»Gib mir meinen Revolver und meinen Schlagstock«, sagte er. Ich uberreichte ihm die Dinge. Er stie? die Waffe ins Holster und schob den Schlagstock in das handgefertigte Futteral. »Percy, wenn du daruber nachdenkst...«

»Oh, das habe ich vor«, sagte er und schob sich an mir vorbei. »Ich werde sehr genau daruber nachdenken. Ich fange gleich damit an. Auf dem Heimweg. Einer von euch kann am Ende der Schicht die Stechuhr fur mich drucken.« Er ging zur Tur der Gummizelle und wandte sich zu uns um. Er musterte uns mit argerlicher, verlegener Verachtung - eine todliche Mischung fur das Geheimnis, das wir Narren zu bewahren gehofft hatten. »Es sei denn naturlich, ihr wollt erklaren, warum ich den Dienst fruher beendet habe.«

Er verlie? die Zelle und schritt die Green Mile hinauf, verga? in seiner Aufregung, warum der mit grunem Linoleum ausgelegte Gang so breit war. Er hatte diesen Fehler schon einmal begangen und war davongekommen. Er wurde nicht noch einmal davonkommen. Ich folgte ihm aus der Tur und uberlegte eine Moglichkeit, wie ich ihn beruhigen konnte - ich wollte nicht, dass er Block E so verlie?, verschwitzt und aufgelost, mit dem roten Abdruck meiner Hand auf der Wange. Die anderen drei folgten mir.

Was dann geschah, spielte sich sehr schnell ab - es dauerte nicht langer als eine Minute, vielleicht sogar noch weniger. Dennoch erinnere ich mich bis zum heutigen Tage an alles - ich nehme an, weil ich Janice alles erzahlte, als ich heimkam, und es sich deshalb einpragte. Was danach geschah - das Treffen mit Curtis Anderson im Morgengrauen, die gerichtliche Untersuchung, die Pressekonferenz, die Hal Moores einberief (da war er naturlich zuruck), und schlie?lich der Untersuchungsausschuss in der Hauptstadt des Staates -, all diese Dinge verblassten im Laufe der Jahre wie so vieles in meiner Erinnerung. Aber ich erinnere mich perfekt an das, was dort auf der Green Mile passierte. Percy ging mit gesenktem Kopf auf der rechten Seite der Meile, und ich sage soviel: Kein normaler Gefangener hatte ihn erreichen konnen. Aber John Coffey war kein normaler Gefangener. John Coffey war ein Hune, und er hatte die Reichweite eines Hunen. Ich sah seinen langen braunen Arm zwischen den Gitterstaben hervorschie?en und schrie: »Vorsicht, Percy, pass auf« Percy wandte den Kopf, und seine linke Hand senkte sich auf den Schlagstock. Dann wurde er gepackt und gegen John Coffeys Zelle gerissen, und seine rechte Gesichtshalfte knallte gegen die Gitterstabe. Er stie? einen achzenden Laut aus und fuhr zu Coffey herum, wobei er den Hickory-Schlagstock hob. John war gewiss anfallig; sein Gesicht war so angestrengt zwischen zwei Gitterstabe gepresst, dass es aussah, als versuche er seinen ganzen Kopf hindurchzuschieben. Das war naturlich unmoglich, aber so sah es aus. Mit der rechten Hand umklammerte er Percys Nacken und riss Percys Kopf nach vorne. Percy schlug mit dem Stock zwischen die Gitterstabe und auf Johns Schlafe. Blut flo?, aber John schenkte ihm keine Beachtung. Er presste den Mund auf Percys Mund. Ich horte ein Zischen - wie das Aussto?en eines lange angehaltenen Atemzugs. Percy zuckte wie ein Fisch am Haken, versuchte zu entkommen, aber er hatte nie eine Chance; John umfasste mit der rechten Hand Percys Nacken und hielt ihn fest Ihre Gesichter schienen zu verschmelzen wie die Gesichter von Liebenden, die sich leidenschaftlich durch Gitterstabe kussen.

Percy schrie - der Schrei klang gedampft, wie er durch das Isolierband geklungen hatte - und wollte sich losrei?en. Einen Moment losten sich ihre Lippen ein wenig voneinander, und ich sah die schwarze, wirbelnde Woge, die aus John Coffey und in Percy Wetmore hineinflutete. Was nicht durch seinen zitternden Mund hineinging, schoss in seine Nasenlocher. Dann spannte sich die Hand um seinen Nacken, und Percy wurde wieder auf Johns Mund gezogen; war fast darauf aufgespie?t. Percys linke Hand offnete sich. Sein geliebter Schlagstock fiel auf das grune Linoleum. Er hob ihn nie wieder auf. Ich versuchte vorwartszuspringen, ich nehme an, ich tat es auch, aber meine Bewegungen kamen mir selbst lahm und unbeholfen vor. Ich griff nach meiner Waffe, doch sie war durch einen Riemen am Nussbaumgriff gesichert, und ich bekam sie zuerst nicht aus dem Holster heraus. Unter mir schien der Boden zu erzittern wie im Schlafzimmer des kleinen Hauses von Direktor Moores. Ich bin mir dessen nicht vollig sicher, aber ich glaube, dass eine der Gluhbirnen in dem Drahtgitter an der Decke zerbarst. Glassplitter regneten herab. Harry schrie uberrascht auf. Schlie?lich schaffte ich es, den Sicherheitsriemen uber dem Griff meines .38ers zu losen, aber bevor ich die Waffe aus dem Holster gezogen hatte, stie? John Percy von sich und trat in seine Zelle zuruck. John schnitt eine Grimasse, als hatte er etwas Schlechtes geschmeckt »Was hat er getan?« rief Brutal. »Was hat er getan, Paul?«

»Was auch immer er aus Melly herausgesaugt hat, das hat jetzt Percy«, sagte ich. Percy lehnte an den Gitterstaben von Delacroix' alter Zelle. Seine Augen waren weit aufgerissen und ausdruckslos -zwei Nullen. Ich naherte mich ihm vorsichtig, rechnete damit dass er hustete und wurgte, wie John es getan hatte, als er mit Melinda fertig gewesen war, aber das tat er nicht.

