Weder die Indianer noch das kleine Madchen zeigten Furcht, selbst wenn Blitz und Donner wie mit einem Schlage erfolgten. Am nachsten Morgen zeigte sich ubrigens, da? verschiedene Baume in der Nahe vom Blitze getroffen und gespalten worden waren.
Die an ahnliche Unwetter auf dem Orinoco gewohnten Indianer werden davon offenbar weniger beeinflu?t, als selbst die Thiere. Ihre Nerven widerstehen einer solchen physischen und seelischen Erschutterung. Nicht ganz so erging es dem jungen Manne, und wenn dieser auch keine »eigentliche Furcht vor dem Donner« wie man sagt, hatte, so empfand er doch jene nervose Unruhe, von der so haufig auch kraftige Naturen nicht verschont bleiben.
Bis Mitternacht dauerte die Unterhaltung der Gaste des Indianers, und der Sergeant Martial hatte daran gewi? lebhaftes Interesse genommen wenn er die spanische Sprache ebenso gut verstanden hatte, wie sein Neffe.
Das von den Herren Miguel, Felipe und Varinas eingeleitete Gesprach bezog sich in der Hauptsache auf die Beschaftigung, die jedes Jahr, doch drei Monate fruher, viele Hunderte Indianer nach diesem Theil des Stromes heranzieht.
Schildkroten giebt es ja auch anderwarts an den Ufern des Orinoco, doch nirgends in so gro?en Mengen, wie auf den Sandbanken zwischen dem Rio Cabullare und dem Flecken la Urbana. Wie der Indianer erzahlte, der, mit den Gewohnheiten des Chelidonier-Geschlechts sehr vertraut, vorzuglich bewandert in der Jagd und im Fischfang - diese Worte erganzen sich hier zu einer Bedeutung - zu sein schien, tauchen die Schildkroten hier vom Februar an, man ubertreibt nicht, wenn man sagt, zu vielen Hunderttausenden auf.
Naturlich konnte der mit der naturwissenschaftlichen Classification nicht vertraute Indianer nicht angeben, zu welcher Art jene Schildkroten gehorten, die sich auf den Gelanden langs des Orinoco so ungeheuerlich vermehrt haben. Er begnugte sich damit, sie zu fangen, ganz ebenso wie die Guarahibos, die Otomacos und andre Indianerstamme, denen sich auch die Mestizen von den benachbarten Ilanos anschlossen; er sammelte die Eier der Thiere ein und bereitete daraus das gesuchte Oel auf gleich einfache Weise, wie man das aus den Oliven gewinnt. Als Aufnahmegefa? dient hier gleich das Canot, das man auf den flachen Strand zieht; darin stehen Korbe, in die man die Eier wirst; ein Stock dient noch dazu, sie zu zerbrechen, und dann flie?t deren mit Wasser vermengter Inhalt einfach in das Canot aus. Eine Stunde spater ist das Oel zur Oberflache aufgestiegen, das erhitzt man dann, um darin enthaltenes Wasser zu verdampfen und das Oel zu klaren - damit ist die Operation beendet.
»Und dieses Oel ist, wie es scheint, von vortrefflicher Art, sagte Jean, der sich in dieser Beziehung auf die Angaben seines geschatzten Fuhrers stutzte.
- Gewi?, ganz vortrefflicher Art, versicherte Herr Felipe.
- Zu welcher Familie gehoren diese Schildkroten? fragte der junge Mann.
- Zur Cinosternon-Sippe der Scorpioi'den, antwortete Herr Miguel, und diese Thiere, deren Ruckenschild fast einen Meter mi?t, erreichen haufig ein Gewicht von hundertfunfzig Pfund.«
Da Herr Varinas seine Specialkenntnisse von der Ordnung der Chelidonier noch nicht zum Besten gegeben hatte, bemerkte er, da? der richtige wissenschaftliche Name der Scorpioi'den seines Freundes Miguel Podocnemis dumerilianus laute, eine Bezeichnung, fur die sich der Indianer naturlich nicht im mindesten interessierte.
»Noch eine Frage, begann da Jean von Kermor, sich an Herrn Miguel wendend.
- Du sprichst zu viel, lieber Neffe, murmelte der Sergeant Martial, wahrend er sich den Schnurrbart drehte.
- Herr Sergeant, fragte Herr Miguel lachelnd, warum wollen Sie Ihren Neffen hindern, sich belehren zu lassen?
- Weil, nun weil er von solchen Sachen nicht mehr zu wissen braucht, als sein Onkel!
- Ja, ja, Du hast ja recht, geehrter Mentor, erwiderte der junge Mann; ich frage aber doch: konnen diese Thiere irgendwie gefahrlich werden?
- Durch ihre gro?e Zahl, ja, erklarte Herr Miguel; man wurde nicht wenig Gefahr laufen, wenn man ihnen, sobald sie so zu Hunderttausenden dahinziehen, in den Weg kame.
- Zu Hunderttausenden!
