»Komm schon, John, wir mussen gehen, es sei denn, du willst nicht mit dem Vierspanner fahren und
der Lady einen Korb geben«, sagte Harry und lachte wieder nervos. Er ergriff Johns anderen Arm und
zog, aber John wollte immer noch nicht mitkommen. Und dann sagte er etwas mit leiser,
traumerischer Stimme. Er sprach nicht zu mir und zu keinem von uns, aber ich habe es nie vergessen.
»Sie sind noch dort drin. Etwas von ihnen ist noch dort drin. Ich hore sie schreien.«
Harrys nervoses Lachen verstummte, und sein Lacheln hing schief auf seinem Mund wie der aus einer
Angel gerissene Fensterladen an einem verlassenen Haus. Brutal schaute mich fast entsetzt an und
wich von John Coffey zuruck. Zum zweiten Mal in weniger als funf Minuten hatte ich das Gefuhl, dass
sich das ganze Unternehmen am Rande des Zusammenbruchs befand. Diesmal war ich es, der
eingriff; als ein wenig spater ein drittes Mal eine Katastrophe drohte, wurde Harry handeln. Wir alle
bekamen in dieser Nacht unsere Chance, glauben Sie mir.
Ich schob mich zwischen John und seinen Blick auf den elektrischen Stuhl, stellte mich auf die
Zehenspitzen, um sicherzustellen, dass ich ihm die Sicht auf Old Sparky nahm.
Schnalzend schnipste ich zweimal direkt vor seinem Gesicht mit den Fingern. »Komm schon!« sagte
ich. »Geh! Du hast gesagt, dass du keine Ketten brauchst. Nun beweise es! Geh, gro?er Junge! Geh,
John Coffey! Dort hinuber! Durch diese Tur!«
Sein Blick wurde klar. »Ja, Boss.« Und Gott sei Dank setzte er sich in Bewegung.
»Schau auf die Tur, John Coffey, nur auf die Tur und auf nichts sonst«
»Ja, Boss.« John heftete den Blick gehorsam auf die Tur.
»Brutal«, sagte ich und wies hin.
Er eilte voraus, schuttelte seinen Schlusselbund aus und fand den richtigen Schlussel. John starrte
weiterhin auf die Tur zum Tunnel. Ich starrte auf John, aber aus dem Augenwinkel konnte ich sehen,
dass Harry nervose Blicke zum hei?en Stuhl warf, als hatte er ihn nie zuvor gesehen.
Wenn das stimmte, dann musste Eduard Delacroix am langsten und lautesten von allen schreien, und
ich war froh, dass ich nicht horen konnte, was John Coffey horte.
Brutal offnete die Tur. Wir stiegen die Treppe hinab, Coffey an der Spitze. Am Fu? der Treppe schaute
er bedruckt durch den Tunnel mit seiner niedrigen Backsteindecke. Er wurde am Ende des Tunnels
vom gebuckten Gehen einen steifen Hals haben, es sei denn ...
Ich zog den Leichenkarren heran. Das Laken, mit dem wir Dels Leiche verhullt hatten, war entfernt
(und vermutlich verbrannt) worden, und so war das schwarze Leder des Karrens zu sehen. »Leg dich
darauf«, forderte ich John auf. Er schaute mich zweifelnd an, und ich nickte aufmunternd. »Es wird
leichter fur dich und nicht schwerer fur uns.«
»Okay, Boss Edgecombe.« Er setzte sich auf den Karren, legte sich dann hin und schaute besorgt mit
seinen braunen Augen zu uns auf. Seine Fu?e mit den billigen Gefangnispantoffeln baumelten fast bis
zum Boden. Brutal drangte sich dazwischen und schob John Coffey durch den feuchten Tunnel, wie er
so viele andere geschoben hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der jetzige Passagier
noch atmete. Auf halbem Weg durch den Tunnel - unter dem Highway, und wir hatten die
gedampften Gerausche von Wagenmotoren gehort, wenn es zu dieser Stunde Verkehr gegeben hatte
- begann John zu lacheln.
»Das ist lustig«, sagte er. Mir kam in den Sinn, dass er die nachste Fahrt mit dem Karren nicht lustig finden wurde. Wenn er das nachste Mal mit dem Karren fuhr, wurde er uberhaupt nichts empfinden. Oder doch? Etwas von ihnen ist immer noch dort, hatte er gesagt er konnte sie schreien horen. Ich erschauerte, aber weil ich hinter den anderen ging, sahen sie es nicht »Ich hoffe, du hast an Sesam gedacht Boss«, sagte Brutal, als wir ans ferne Ende des Tunnels gelangten.
»Keine Sorge«, erwiderte ich. Sesam unterschied sich nicht von den anderen Schlusseln, die ich in jenen Tagen bei mir hatte - und ich hatte einen Haufen Schlussel, die vier Pfund schwer sein mussten
- aber es war der Hauptschlussel aller Hauptschlussel, der alles offnete. Es gab in jenen Tagen einen Sesam fur jeden der funf Zellenblocks, und jeder war in der Obhut des Chefwarters des Blocks. Andere Warter konnten den Schlussel ausleihen, aber nur der Chefwarter brauchte nicht dafur zu unterschreiben.
