhren. Aber es war nicht das Sternbild Kassiopeia, an das ich gedacht hatte, als er von der

Lady in dem Schaukelstuhl gesprochen hatte; ich dachte an Melinda Moores.

»Ich sehe sie, John«, sagte ich und zog an seinem Arm. »Aber du musst dich jetzt setzen, okay?« Er

setzte sich mit dem Rucken gegen das Fuhrerhaus und nahm nicht den Blick vom Nachthimmel. Sein

Gesicht spiegelte volliges gedankenloses Gluck wider. Die Green Mile blieb mit jeder Umdrehung der

alten Reifen des Farmalls weiter zuruck, und furs erste war John Coffeys scheinbar endloser

Tranenstrom versiegt.

z

Bis zu Hal Moores' Haus auf dem Chimney Ridge waren es funfundzwanzig Meilen, und mit Harry Terwilligers langsamem und klapprigem Truck dauerte die Fahrt uber eine Stunde. Es war eine unheimliche Fahrt, und obwohl es fur mich jetzt den Anschein hat, dass ich jeden Moment immer noch in Erinnerung habe - jede Biegung, jedes Schlagloch, jeden kritischen Augenblick (zwei waren es), wenn uns Wagen aus der anderen Fahrtrichtung passierten -, bezweifle ich, dass ich auch nur annahernd beschreiben kann, wie ich mich fuhlte, als ich auf dem Truck mit John Coffey sa?, wir beide wie Indianer in die alten Decken gehullt die Harry vorsorglich mitgebracht hatte. Es war hauptsachlich ein Gefuhl der Verlorenheit - der tiefe und schreckliche Schmerz, den ein Kind empfindet, wenn es erkennt dass es sich verirrt hat wenn alles ringsum fremd ist und es nicht mehr wei?, wie es den Heimweg findet. Ich war da drau?en in der Nacht mit einem Haftling - nicht nur mit irgendeinem, sondern mit einem, der wegen der Ermordung zweier kleiner Madchen zum Tode verurteilt worden war. Dass ich ihn fur unschuldig hielt wurde nicht zahlen, wenn wir geschnappt wurden; wir wurden selbst ins Gefangnis wandern, und Dean Stanton vielleicht ebenfalls. Ich hatte wegen einer schlimmen Hinrichtung ein Leben der Arbeit und Uberzeugung uber den Haufen geworfen - und weil ich glaubte, der riesige Trottel, der neben mir sa?, konnte vielleicht den inoperablen Gehirntumor einer Frau heilen. Als ich jedoch John zu den Sternen blicken sah, erkannte ich besturzt, dass ich das nicht langer glaubte, wenn ich es jemals wirklich geglaubt harte; meine Blaseninfektion war jetzt langst vergessen und unbedeutend, wie solche harten und schmerzhaften Dinge stets in der Erinnerung verblassen, wenn sie Vergangenheit sind (meine Mutter sagte einmal, wenn eine Frau sich wirklich erinnern konnte, wie schlimm die Schmerzen bei der Geburt ihres ersten Babys gewesen waren, dann wurde sie nie ein zweites haben). Und was Mr. Jingles anbetraf, war es nicht moglich und sogar wahrscheinlich, dass Percy die Maus gar nicht so schwer verletzt hatte, wie wir gedacht hatten? Oder dass John - der wirklich eine Art hypnotische Kraft hatte, wenigstens das bezweifelte ich nicht - uns irgendwie getauscht hatte, so dass wir uns einbildeten, etwas gesehen zu haben, was uberhaupt nicht geschehen war? Dann war da die Sache mit Hal Moores. An dem Tag, an dem ich ihn in seinem Buro uberrascht hatte, war er ein zittriger, weinerlicher alter Mann gewesen. Aber ich bezweifelte, dass das die wahre Seite des Direktors war. Ich dachte, der wahre Gefangnisdirektor Moores war der Mann, der einst einem Haftling, der ihn zu erstechen versucht hatte, das Handgelenk gebrochen hatte; der Mann, der zynisch darauf hingewiesen hatte, dass Delacroix' Eier gebraten wurden, ganz gleich, wer die Hinrichtung leitete. Dachte ich tatsachlich, dass Hal Moores demutig zur Seite treten und uns einen verurteilten Kindermorder ins Haus bringen lassen wurde, damit der seiner Frau die Hande auflegte? Meine Zweifel wuchsen wahrend der Fahrt. Ich verstand einfach nicht, warum ich so etwas getan hatte oder warum ich die anderen zu dieser verruckten nachtlichen Reise uberredet hatte, und ich glaubte nicht, dass wir eine Chance hatten, ungestraft davonzukommen - nicht die Chance eines Hundes im Himmel, wie die Alten zu sagen pflegten. Doch ich versuchte auch nicht, die Sache abzublasen, was ich vielleicht noch hatte tun konnen; die Dinge wurden uns erst dann endgultig aus den Handen gleiten, wenn wir bei Moores' Haus auftauchten. Etwas - ich nehme an, es waren vielleicht nur die Wellen der Verzuckung, die von dem Giganten neben mir ausgingen - hielt mich davon ab, auf das Dach des Fuhrerhauses zu hammern und Harry aufzufordern, zu wenden und zum Gefangnis zuruckzufahren, solange wir das noch konnten. Das war meine Gemutsverfassung, als wir vom Highway auf die Landstra?e 5 und von dort auf die Chimney Ridge Road abbogen. Eine Viertelstunde spater sah ich den Umriss eines Daches die Sicht auf die Sterne verdecken, da wusste ich, dass wir am Ziel waren.

