»Ich mu? die Kette bewachen.« »Was soll das hei?en?« fragte Chris.

Marek antwortete nicht. Chris horte ein Achzen und einen Schmerzensschrei. Marek war dort oben und kampfte. Chris sah zu, wie die Zugbrucke sich weiter senkte. Dann schaute er den Professor an. Aber dessen Gesicht war ausdruckslos.

Marek stellte sich neben die Treppe, die vom Dach herunterfuhrte, und hob sein Schwert. Als der erste Soldat herunterkam, totete er ihn. Er totete auch den zweiten und stie? die Leichen im Fallen mit dem Fu? beiseite, damit der Boden frei blieb. Die anderen Soldaten blieben verwirrt auf der Treppe stehen, und er horte besturztes Murmeln. Die Ketten rasselten noch. Die Zugbrucke offnete sich weiter. »Andre. Komm endlich.«

Marek sah auf den Timer. 00:01:04. Nur noch wenig mehr als eine Minute. Als er zum Fenster hinausschaute, sah er, da? die anderen nicht warteten, bis die Zugbrucke ganz unten war; sie liefen zur noch immer sinkenden au?eren Kante und sprangen von dort auf die Wiese vor dem Schlo?. Jetzt konnte er sie in der Dunkelheit kaum mehr sehen. »Andre.« Es war wieder Chris. »Andre.«

Noch ein Soldat kam die Treppe herunter, und Marek schwang sein Schwert, das funkenspruhend gegen die Winde klirrte. Mit einem Aufschrei wich der Mann zuruck und stie? dabei gegen die anderen. »Andre, lauf«, sagte Chris. »Du hast noch Zeit.« Marek wu?te, da? das stimmte. Er konnte es gerade noch schaf-fen. Wenn er jetzt losrannte, konnten die Manner die Zugbrucke nicht mehr hochziehen, bevor er darubergerannt und zu den anderen auf die Wiese gesprungen war. Er wu?te, da? sie da drau?en auf ihn warteten. Seine Freunde. Die nach Hause wollten.

Als er sich zur Treppe umdrehte, die nach unten fuhrte, fiel sein Blick auf den alten Mann, der noch immer in der Ecke kauerte. Marek fragte sich, wie es wohl war, das gesamte Leben in dieser Welt zu verbringen.

Zu lieben und zu leben, in permanenter Anspannung, immer in Gefahr,

mit Krankheit und Hunger und Tod und Metzeleien. Lebendig zu sein in dieser Welt.

»Andre, kommst du?«

»Keine Zeit mehr«, sagte Marek.

»Andre.«

Er schaute hinaus auf die Ebene und sah schnell aufeinanderfolgende Lichtblitze. Sie riefen die Maschinen. Machten sich bereit fur die Heimreise.

Die Maschinen waren da. Sie standen alle in ihren Kafigen. Kalter Rauch wehte aus den Sockeln, krauselte sich uber dem dunklen Gras. Kate sagte: »Andre, komm.«

Ein kurzes Schweigen. Und dann sagte Marek: »Ich komme nicht mit. Ich bleibe hier.«

»Andre. Du kannst nicht mehr klar denken.«

»Doch, das kann ich.«

»Meinst du das ernst?« fragte Kate.

Und dann sah sie den Professor an. Er nickte nur bedachtig.

»Sein ganzes Leben lang wollte er genau das.«

Chris steckte den Keramikmarker in den Schlitz zu seinen Fu?en.

Marek schaute vom Fenster des Wachhauses aus zu. .»He, Andre.« Es war Chris. »Mach's gut, Chris.« »Pa? auf dich auf.«

»Andre.« Kate. »Ich wei? nicht, was ich sagen soll.« »Leb wohl,

Kate.«

Dann horte er den Professor sagen: »Leb wohl, Andre.« »Leb wohl«, sagte Marek.

In seinem Ohrstopsel horte er die Stimme vom Band: »Stillhalten -Augen offen - tief einatmen - anhalten... Jetzt.«

Auf der Ebene sah er einen glei?end hellen Lichtblitz. Dann noch einen, und noch einen. Blitze, die immer schwacher wurden, bis nichts mehr da war.

Doniger ging auf der dunklen Buhne auf und ab. Im Auditorium sa?en drei Konzernchefs und sahen ihm schweigend zu. »Fruher oder spater«, sagte er, »wird die Kunstlichkeit der Unterhaltung - der permanenten, ununterbrochenen Unterhaltung -die Leute dazu bringen, da? sie Authentizitat suchen. Authentizitat wird zum Schlagwort des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und was ist authentisch? Alles, was nicht darauf ausgerichtet ist, Profit zu machen. Alles, was aus sich selbst heraus existiert und seine eigene Gestalt annimmt. Und was ist das Authentischste uberhaupt? Die Vergangenheit.

Die Vergangenheit ist eine Welt, die bereits vor Disney und Murdoch und British Telecom und Nissan und Sony und IBM und all den anderen Gestaltern unserer Gegenwart existierte. Die Vergangenheit gab es, bevor es sie gab. Die Vergangenheit entwickelte sich ohne ihre Einmischung und ihre Gestaltung. Die Vergangenheit ist echt. Sie ist authentisch. Und genau das macht die Vergangenheit unglaublich attraktiv. Weil die Vergangenheit die einzige Alternative zur korporativen Gegenwart ist.

