Die Amerikaner waren skeptisch. »Wenn alles so toll war, warum wurden dann immer mehr Verteidigungsanlagen errichtet?« »Wegen des Hundertjahrigen Kriegs«, sagte Marek, »der zwischen England und Frankreich ausgefochten wurde.« »Was war das, ein Religionskrieg?«
»Nein«, erwiderte Marek. »Die Religion hatte damit nichts zu tun. Zu der Zeit waren alle katholisch.«
»Wirklich? Was war mit den Protestanten?«
»Es gab keine Protestanten.«
»Wo waren die?«
»Die hatten sich noch nicht erfunden«, sagte Marek.
»Wirklich? Um was ging's dann in dem Krieg?«
»Um Landeshoheit«, sagte Marek. »Es ging darum, da? ein gro?er Teil Frankreichs in englischem Besitz war.«
Einer der Manner runzelte die Stirn. »Was soll das hei?en? Da? Frankreich zu England gehorte?« Marek seufzte.
Er hatte einen Schimpfnamen fur Leute wie diese: Zeitprovinzler -Leute, die von der Vergangenheit keine Ahnung hatten und auch noch stolz darauf waren.
Zeitprovinzler waren davon uberzeugt, da? nur die Gegenwart Bedeutung hatte und da? man alles, was fruher passiert war, einfach ignorieren konnte. Die moderne Welt war faszinierend und neu, und die Vergangenheit hatte keinen Einflu? darauf. Sich mit Geschichte zu beschaftigen war so sinnlos, wie das Morsealphabet oder das Kutschenfahren zu lernen. Und das Mittelalter — all diese Ritter in klirrenden Rustungen und Damen in wallenden Gewandern und spitzen Huten — war so offensichtlich irrelevant, da? man keinen Gedanken daran zu verschwenden brauchte.
In Wahrheit aber war die moderne Welt im Mittelalter erfunden worden. Alles - vom Rechtssystem uber die Nationalstaaten und das Vertrauen in die Technik bis hin zur Idee der romantischen Liebe — hatte seinen Ausgangspunkt im Mittelalter. Diese Borsenmakler verdankten sogar das Konzept der Marktwirtschaft dem Mittelalter. Und wenn sie das nicht wu?ten, kannten sie nicht einmal die grundlegenden Tatsachen ihres Seins. Warum sie taten, was sie taten. Woher sie kamen.
Wie Professor Johnston oft sagte: Wer uber die Geschichte nichts wei?, der wei? uberhaupt nichts. Der ist ein Blatt, das nicht wei?, da? es Teil eines Baums ist.
Die Borsenmakler machten stur weiter, so wie Leute es oft tun, wenn sie mit ihrer eigenen Unwissenheit konfrontiert werden. »Wirklich: England gehorte ein Teil Frankreichs? Das ist doch Blodsinn. Englander und Franzosen haben einander immer geha?t.« »Nicht immer«, sagte Marek. »Das war vor sechshundert Jahren. Es war eine vollig andere Welt. Englander und Franzosen standen sich damals viel naher. Seit Soldaten aus der Normandie im Jahr 1066 England eroberten, war fast der gesamte englische Adel franzosisch. Man sprach franzosisch, a? franzosisch, folgte der franzosischen Mode. Es war nicht uberraschend, da? diese Adligen franzosisches Territorium besa?en. Hier im Suden hatten sie mehr als ein Jahrhundert lang uber Aquitanien geherrscht.«
»Und? Worum ging's in dem Krieg? Wollten die Franzosen plotzlich alles fur sich selbst?« »Mehr oder weniger, ja.«
»Pa?t«, sagte der Mann mit einem wissenden Grinsen.
Marek dozierte weiter. Chris vertrieb sich die Zeit, indem er versuchte, mit Kate Blickkontakt herzustellen. Das Kerzenlicht machte ihre Gesichtszuge, die im Sonnenlicht hart, ja beinahe verbissen aussahen, weicher. Er fand sie unerwartet attraktiv.
Aber sie erwiderte seinen Blick nicht. Ihre Aufmerksamkeit war ausschlie?lich auf ihre Maklerfreunde gerichtet. Typisch, dachte Chris. Egal, was die Typen plapperten, Frauen fuhlten sich nur zu Mannern mit Macht und Geld hingezogen. Auch wenn es solche bornierten Dunnbrettbohrer waren wie diese beiden.
Als schlie?lich einer der Manner anfing, mit seiner Uhr zu spielen und sie um sein Handgelenk wirbelte, hielt Chris es nicht langer aus. Abrupt stand er auf, murmelte eine Entschuldigung und da? er seine Analysen noch einmal uberprufen musse und ging dann die Rue Tourny hinunter zum Parkplatz am Rand des alten Viertels.
Unterwegs kam es ihm vor, als wurde er in dem Stra?chen nur Liebende sehen, Paare, die Arm in Arm gingen, die Frau den Kopf auf der Schulter des Mannes. Sie fuhlten sich wohl miteinander, ohne reden zu mussen, genossen einfach die romantische Umgebung. Jedes Paar, das ihm begegnete, machte ihn murrischer und lie? ihn schneller gehen. Er war erleichtert, als er endlich beim Auto war und heimfahren konnte. Nigel!