Harry schaltete vom zweiten Gang in den ersten zuruck (ich glaube, er schaltete wahrend der ganzen Fahrt nur ein einziges Mal in den hochsten Gang). Der Wagen ruckte und erbebte, als furchte auch er sich vor dem, was vor uns lag.

Harry bog auf Moores' kiesbedeckten Zufahrtsweg und parkte den grummelnden Truck hinter dem schwarzen Buick des Direktors. Vor uns, ein wenig zu unserer Rechten, war das schmucke Haus in dem Stil, der Cape Cod genannt wird, wie ich annehme. Dieser Haustyp hatte in unserem Bergland vielleicht fehl am Platze wirken sollen, aber das war nicht der Fall.

Der Mond war aufgegangen, und sein Grinsen war an diesem Morgen ein bisschen breiter. In seinem Schein konnte ich den Vorgarten sehen, der stets so schon gepflegt war, aber jetzt vernachlassigt aussah. Hauptsachlich war es nur Laub, das nicht fortgeharkt worden war. Unter normalen Umstanden ware das Mellys Aufgabe gewesen, aber Melly war in diesem Herbst nicht in der Lage gewesen, mit einem Rechen zu hantieren, und sie wurde das Laub nie wieder fallen sehen. Das war die Wahrheit, und ich war so verruckt gewesen, zu denken, dieser Idiot mit dem leeren Blick konnte es andern. Vielleicht war es jedoch noch nicht zu spat, uns selbst zu retten.

Ich tat als wollte ich aufstehen, und die Decke rutschte von meinen Schultern. Ich konnte mich

vorneigen, an das Fenster auf der Fahrerseite klopfen und Harry sagen, dass wir hollisch schnell

verschwinden sollten, bevor ... John Coffey packte meinen Unterarm mit seiner gewaltigen Hand und

zog mich so muhelos hinunter, wie ich es mit einem Kleinkind getan hatte. »Sehen Sie, Boss«, sagte

er und wies hin. »Jemand ist auf.«

Ich schaute in die Richtung, in die er deutete, und mir rutschte etwas in die Hose, nicht das Herz,

aber der Magen. Hinter einem der hinteren Fenster schimmerte Licht Hochstwahrscheinlich in dem

Zimmer, in dem Melinda jetzt ihre Tage und Nachte verbrachte; sie war so wenig in der Lage, Treppen

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