Sie sturmten in gestrecktem Galopp uber einen grasbewachsenen Kamm oberhalb des Flusses. Zumindest Sophie galoppierte; Chris wurde im Sattel auf und ab geworfen und hatte alle Hande voll zu tun, um nicht herunterzufallen. Normalerweise galoppierte sie bei ihren gemeinsamen Ausritten nie, aus Rucksicht auf seine geringeren Fahigkeiten, doch heute kreischte sie vor Vergnugen, wahrend sie ihrem Pferd die Sporen gab.
Chris bemuhte sich, mit ihr mitzuhalten, doch er hoffte instandig, da? sie bald anhalten moge, und schlie?lich tat sie es auch. Sie zugelte ihren schnaubenden, schwitzenden schwarzen Hengst, klopfte ihm auf den Hals und wartete, bis Chris sie eingeholt hatte. »War das nicht aufregend?« fragte sie.
»Das war es«, erwiderte er atemlos. »Das war es auf jeden Fall.« »Also, ich mu? sagen, Chris, das war schon sehr gut. Deine Sitzhaltung ist viel besser geworden.«
Er konnte nur nicken. Sein Sitzfleisch tat ihm nach dem Geholper weh, und seine Schenkel schmerzten vom heftigen Zusammenpressen. »Es ist wunderschon hier«, sagte sie und deutete zum Flu? und zu den dunklen Burgen auf den fernen Anhohen. »Ist es nicht gro?artig?« Und dann sah sie auf die Uhr, was ihn argerte. Der Ruckweg im Schritt erwies sich dennoch als uberraschend angenehm. Sie ritt sehr dicht neben ihm, ihre Pferde beruhrten sich fast, und sie beugte sich zu ihm, um ihm etwas ins Ohr zu flustern; einmal legte sie ihm sogar den Arm um die Schulter und ku?te ihn auf den Mund, aber dann wandte sie schnell den Blick ab, als hatte diese Kuhnheit sie verlegen gemacht. Von hier aus konnten sie das gesamte Ausgrabungsgelande uberblicken: die Ruinen von Castelgard, das Kloster und in der Ferne La Roque auf seinem Hugel. Wolken zogen uber den Himmel und trieben Schatten uber die Landschaft. Die Luft war warm und mild, und es war still bis auf das entfernte Rohren eines Autos.
»Ach, Chris«, sagte sie und ku?te ihn noch einmal. Als sie sich wieder voneinander losten, drehte sie sich um, schaute in die Ferne und winkte plotzlich.
Ein gelbes Cabrio kam uber die kurvige Stra?e auf sie zu. Es war eine Art Rennwagen, sehr flach, mit knurrendem Motor. In einiger Entfernung blieb es stehen, der Fahrer erhob sich und setzte sich auf die Ruckenlehne. »Nigel!« rief sie frohlich.
Der Mann im Auto winkte trage zuruck, seine Hand beschrieb einen langsamen Bogen.
»Ach, Chris, bist du so lieb?« Sophie gab Chris die Zugel ihres Pferds, sprang ab und rannte den Hugel hinunter zu dem Auto, wo sie den Fahrer umarmte. Die beiden stiegen ein. Als sie davonfuhren, drehte sie sich noch einmal um und warf Chris eine Ku?hand zu.
Die restaurierte mittelalterliche Stadt Sarlat war abends besonders bezaubernd, wenn Gaslaternen die dichtstehenden Hauser und die schmalen Gassen sanft erleuchteten. Marek und die Doktoranden sa?en in einem Stra?enrestaurant an der Rue Tourny unter wei?en Schirmen und begru?ten mit dem dunkelroten Wein von Cahors die Nacht. Normalerweise geno? Chris diese Abende, doch heute pa?te ihm einfach nichts. Der Abend war zu warm, sein Metallstuhl unbequem. Er hatte sein Lieblingsgericht bestellt,
Andererseits mu?te er zugeben, da? sie durchaus freundlich waren; sie tranken viel Wein und stellten eine Menge Fragen uber das Projekt. Leider waren es die ublichen Fragen, die auch Touristen immer stellen:
»Der Ort ist sehr typisch fur die Zeit«, antwortete Kate, »mit den beiden gegenuberliegenden Burgen. Was die Anlage aber zu einem echten Fundstuck macht, ist die Tatsache, da? sie von der Forschung vernachlassigt war, da? hier noch nie Ausgrabungen stattgefunden haben.«
»Und das ist gut? Da? sie vernachlassigt war?« Die Frau runzelte die Stirn; sie kam aus einer Welt, in der Vernachlassigung schlecht war. »Sogar au?erst erstrebenswert«, sagte Marek. »Bei unserer Arbeit ergeben sich Gelegenheiten nur, wenn die Welt einen Ort links liegenla?t. Wie Sarlat zum Beispiel. Dieses Stadtchen.« »Es ist sehr nett hier«, sagte eine der Frauen. Die Manner verlie?en den Tisch, um zu telefonieren.
