»Nein, Professor, das stimmt absolut nicht. Ich kann Ihnen versichern —«

»Nein, Ms. Kramer, das konnen Sie nicht.« Er sah auf die Uhr. »Wann fliegt Ihre Maschine zuruck?« »Um drei Uhr.«

»Ich kann sofort aufbrechen.« Er schob seinen Stuhl zuruck. »Aber ich fliege nach New York.«

»Dann sollten Sie Ihre Plane besser andern und nach New Mexico fliegen.«

»Sie wollen doch sicher mit Mr. Doniger sprechen, und ich kenne seinen Terminplan nicht...«

»Ms. Kramer.« Er beugte sich uber den Tisch. »Arrangieren Sie es.« Als der Professor aufbrach, sagte Marek: »Moge Gott in seiner Gnade Euch auf Eurer Reise behuten und Euch sicher zuruck geleiten.« Das sagte er immer zu Freunden, die verreisten. Es war ein Lieblingsspruch des Grafen Geoffrey de la Tour gewesen - vor sechshundert Jahren.

Manche meinten, da? Mareks Begeisterung fur die Vergangenheit schon an Besessenheit grenze. Tatsachlich aber war es fur ihn etwas ganz Naturliches: Schon als Kind hatte er sich stark zum Mittelalter hingezogen gefuhlt, und in vieler Hinsicht schien er jetzt in dieser Zeit zu leben. (In einem Restaurant hatte er einem Freund einmal gestanden, er lasse sich keinen Bart wachsen, weil es nicht der Mode der Zeit entspreche. Erstaunt hatte ihm der Freund entgegengehalten: »Naturlich ist es in Mode, schau dir doch blo? die ganzen Barte hier an.« Worauf Marek erwidert hatte: »Nein, nein, ich meine, es ist in meiner Zeit nicht in Mode.« Er meinte damit das dreizehnte und vierzehnte Jahrhundert.) Viele Mediavisten konnten die alten Sprachen lesen, aber Marek konnte sie tatsachlich sprechen: Mittelenglisch, Altfranzosisch, Pro-venzalisch und Latein. Er war ein Experte fur Bekleidung und Sitten der damaligen Zeit. Und mit seiner Gro?e und seinem sportlichen Konnen hatte er es sich auch zum Ziel gesetzt, die Kriegskunste der Zeit zu erlernen. Schlie?lich war es, wie er sagte, eine Zeit immerwahrenden Krieges gewesen. Die riesigen Percherons, die damals als Schlachtrosse verwendet wurden, konnte er bereits reiten. Auch mit der Lanze war er schon einigerma?en geschickt, nachdem er stundenlang mit einer drehbaren Turnierpuppe, der sogenannten quintaine, geubt hatte. Den Langbogen beherrschte Marek so gut, da? er inzwischen die anderen unterrichtete. Und jetzt lernte er, wie man mit dem Breitschwert kampfte.

Aber Mareks detaillierte Kenntnis der Vergangenheit lie? ihn manchmal den Bezug zur Gegenwart verlieren, und so merkte er zunachst nicht, wie sehr sich die Stimmung im Camp verandert hatte. Nach der plotzlichen Abreise des Professors fuhlten sich alle Teilnehmer des Projekts verloren und unbehaglich. Wilde Geruchte machten die Runde, vor allein unter den Studenten: ITC stoppe die Finanzierung. ITC wolle aus dem Projekt ein Mittelalterland machen. ITC habe in der Wuste jemanden umgebracht und sei jetzt in Schwierigkeiten. Niemand arbeitete; die Leute standen einfach herum und unterhielten sich.

Marek beschlo? schlie?lich, eine Versammlung einzuberufen, um die Geruchte aus der Welt zu schaffen, und so rief er am fruhen Nachmittag alle unter dem gro?en grunen Zelt neben dem Lagerhaus zusammen. Marek erklarte, zwischen dem Professor und ITC habe es Meinungsverschiedenheiten gegeben, und der Professor sei in die ITCZentrale geflogen, um sie aufzuklaren. Alles sei nur ein Mi?verstandnis, das in wenigen Tagen bereinigt sei. Der Professor stehe in standigem Kontakt mit dem Projekt, fuhr Marek fort, er habe versprochen, sie alle zwolf Stunden anzurufen, und er, Marek, erwarte, da? Johnston in Kurze zuruckkommen und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen werde.

Es half nichts. Das Gefuhl tiefen Unbehagens blieb. Einige der Studenten meinten, der Nachmittag sei sowieso zu hei? zum Arbeiten und viel besser geeignet fur eine Kajakfahrt auf dem Flu?. Marek, der endlich begriff, da? Appelle nichts nutzten, lie? sie gehen. Einer nach dem anderen beschlossen auch die Doktoranden, den Rest des Tages freizunehmen. Kate tauchte mit mehreren Pfund klirrenden Metalls an ihrer Taille auf und verkundete, da? sie die Steilwand hinter Gageac ersteigen wolle. Sie fragte Chris, ob er mit ihr kommen wolle (um ihr die Seile zu halten - sie wu?te, da? er nie klettern wurde), aber er sagte, er fahre mit Marek zum Reitstall. Stern erklarte, er fahre nach Toulouse zum Abendessen. Rick Chang wollte nach Les Eyzies, um dort einen Kollegen bei einer palaolithischen Ausgrabung zu besuchen. Nur Elsie Kastner, die Graphologin, blieb in dem Lagerhaus und brutete geduldig uber ihren Dokumenten. Marek fragte sie, ob sie mit ihm kommen wolle. »Mach dich doch nicht lacherlich«, sagte sie und arbeitete weiter.

