Zehntes Capitel
Um funf Uhr wurde es im Lager wieder munter.
Der erste, der sich erhob, war Jean. Er ging schon am Ufer des Rios auf und ab, als der Sergeant Martial, Germain Paterne und der junge Indianer, in Decken eingehullt und das Gesicht mit dem Hute bedeckt, noch ruhig schliefen.
Der Bootsmann, der seinen Posten am Uferrande hatte, machte Jacques Helloch und Valdez, auf die er eben zuging, Mittheilung von dem, was er in der Zeit seines Wachdienstes wahrgenommen hatte, und bestatigte dabei ubrigens die Aussage des Schiffers Valdez. Auch er glaubte in dem Manne, der am andern Ufer des Rio Torrida umhergeschlichen war, mit Bestimmtheit Jorres erkannt zu haben.
Zunachst empfahl Jacques Helloch beiden Mannern, von ihren Wahrnehmungen nichts verlauten zu lassen, da es ihm mindestens nutzlos erschien, die Gefahren der durch diese Begegnung verschlimmerten Sachlage vorher zu verkunden. Seiner Ansicht nach wurde es genugen, da? diese den Uebrigen bekannt wurde, wenn es sich erst nothig machte, geeignete Ma?regeln zur Sicherung der Reisegesellschaft zu treffen.
Nach reiflicher Erwagung des Fur und Wider wurde beschlossen, da? die Truppe den Marsch nach der Mission von Santa-Juana fortsetzen sollte.
Wenn Alfaniz namlich sich in der Nachbarschaft umhertrieb, wenn auf Jacques Helloch und seine Gefahrten ein Angriff geplant war, so wurde ein solcher ja wahrscheinlich ebenso erfolgen, wenn sie vorwarts gingen, als wenn sie sich zuruckwendeten.
Bei einer Umkehr nach dem Orinoco waren sie freilich durch den Rio Torrida gedeckt gewesen, da dieser nur stromaufwarts eine Ueberschreitung gestattete. Auf der andern Seite wurde jedoch auch die Quivas nichts hindern, bis zum Lagerplatz am Pic Maunoir hinunterzuziehen, und es war zu befurchten, da? man sich der Rotte auch mit Hilfe der Piroguenmannschaften nicht werde erwehren konnen.
Dagegen bot es einige Vortheile auf Santa-Juana zuzuwandern. Zunachst blieb man dabei ja auch unter dem Schutze des Rios - vorausgesetzt, da? dieser nicht irgendwo uberschreitbar war, und danach konnte man bei Gomo anfragen. Ferner naherte man sich damit dem jetzigen Ziele, ja man erreichte es vielleicht, und in der Mission von Santa-Juana war dann nichts mehr zu furchten. Diese hatte eine Bevolkerung von mehreren Hundert Guaharibos, jener Indianer, aus denen die Aufopferung eines Missionars erst Menschen gemacht hatte. Santa- Juana bot jedenfalls eine gegen alle Unternehmungen des verruchten Alfaniz vollig gesicherte Zuflucht.
Es galt also, die Mission schnellstens und um jeden Preis zu erreichen und sich demnach anzustrengen, um unter Verdoppelung der Marschetappen noch vor der nachsten Nacht dahin zu gelangen. Funfundzwanzig bis drei?ig Kilometer mu?ten doch in einem Tage zuruckgelegt werden konnen.
Jacques Helloch begab sich nach dem Lagerplatze, um den sofortigen Aufbruch vorzubereiten.
»Die da unten schlafen noch alle, Herr Helloch, sagte das junge Madchen, das jetzt auf ihn zutrat.
- Und Sie, Fraulein Jeanne, sind die erste, die wach ist! antwortete Jacques Helloch. Ich werde aber die Andern sogleich wecken, damit wir bald wieder aufbrechen konnen.
- Sie haben nichts Verdachtiges bemerkt?
- Nein. nichts. gar nichts. doch lassen Sie uns weiter wandern. Ich habe ausgerechnet, da? wir, bei Verzichtleistung auf langere Ruhepausen, wenn nicht heute Abend, so doch noch in der Nacht in Santa-Juana eintreffen konnen.
- Ach, Herr Helloch, wie drangt es mich, erst in der Mission zu sein!
- Wo ist Gomo? fragte Jacques Helloch, ihre Worte nicht weiter beachtend.
- Dort unten. nahe dem Eingang zur Hohle. Er schlaft so friedlich, der arme Junge.
- Ich mu? aber mit ihm sprechen; ich brauche einige Auskunfte, ehe wir fortgehen.
- Wollen Sie es mir uberlassen, sie einzuholen?« erbot sich Jeanne von Kermor.