Was werden die Leute tun? Sie tun es bereits. Das am schnellsten wachsende Segment des Reisemarktes ist der Kulturtourismus. Leute, die nicht andere Orte, sondern andere Zeiten besuchen wollen. Leute, die eintauchen wollen in mittelalterliche Wehrstadte, in riesige buddhistische Tempel, in die Pyramidenstadte der Mayas, in agyptische Nekropolen. Leute, die durch die Welt der Vergangenheit spazieren, die in ihr sein wollen. In der untergegangenen Welt. Und sie wollen nicht, da? diese Welt eine Falschung ist. Sie wollen sie nicht hergerichtet oder herausgeputzt. Sie wollen sie authen-tisch. Und wer wird diese Authentizitat garantieren? Wer wird zum Markennamen der Vergangenheit? ITC.

Ich werde Ihnen jetzt gleich«, sagte er, »unsere Plane fur diverse Statten des kulturellen Tourismus auf der ganzen Welt vorstellen. Ich mochte mich auf das Projekt in Frankreich konzentrieren, aber wir haben auch viele andere. Bei jedem dieser Projekte ubergeben wir die Statte selbst der Regierung des jeweiligen Landes. Aber in unserem Besitz bleibt das Territorium der naheren Umgebung, was bedeutet, da? uns die Hotels und Restaurants und Laden gehoren werden, der ganze Tourismusapparat also. Ganz zu schweigen von den Buchern und Filmen und Reisefuhrern und Kostumen und Spielzeugen und dem ganzen Rest. Ein Besucher gibt zehn Dollar aus, um in die Statte zu gelangen, aber funfhundert Dollar fur seine Lebensfuhrung au?erhalb davon. Und alles au?erhalb wird von uns kontrolliert.« Er lachelte. »Naturlich um dafur zu sorgen, da? es geschmackvoll gestaltet wird.« Hinter ihm wurde eine Graphik an die Wand geworfen. »Wir schatzen, da? jede Statte jahrlich uber zwei Milliarden Dollar abwerfen wird, Merchandising eingeschlossen. Wir schatzen, da? die Gesamtfirmeneinkunfte zu Beginn der zweiten Dekade des kommenden Jahrhunderts jahrlich hundert Milliarden Dollar ubersteigen werden. Das ist einer der Grunde, warum Sie bei uns investieren sollten. Der zweite Grund ist wichtiger. Unter dem Deckmantel des Tourismus erschaffen wir im Endeffekt einen neuen intellektuellen Markennamen. Solche Markennamen gibt es jetzt schon, fur Software zum Beispiel. Aber noch keinen fur Geschichte. Und doch ist die Geschichte das machtigste intellektuelle Werkzeug, das die Gesellschaft besitzt. Eins sollte uns klar sein: Die Geschichte ist keine leidenschaftslose Aufzeichnung toter Ereignisse. Noch ist sie ein Spielplatz, auf dem Wissenschaftler ihren trivialen Disputen fronen konnen. Der Zweck der Geschichte ist die Erklarung der Gegenwart — die Geschichte sagt uns, warum die Welt um uns herum so ist, wie sie ist. Sie sagt uns, was wichtig ist in unserer Welt, und wie es dazu kam. Sie sagt uns, warum die Dinge, die wir schatzen, die Dinge sind, die wir schatzen sollten. Und sie sagt uns, was wir ignorieren oder aufgeben sollten. Das ist wahre Macht - tiefgreifende Macht. Die Macht, eine ganze Gesellschaft zu gestalten.

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit — und bei dem, der die Vergangenheit kontrolliert. Eine solche Kontrolle war noch nie zuvor moglich. Jetzt ist sie es. Wir bei ITC wollen unseren Kunden helfen, die Welt zu gestalten, in der wir alle leben und arbeiten und konsumieren. Und dafur, so glaube ich, werden wir Ihre ganze und ruckhaltlose Unterstutzung erhalten.«

Es gab keinen Applaus, nur verblufftes Schweigen. So war es immer. Die Leute brauchten eine Weile, bis sie begriffen, was er meinte. »Vielen Dank fur Ihre Aufmerksamkeit«, sagte Doniger und verlie? die Buhne.

»Ich hoffe fur dich, da? es wichtig ist«, sagte Doniger. »Ich kurze so eine Sitzung nicht gerne ab.«

»Es ist wichtig«, sagte Gordon. Sie gingen den Korridor zum Transitraum entlang. »Sind sie zuruck?«

»Ja. Wir konnten die Schilde reparieren, und drei von ihnen sind zuruck.«

»Seit wann?«

»Seit ungefahr funfzehn Minuten.« »Und?«

»Sie haben viel durchgemacht.Die Frau ist ziemlich stark verletzt und mu? ins Krankenhaus.«

»Na und? Wo liegt das Problem?«

Sie gingen durch eine Tur.

»Sie wollen wissen«, sagte Gordon, »warum sie in ITCs Plane nicht eingeweiht wurden.«

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