Der Reitstall au?erhalb von Souillac lag funf Kilometer entfernt, und hier trainierte Marek zweimal pro Woche. In der entfernten Ecke einer wenig benutzten Wiese hatte er ein holzernes T-Kreuz auf einem Drehstander aufgestellt. Am einen Ende der Querstange war ein wattiertes Quadrat befestigt, am anderen hing ein Ledersack, der aussah wie ein Punchingball.

Das war eine quintaine, eine Vorrichtung, die so alt war, da? Monche sie schon vor tausend Jahren an die Rander ihrer illuminierten Manuskripte gezeichnet hatten. Eine solche Zeichnung hatte Marek als Vorlage fur seine Version genommen.

Die quintaine zu bauen war ziemlich einfach gewesen; viel schwieriger war es, eine anstandige Lanze zu bekommen. Das war die Art von Problem, mit der Marek als experimenteller Historiker immer wieder zu kampfen hatte. Oft mu?te er feststellen, da? sogar die einfachsten und gebrauchlichsten Gegenstande der Vergangenheit in der modernen Welt nicht zu reproduzieren waren. Nicht einmal, wenn Geld kein Problem war, dank des ITC-Forschungsfonds.

Im Mittelalter bestanden Turnierlanzen aus gedrechselten Rundholzern von uber drei Metern Lange. Aber Rundholzer dieser Lange waren kaum mehr zu finden. Nach langer Suche hatte Marek eine spezielle Holzbearbeitungsfirma in Norditalien entdeckt, nahe der osterreichischen Grenze. Dort war man in der Lage, aus Fichtenholz Lanzen der von ihm geforderten Lange zu drechseln, doch man war auch sehr erstaunt gewesen, als er gleich zwanzig Stuck bestellte. »Lanzen brechen«, sagte er. »Ich brauche viele davon.« Als Schutz gegen Splitter befestigte er ein Stuck feines Drahtgitter am Gesichtsschutz eines Footballhelms. Wenn er beim Reiten diesen Helm trug, zog er betrachtliche Aufmerksamkeit auf sich. Er sah aus wie ein durchgeknallter Imker.

Letztendlich jedoch war er den Versuchungen der modernen Technik erlegen und lie? sich seine Lanzen aus Aluminium herstellen, von einer Firma, die sonst Baseballschlager produzierte. Die Aluminiumlanzen waren besser ausbalanciert und fuhlten sich fur ihn authentischer an, auch wenn sie nicht der damaligen Zeit entsprachen. Und da jetzt Splitter kein Problem mehr waren, konnte er einen ganz normalen Reithelm tragen.

Genau so einen trug er jetzt.

Er stand an einem Ende der Wiese und winkte Chris, der am anderen neben der quintaine stand. »Chris? Bist du soweit?« Chris nickte und drehte das T-Kreuz so, da? es im rechten Winkel zu Mareks Reitrichtung stand. Er winkte. Marek senkte die Lanze und spornte sein Pferd an.

Das Training mit der quintaine war trugerisch einfach. Der Reiter galoppierte auf das T-Kreuz zu und versuchte, das gepolsterte Quadrat mit seiner Lanzenspitze zu treffen. Wenn er es schaffte, versetzte er das T-Kreuz in eine Drehbewegung, und er mu?te sein Pferd noch einmal antreiben, um au?er Reichweite zu sein, bevor der Ledersack herumschwang und ihn am Kopf traf. Fruher, das wu?te Marek, war der Sack so schwer gewesen, da? er einen jungen Reiter vom Pferd werfen konnte. Aber Marek hatte ihn nur so schwer gemacht, da? er ihm eine schmerzhafte Ruge erteilen konnte.

Beim ersten Mal traf er sein Ziel, war aber nicht schnell genug, um dem Sack zu entgehen, der ihn hart am linken Ohr traf. Er zu-gelte das Pferd und trabte zuruck. »Warum probierst du es nicht mal, Chris?« »Vielleicht spater«, sagte Chris und brachte das T-Kreuz fur die nachste Runde in Stellung.

In letzter Zeit hatte Chris ein paarmal einen Ritt auf die quintaine versucht. Aber Marek vermutete, das war nur ein Nebeneffekt von Chris' plotzlichem Interesse an allem, was mit Reiten und Pferden zu tun hatte.

Marek wendete sein Tier, lie? es steigen und sturmte noch einmal vorwarts. Als er mit dem Lanzenreiten angefangen hatte, war es ihm absurd schwer vorgekommen, in vollem Galopp auf ein Quadrat von nur drei?ig Zentimeter Kantenlange zuzureiten. Inzwischen aber hatte er den Dreh heraus. Bei funf Versuchen traf er viermal das Ziel. Das Pferd donnerte voran. Er senkte die Lanze. »Chris! Hallo!«

Chris drehte sich um und winkte einem vorbeireitenden Madchen zu. In diesem Augenblick traf Mareks Lanze das Ziel, der Ledersack schwang herum und warf Chris zu Boden.

Benommen lag Chris da und horte ein perlendes Madchenlachen. Aber die junge Frau stieg schnell ab und half ihm auf die Beine. »Ach, Chris, tut mir leid, da? ich lache«, sagte sie mit ihrem eleganten britischen Akzent. »Es war auf jeden Fall meine Schuld. Ich hatte dich nicht ablenken durfen.«

»Ich bin okay«, sagte er ein wenig eingeschnappt. Er wischte sich den Staub vom Kinn, und als er sich ihr zudrehte, gelang ihm sogar ein Lacheln.

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