Was fur ein Idiot hatte einen Namen wie Nigel?
Am nachsten Morgen hing Kate wieder in der Kapelle von Ca-stelgard.als ihr Funkgerat knisterte und sie den Schrei horte: »Hei?e Tamales! Hei?e Tamales. Planquadrat vier. Mittagessen ist fertig. Kommt und holt es euch.«
Das war der Signalruf des Teams, wenn jemand eine neue Entdeckung gemacht hatte. Fur alle wichtigen Mitteilungen benutzten sie Codeworter, weil sie wu?ten, da? die ortlichen Behorden manchmal ihren Funkverkehr abhorten. Bei anderen Ausgrabungen hatte die Regierung gelegentlich Agenten geschickt, die alle Funde sofort nach der Entdeckung konfiszierten, bevor die Forscher Gelegenheit hatten, sie zu dokumentieren und zu bewerten. Obwohl die franzosische Regierung ein durchaus verstandiges und aufgeklartes Verhaltnis zu historischen Kulturgutern hatte — in vieler Hinsicht ein besseres als die Amerikaner -, waren die einzelnen Inspektoren vor Ort oft beruchtigt fur ihre Ignoranz. Und naturlich begegnete man haufig auch dem Vorurteil, da? Fremde sich die ruhmreiche Geschichte Frankreichs unter den Nagel rissen.
Planquadrat vier, das wu?te sie, lag druben beim Kloster. Sie uberlegte, ob sie in der Kapelle bleiben oder den weiten Weg bis dort hinuber machen sollte, und beschlo? schlie?lich zu gehen. In Wahrheit war ein Gro?teil ihrer taglichen Arbeit langweilig und ereignislos. Und sie alle brauchten das Wiederanfachen der Begeisterung, das eine neue Entdeckung mit sich brachte.
Sie ging durch die Ruinen von Castelgard. Wie kaum ein anderer konnte Kate die Stadt im Geiste wiederaufbauen und sie so sehen, wie sie einmal war. Ihr gefiel Castelgard, es war eine zweckorientierte Stadt, entworfen und gebaut in Zeiten des Krieges. Sie besa? all die unkomplizierte Authentizitat, die Kate im Architek- turstudimn so venni?t hatte.
Sie spurte die Sonne hei? auf Hals und Beinen und dachte zum hundertsten Mal, wie froh sie doch war, hier in Frankreich zu sein und nicht in New Haven an ihrem engen kleinen Arbeitsplatz im sechsten Stock des Arts and Architecture Building mit seinen gro?en Panoramafenstern und dem Ausblick auf das pseudokoloniale Davenport College und das pseudogotische Payne Whitney Gym. Kate hatte das Architekturstudium deprimierend gefunden und das A & A Building sehr deprimierend, und ihren Wechsel zur Geschichte hatte sie nie bereut.
Jedenfalls war gegen einen Sommer in Frankreich nichts einzuwenden. Es gefiel ihr sehr gut in diesem Team hier an der Dordogne. Bis jetzt war es eine angenehme Zeit gewesen.
Naturlich hatte sie einige Manner abwehren mussen. Anfangs hatte es Marek versucht, dann Rick Chang, und jetzt wurde sie sich auch noch mit Chris Hughes herumschlagen mussen. Chris litt stark unter der Zuruckweisung durch das britische Madchen — anscheinend war er der einzige im ganzen Perigord gewesen, der es nicht hatte kommen sehen —, und jetzt fuhrte er sich auf wie ein verletztes Hundchen. Gestern abend wahrend des Essens hatte er sie die ganze Zeit angestarrt. Manner schienen einfach nicht zu begreifen, da? Anmache aus einer Enttauschung heraus fur das neue Gegenuber etwas Beleidigendes hatte. Gedankenverloren ging sie zum Flu?, wo das kleine Boot vertaut lag, das vom Team zur Uberfahrt benutzt wurde. Und dort wartete, mit einem Lacheln im Gesicht, Chris Hughes. »Ich rudere«, sagte er, als sie ins Boot stiegen. Sie lie? ihn. Mit langsamen Zugen setzte er das Boot in Bewegung. Sie sagte nichts, schlo? nur die Augen und drehte das Gesicht der Sonne entgegen. Es war warm und entspannend. »Ein schoner Tag«, horte sie ihn sagen. »Ja, schon.«
»Wei?t du, Kate«, begann er, »das Abendessen gestern hat mir wirklich gefallen. Ich habe mir gedacht, vielleicht -«
»Das ist sehr schmeichelhaft, Chris«, erwiderte sie. »Aber ich mu? ehrlich mit dir sein.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Ich habe gerade erst mit jemandem Schlu? gemacht.« »Oh. Aha...«
»Und ich will jetzt eine Weile allein bleiben.«
»Oh«, sagte er. »Sicher. Ich verstehe. Aber vielleicht konnten wir trotzdem ... «
Sie schenkte ihm ihr nettestes Lacheln. »Ich glaube nicht.«
»Oh. Okay.« Sie sah, da? sein Gesicht sich zu einem Schmollen verzog.
Doch dann sagte er: »Wei?t du, du hast recht. Ich glaube wirklich, es ist das beste, wenn wir einfach nur