»Aber das Wesentliche ist etwas anderes«, sagte Kate. »Es ist namlich ein Zufall, da? diese Stadt uberhaupt existiert. Ursprunglich war Sarlat eine Siedlung, die um ein Kloster herum entstanden ist, das Reliquien beherbergte; nach einer Weile wurde die Stadt so gro?, da? das Kloster auszog, um sich woanders Ruhe und Frieden zu suchen. Sarlat existierte weiter als wohlhabendes Marktzentrum fur die Dordogne-Region. Aber im Lauf der Jahre schwand die Bedeutung der Stadt, und im zwanzigsten Jahrhundert verlor man Sarlat aus den Augen. Der Ort war so unbedeutend und arm, da? er kein Geld hatte, um die alten Stadtteile zu sanieren. Die alten Gebaude blieben einfach stehen, so wie sie waren, ohne moderne Installationen und Elektrizitat. Viele davon waren verlassen.«
Kate erklarte weiter, da? in den funfziger Jahren die Stadtverwaltung schlie?lich beschlossen habe, die alten Viertel abzurei?en und neue Hauser zu errichten. »Andre Malraux hat das verhindert. Er uberzeugte die franzosische Regierung, Geld fur eine Restau-rierung zur Verfugung zu stellen. Die Leute hielten ihn fur verruckt. Aber heute ist Sarlat die am exaktesten restaurierte mittelalterliche Stadt Frankreichs, und eine der gro?ten Touristenattraktionen des Landes.«
»Es ist hubsch«, erwiderte die Frau unbestimmt. Plotzlich kehrten die beiden Manner gemeinsam wieder an den Tisch zuruck, setzten sich und steckten ihre Handys in die Tasche. Ihrer Miene nach zu urteilen, waren sie mit dem Telefonieren fertig. »Was ist passiert?« fragte Kate.
»Die Markte sind geschlossen«, erklarte einer. »So. Was habt ihr uber
Castelgard gesagt? Was ist so besonders daran?«
Marek ubernahm das Antworten: »Wir haben eben davon gesprochen, da? dort noch nie gegraben wurde. Fur uns ist es aber auch wichtig, weil Castelgard eine typische befestigte Stadt des vierzehnten
Jahrhunderts ist. Der Ort selbst ist alter, aber zwischen dreizehnhundert und vierzehnhundert wurden die meisten Gebaude errichtet oder umgebaut, damit sie besseren Schutz boten: dickere Mauern, konzentrische Mauern, kompliziertere Graben und Tore.«
»Und wann ist das noch mal? Im finsteren Mittelalter?« fragte einer der Manner und go? sich Wein ein.
»Nun ja«, sagte Marek. »Genau gesagt, das Hochmittelalter.« »Nicht so hoch, wie mein Alkoholpegel bald sein wird«, sagte der Mann. »Und was kommt dann davor? Das Tiefmittelalter.« »Genau«, erwiderte Marek mit einem ironischen Grinsen. »Mann«, sagte der andere, »Volltreffer.«
Seit etwa vierzig vor Christus wurde Europa von Rom beherrscht. Die Region Frankreichs, in der sie sich jetzt befanden, Aquitaine, war ursprunglich die romische Kolonie Aquitania. Uberall in Europa bauten die Romer Stra?en, uberwachten den Handel und hielten Recht und Ordnung aufrecht. Europa florierte.
Doch um vierhundert nach Christus begann Rom, seine Soldaten zuruckzuziehen und seine Garnisonen zu verlassen. Nach dem Zusammenbrach des Imperiums verfiel Europa funfhundert Jahre lang in Gesetzlosigkeit. Die Bevolkerungszahl sank, der Handel ging zuruck, Stadte schrumpften. Das offene Land wurde von Bar-barenhorden heimgesucht: von Goten und Vandalen, Hunnen und Wikingern. Diese finstere Zeit nannte man naturlich nicht Tiefmittelalter - hier hatte Marek seinen Gesprachspartner auflaufen lassen -, sondern das fruhe Mittelalter.
»Aber um das letzte Millennium — ich meine tausend nach Christus — wurde es langsam wieder besser«, fuhr Marek fort. »Eine neue Organisationsform bildete sich heraus, die wir Feudalismus nennen -ein Wort, das allerdings von den Leuten damals nicht benutzt wurde.« Im Feudalismus sorgten machtige Regionalherrscher fur Ordnung in ihren Regionen. Das neue System funktionierte. Die Landwirtschaft verbesserte sich. Handel und Stadte florierten. Um zwolfhundert nach Christus war Europa wieder erbluht, mit einer gro?eren Bevolkerung als wahrend des romischen Imperiums. »Deshalb betrachtet man das Jahr 1200 als den Beginn des Hochmittelalters — einer Zeit des Wachstums und der kulturellen Blute.«