Zuerst stand er einfach nur da. Ich schnippte mit den Fingern vor seinen Augen. »Percy! Hey, Percy! Wach auf!«

Nichts. Brutal trat zu mir und hielt beide Hande vor Percys ausdrucksloses Gesicht »Das klappt nicht«, sagte ich.

Brutal ignorierte mich und klatschte zweimal in die Hande, direkt vor Percys Nase. Und das klappte, oder es hatte den Anschein. Seine Augenlider flatterten, und er starrte in die Runde - benommen wie jemand, der einen Schlag auf den Kopf erhalten hat und um das Bewusstsein ringt. Er schaute von Brutal zu mir. Nach all diesen Jahren bin ich immer noch ziemlich uberzeugt, dass er keinen von uns wahrnahm, aber damals dachte ich das. Ich dachte, er kame zu sich.

Er stie? sich von den Gitterstaben ab und schwankte ein bisschen. Brutal stutzte ihn. »Langsam, Junge, alles in Ordnung?«

Percy gab keine Antwort. Er schob sich an Brutal vorbei und ging zum Wachpult. Er wankte nicht, aber er hatte Schlagseite nach links.

Brutal wollte nach ihm greifen. Ich schob seine Hand beiseite. »La? ihn in Ruhe.« Hatte ich das auch gesagt wenn ich gewusst hatte, was als nachstes passieren wurde? Diese Frage habe ich mir nach dem Herbst 1932 tausendmal gestellt und nie eine Antwort darauf gefunden.

Percy legte zwolf oder vierzehn Schritte zuruck. Dann blieb er mit gesenktem Kopf stehen. Er war jetzt auf der Hohe von Wild Bill Whartons Zelle. Wharton stie? immer noch diese Sousaphon-Gerausche aus. Er verpennte die ganze Sache. Er verschlief seinen eigenen Tod, wenn ich es jetzt bedenke, womit er mehr Gluck hatte als die meisten der Manner, die hier endeten. Gewiss hatte er mehr Gluck, als er verdiente. Bevor wir wussten, was geschah, zog Percy seine Waffe, trat an die Gitterstabe von Whartons Zelle und leerte die ganze Trommel in den schlafenden Mann. Alle sechs Kugeln. Peng-peng-peng, peng-peng-peng, so schnell er abdrucken konnte. Das Krachen war in dem geschlossenen Raum ohrenbetaubend; als ich Janice die Geschichte am nachsten Morgen erzahlte, konnte ich kaum meine Stimme horen, denn es klingelte immer noch in meinen Ohren.

Wir rannten zu ihm, alle vier. Dean war als erster bei ihm - ich wei? nicht, wie er das schaffte, denn er war hinter Brutal und mir gewesen, als Coffey sich Percy geschnappt hatte - aber er schaffte es. Er packte Percys Handgelenk und wollte ihm die Waffe aus der Hand winden, aber das war nicht notig. Percy lie? sie einfach los, und sie polterte auf den Boden. Seine Augen blickten uns an, als waren sie Schlittschuhe und wir das Eis. Es gab einen leise zischenden Laut, und es roch scharf nach Ammoniak, als sich Percys Blase entleerte, und dann einen intensiveren Gestank, als er die andere Seite seiner Hose ebenfalls fullte. Sein Blick heftete sich auf eine ferne Ecke des Korridors. Es waren Augen, die nie mehr etwas in unserer realen Welt sahen, soweit ich wei?. Damals beim Beginn der Geschichte schrieb ich, dass Percy zu der Zeit, als Brutal die bunten Splitter von Mr. Jingles' Holzspule fand, in Briar Ridge war, und das war nicht gelogen. Er bekam jedoch nie das Buro mit dem Ventilator in der Ecke; er bekam auch nie geisteskranke Patienten, die er schikanieren konnte. Aber ich kann mir vorstellen, dass er wenigstens eine Einzelzelle bekam. Er hatte schlie?lich Beziehungen. Wharton lag auf der Seite mit dem Rucken zur Zellenwand. Ich konnte kaum was sehen au?er viel Blut, das den Bezug der Pritsche trankte und auf den Zementboden tropfte, aber der Leichenbeschauer sagte, Percy hatte geschossen wie Annie Oakley. Als ich mir Deans Erzahlung in Erinnerung rief, wie Percy seinen Schlagstock auf die Maus geworfen und sie nur knapp verfehlt hatte, war ich nicht sehr uberrascht. Diesmal war die Distanz kurzer gewesen, und das Ziel hatte sich nicht bewegt. Eine Kugel in den Unterleib, eine in den Bauch, eine in die Brust und drei in den Kopf.

Brutal hustete und wedelte den Pulverrauch beiseite. Ich hustete ebenfalls, hatte es jedoch bisher nicht bemerkt.

»Das war's dann«, sagte Brutal. Seine Stimme klang ruhig, aber der Ausdruck von Panik in seinen Augen war nicht zu ubersehen.

Ich schaute uber den Gang und sah John Coffey am Ende seiner Pritsche hocken. Er hatte wieder die Hande zwischen den Knien verschrankt doch der Kopf war erhoben, und er wirkte kein bisschen krank. Er nickte mir leicht zu, und ich uberraschte mich selbst - wie an dem Tag, an dem ich ihm die Hand gereicht hatte -, indem ich das

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