- Gewi?, Herr Jean, da man nicht weniger als funfzig Millionen Eier jahrlich nur fur die zehntausend gro?en Flaschen sammelt, die mit dem Oel aus den erbeuteten Thieren gefullt werden. Da nun jede Schildkrote etwa hundert Eier legt und, obgleich Raubthiere eine ansehnliche Menge davon vernichten, doch immer noch genug Schildkroten ubrig bleiben, um die Rasse dauernd zu erhalten, schatze ich deren Zahl auf den Sandbanken der Manteca, hier in diesem Theile des Orinoco, wenigstens auf eine Million.«
Die Berechnung des Herrn Miguel war keineswegs ubertrieben. Es sind thatsachlich Myriaden dieser Thiere, die eine unbekannte Anziehungskraft hier versammelt - hat E. Reclus gesagt - eine lebendige, langsame, aber auch unwiderstehliche Fluthwelle, die gleich einer Ueberschwemmung oder einer Lawine Alles mit sich fortrei?t.
Durch Menschen wird freilich eine ungeheure Menge der Thiere schon in deren Eiern vernichtet, und die Rasse konnte wohl einmal aussterben. Einige fruhere Fangstellen haben die Schildkroten, zum gro?en Schaden fur die Indianer, schon ganz verlassen, darunter das Uferland von Cariben, etwas unterhalb der Mundung des Meta.
Der Indianer schilderte im Laufe des Gesprachs noch einige interessante Einzelheiten von dem Verhalten der Thiere in der Legezeit. Sie ziehen dann in dem sandigen Boden lange Furchen, graben darin etwa zwei Fu? tiefe Locher auf, in die die Eier gelegt werden - das dauert von der Mitte des Marz an gegen zwanzig Tage - und bedecken schlie?lich das Loch sorgfaltig mit Sand, unter dem die Eier bald von der Sonnenwarme ausgebrutet werden.
Ohne von der erwahnten Ausbeute an Oel zu reden, fangen die Indianer auch Schildkroten selbst zu Nahrungszwecken, denn deren Fleisch wird - mit Recht - hoch geschatzt. Sie unter oder im Wasser abzufangen, ist so gut wie unmoglich. Auf den Sandbanken dagegen bemachtigt man sich ihrer, wenn sie mehr vereinzelt dahinkriechen, einfach mittelst eines Stockes, womit sie auf den Rucken umgewendet werden - fur Chelidonier eine hochst kritische Lage, da sie von selbst nicht wieder auf die Fu?e kommen konnen.
»O, es giebt auch Menschen, die ihnen darin gleichen, bemerkte Herr Varinas. Wenn diese durch Ungluck einmal gesturzt sind, konnen sie sich auch nicht wieder aufraffen.«
Eine ganz richtige Bemerkung, die in recht unverhoffter Weise das Gesprach uber die Schildkroten des Orinoco beendete.
Jetzt wendete sich Herr Miguel an den Indianer mit einer neuen Frage.
»Haben Sie vielleicht, sagte er, die beiden franzosischen Reisenden, die vor vier oder funf Wochen den Strom hinausgefahren sind, gesehen, als sie bei Buena Vista voruberkamen?«
Diese Frage interessierte, da sie Landsleute betraf, vor allem Jean von Kermor, und er wartete deshalb mit gewisser Erregung auf die Antwort des Indianers.
»Zwei Europaer?, fragte dieser.
- Ja, zwei Franzosen.
- Vor funf Wochen?, Richtig, die hab' ich gesehen, antwortete der Indianer; ihre Falca lag vierundzwanzig Stunden lang an derselben Stelle wie die Ihrige.
- Sie waren damals wohlauf?. fragte der junge Mann.
- Vollkommen. zwei tuchtige Manner in bester Laune. Der eine war ein Jager, wie ich einer sein, und besa? einen Carabiner, wie ich einen haben mochte. Jaguars und Pumas fielen in Massen von seinem Blei. O, das mu? schon sein, mit einer Waffe zu schie?en, die ihre Kugel auf funfhundert Schritt weit einer Tigerkatze oder einem Ameisenbar in den Kopf jagt!«
Das Auge des Indianers leuchtete heller auf, als er so sprach, was bei ihm, einem sichern Schutzen und leidenschaftlichen Jager, ja nicht zu verwundern war. Was konnten aber seine Kinderflinte, sein Bogen und seine Pfeile leisten gegenuber den Pracisionswaffen, die jener Franzose jedenfalls besa??
»Und sein Begleiter?. fragte Herr Miguel.
- Sein Begleiter? wiederholte der Indianer nachdenkend. Ach ja, der. das war ein Pflanzensucher. ein Krautersammler.«
Hier fugte die Indianerin noch einige Worte in der Eingebornensprache an die ihre Gaste nicht verstehen konnten, und fast gleichzeitig sagte ihr Gatte:
»Ganz recht. ich habe ihm einen Sauraustengel geschenkt, der ihm viel Vergnugen zu machen schien. eine