Fast gleichzeitig setzte sie aber hinzu:
»Sie scheinen diesen Morgen recht besorgt zu sein, Herr Helloch. Ist irgend etwas Schlimmes vorgefallen?
- Nein. ich versichere Ihnen. Fraulein Jeanne. nein!«
Das junge Madchen wollte sich schon mit dieser Antwort nicht zufrieden geben, sie sagte sich aber, da? das Jacques wohl peinlich beruhren konnte, so ging sie also nur zu Gomo und weckte ihn vorsichtig auf.
Der Sergeant Martial streckte eben ein paarmal die Arme, stie? einige laute Hms hervor und sprang dann schnell auf die Fu?e.
Bei Germain Paterne ging das nicht so ohne Umstande ab. In seine Decke eingewickelt, den Kopf auf die Botanisiertrommel - an Stelle eines Kissens - gelehnt, schlief er wie ein Murmelthier, das bekanntlich in dem Rufe steht, der Meisterschlafer der ganzen Schopfung zu sein.
Inzwischen lie? Valdez die Sacke wieder zubinden, nachdem er ihnen die vom Abend vorher fur den heutigen Morgenimbi? zuruckgestellten Reste entnommen hatte. Als der junge Indianer munter geworden war, ging er mit Jean sogleich zu Jacques Helloch, der mit vor sich aufgeschlagener Karte neben einem flachen Felsblock stand. Die Karte zeigte die Gebiete zwischen der Sierra Parima und dem Gebirgsstock des Roraima, durch die sich der Rio hinwand.
Gomo konnte lesen und schreiben und war daher im Stande, uber die betreffende Gegend genaue Auskunft zu geben.
»Du hast doch wohl gelegentlich Karten gesehen, die ein Stuck Erde mit Land und Meer, mit Bergen und Flussen darstellen? fragte ihn Jacques Helloch.
- Ei freilich! erwiderte er. In der Schule in Santa-Juana haben wir solche gar haufig gesehen.
- Nun, so sieh Dir einmal diese hier recht aufmerksam an. Der gro?e Strom, der darauf einen Halbkreis bildet, ist der Orinoco, den Du ja kennst.
- Den ich nicht nur kenne, sondern auch liebe!
- Ja, Du bist ein braves Kind. Du liebst Deinen schonen Strom!. Siehst Du auch hier, nahe seinem Ende, diesen machtigen Berg?. Daraus kommen seine Quellen hervor.
- Die Sierra Parima, Herr Helloch, ja, das wei? ich. dort sind die Raudals, die ich mit meinem Vater oft genug hinauf und hinab gefahren bin.
- Richtig. zum Beispiel das Raudal von Salvaju.
- Und dann. hier ragt ein Pic empor.
- Der Pic Lesseps.
- Tausche Dich aber nicht; so weit sind wir mit unsern Piroguen nicht hinausgekommen.
- O nein. so weit nicht.
- Warum stellen Sie an Gomo alle diese Fragen, Herr Helloch? fragte jetzt Jeanne.
- Ich mochte uber den Verlauf des Rio Torrida aufgeklart sein, und vielleicht kann mir in dieser Beziehung Gomo die nothige Auskunft geben..«
Das junge Madchen warf einen fragenden Blick auf Jacques Helloch, der davor den Kopf senkte, jedoch sogleich in seiner Rede fortfuhr.
»Nun, Gomo, sieh, hier ist die Stelle, wo wir unsre Piroguen zuruckgelassen haben. hier, das ist der Wald, worin Deines Vaters Hutte stand. und hier ist die Mundung des Rio Torrida.
- Da. da. sagte der junge Indianer, indem er die Fingerspitze auf die Karte setzte.
- Ganz recht. genau da, Gomo. Doch jetzt pass' auf; ich werde dem Laufe des Rio in der Richtung nach Santa-Juana folgen, und Du machst mich aufmerksam, wenn ich dabei einen Fehler begehe.«
Jacques Helloch lie? nun, schrag nach Nordosten zu und indem er dem Fu?e der Sierra Parima gegen funfzig Kilometer weit nachging, den Finger uber die Landkarte gleiten. Darauf zeichnete er mit Bleistift ein Kreuz ein und sagte:
»Hier mu? die Mission doch liegen?.
- Ja wohl. eben da.
- Und der Rio Torrida flie?t von dieser Stelle aus herunter?
- Ja. ganz wie es hier angegeben ist.
- Kommt er nicht eigentlich von weiter oben her?
- Gewi?, von weiter oben; wir sind zuweilen bis da hinauf gekommen.
- Santa-Juana liegt demnach an seinem linken Ufer?