Am Ende des Tunnels befand sich ein Stahltor. Es erinnerte mich immer an Bilder von alten Burgen, die ich gesehen hatte; an die alten Tage, an denen Ritter kuhn waren und das Rittertum bluhte. Aber Cold Mountain war weit von Camelot entfernt. Hinter diesem Tor fuhrte eine Treppe hinauf zu einer unauffalligen Art Schott mit Schildern BETRETEN VERBOTEN, STAATSBESITZ und HOCHSPANNUNG auf der Au?enseite.
Ich schloss das Tor auf, und Harry offnete es weit. Wir stiegen hinauf, John Coffey wieder an der Spitze und mit hangenden Schultern und gesenktem Kopf. Oben zwangte sich Harry an ihm vorbei (nicht ohne Schwierigkeiten, obwohl er der Schlankste von uns war) und schloss das Schott auf. Es war schwer. Er konnte es bewegen, aber nicht aufschieben.
»Das mache ich, Boss«, sagte John. Er drangte sich wieder nach vorn - presste dabei Harry mit der Hufte gegen die Wand - und zog das Schott mit einer Hand auf. Man hatte denken konnen, es ware Karton statt Stahl.
Der scharfe Wind von den Bergen, den wir jetzt die meiste Zeit bis Marz oder April haben wurden, blies uns kalte Nachtluft ins Gesicht. Laub wirbelte durch die Luft, und John Coffey fing ein Blatt mit seiner freien Hand. Ich werde nie vergessen, wie er das Blatt anschaute oder wie er es unter seiner breiten, stattlichen Nase zerdruckte, um den Duft zu riechen. »Komm«, sagte Brutal. »Gehen wir, vorwarts marsch!«
Wir stiegen hinauf. John zog das Schott zu, und Brutal schloss es ab - fur diese Tur war der Sesamschlussel nicht notig, er wurde nur zum Offnen des Tors und des Schaltkastens daneben gebraucht.
»Hande an die Seiten, wahrend du durchgehst, Gro?er«, murmelte Harry. »Beruhr nicht den Draht. Er steht unter Strom, und du willst doch nicht verbrennen, oder?«
Dann waren wir im Freien, standen in einer kleinen Gruppe neben der Stra?e (ich kann mir vorstellen, dass wir wie drei Hugel um einen Berg wirkten) und schauten hinuber zu den Mauern und Lichtern und Wachturmen der Strafvollzugsanstalt Cold Mountain. Ich konnte tatsachlich den verschwommenen Umriss eines Warters, der in seine Hande blies, in einem der Turme sehen, aber nur einen Moment lang; die Fenster in den Turmen zur Stra?e hin waren klein und unscheinbar. Dennoch mussten wir sehr, sehr leise sein. Und wenn jetzt ein Wagen uber die Stra?e kam, konnten wir gro?e Probleme bekommen. »Los jetzt«, flusterte ich. »Geh voran, Harry.«
Wir stahlen uns nordwarts in einer Schlangenlinie am Highway entlang, Harry als erster, dann John Coffey, Brutal und ich. Wir uberquerten die erste Anhohe und gingen auf der anderen Seite hinunter. Jetzt sahen wir vom Gefangnis nur noch den hellen Schein der Lichter in den Wipfeln der Baume. Und Harry fuhrte uns immer noch weiter.
»Wo hast du den Wagen geparkt?« flusterte Brutal und stie? Dampf in einem wei?en Wolkchen aus.
»In Baltimore?«
»Gleich da vorn«, erwiderte Harry, und er klang nervos und gereizt »Mach dir nicht gleich in die Hose,
Brutus.«
Aber Coffey ware glucklich gewesen, bis zum Sonnenaufgang weiterzuwandern, vielleicht sogar bis
zum nachsten Sonnenuntergang. Er schaute in alle Richtungen, wenn eine Eule schrie - nicht
angstlich, sondern erfreut, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Mir kam in den Sinn, dass er sich zwar
im Dunkel der Zelle furchtete, aber hier drau?en uberhaupt keine Angst vor der Dunkelheit hatte.
Er liebkoste die Nacht, rieb seine Sinne an ihr, wie ein Mann sein Gesicht an den Hohen und Talern
einer Frauenbrust reiben mag.
»Wir biegen hier ab«, murmelte Harry.
Ein schmaler Abzweig der Stra?e, unbefestigt, von Unkraut uberwuchert, bog nach rechts ab. Wir
folgten ihm und wanderten eine weitere Viertelmeile. Brutal fing wieder zu maulen an, als Harry
stehen blieb, zur linken Seite des Pfads ging und die abgebrochenen Kiefernzweige zu entfernen
begann, mit denen er den Wagen getarnt hatte. John und Brutal halfen ihm, und bevor ich mich an
der Arbeit beteiligen konnte, hatten sie die verbeulte Schnauze eines alten Farmall Trucks freigelegt,
und die Scheinwerfer starrten uns wie Insektenaugen an.
»Ich wollte so vorsichtig wie moglich sein, wei?t du«, sagte Harry mit dunner, scheltender Stimme.
»Das mag fur dich ein gro?er Spa? sein, Brutus Howell, aber ich komme aus einer sehr religiosen
Familie, habe Cousins, die so verdammt fromm sind, dass die Christen dagegen Heiden sind, und