Wie immer staunte er uber ihre Schonheit, vor allem in Augenblicken wie diesem, wenn ihre blonden Haare von hinten von der Nachmittagssonne beleuchtet wurden, so da? ihr vollkommenes Gesicht zu leuchten schien und ihre veilchenblauen Augen noch intensiver strahlten. Sophie Rhys-Hampton war die schonste Frau, die er je getroffen hatte. Und die intelligenteste. Und die kultivierteste. Und die verfuhrerischste.
»O Chris, Chris«, sagte sie und strich ihm mit ihren kuhlen Fingerspitzen ubers Gesicht. »Ich mu? mich wirklich entschuldigen. Armer Junge. Geht's wieder?«
Sophie war Studentin am Cheltenham College und zwanzig Jahre alt, vier Jahre junger als er. Ihr Vater, Hugh Hampton, war ein Londoner Anwalt; ihm gehorte das Anwesen, das vom Team fur den Sommer angemietet worden war. Sophie verbrachte ihre Ferien mit Freunden in einem Landhaus in der Nahe. Eines Tages war sie vorbeigekommen, um aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters etwas zu holen. Chris hatte sie gesehen und war gegen einen Baum geknallt. Und das hat anscheinend unserer Beziehung die Richtung vorgegeben, dachte Chris ein wenig betrubt. Jetzt sah sie ihn an und sagte: »Ich bin geschmeichelt, da? ich eine solche Wirkung auf dich habe, Chris. Aber ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit.« Sie kicherte und ku?te ihn leicht auf die Wange. »Ich hab dich heute angerufen.«
»Ich wei?, aber ich war verhindert. Wir hatten eine Krise.« »Eine Krise? War es eine archaologische Krise?« »Ach, du wei?t schon. Probleme mit dem Sponsor.« »Ach ja. Diese ITC-Truppe. Aus New Mexico.« Bei ihr klang es, als ware es das Ende der Welt. »Wei?t du was, die wollten meinem Vater den Hof abkaufen.«
»Wirklich?«
»Ja. Sie meinten, sie mu?ten ihn fur so viele Jahre mieten, da? sie ihn am liebsten gleich kaufen wurden. Naturlich hat er nein gesagt.« »Naturlich.« Er lachelte sie an. »Abendessen?«
»Ach, Chris, ich kann heute abend nicht. Aber wir konnen morgen zusammen reiten. Sollen wir?«
»Naturlich.«
»Vormittags? Um zehn?«
»Okay«, sagte er. »Dann bis morgen um zehn.«
»Ich halte dich nicht von deiner Arbeit ab?«
»Du wei?t doch, da? du das tust.«
»Mir macht es nichts aus, wenn wir es auf einen anderen Tag verschieben.«
»Nein, nein«, sagte er. »Morgen vormittag um zehn.« »Abgemacht«, sagte sie mit einem betorenden Lacheln. In Wirklichkeit war Sophie Hampton fast zu schon, ihre Figur zu perfekt, ihr Wesen zu charmant, als da? das alles ganz echt sein konnte. Marek zum Beispiel mochte sie nicht. Aber Chris war verzaubert.
Nachdem sie davongeritten war, sturmte Marek noch einmal heran. Diesmal brachte Chris sich rechtzeitig vor dem schwingenden Sack in Sicherheit. Als Marek dann wieder bei ihm war, sagte er: »Man halt dich zum Narren, mein Freund.«
»Vielleicht«, erwiderte Chris. Im Grunde genommen aber war es ihm egal.
Am nachsten Tag war Marek auf dem Klostergelande, um Rick Chang bei der Freilegung der Katakomben zu helfen. Sie gruben nun schon seit Wochen und kamen nur langsam voran, weil sie immer wieder menschliche Uberreste fanden. Und immer wenn sie auf Knochen stie?en, legten sie die Schaufeln weg und griffen zu Kellen und Zahnbursten.
Rick Chang war der biologische Anthropologe des Teams und folglich Spezialist fur menschliche Uberreste; er konnte sich ein erbsengro?es Stuck Knochen ansehen und sagen, ob es vom linken oder rechten Handgelenk stammte, von einem Mann oder einer Frau, einem Kind oder einem Erwachsenen, ob es alt war oder zeitgenossisch. Aber die menschlichen Uberreste, die sie hier fanden, waren verwirrend. Zum einen waren sie alle mannlich, und einige der langen Knochen trugen Spuren von Kampfverletzungen. Mehrere Schadel zeigten Pfeilwunden. Tatsachlich waren im vierzehnten Jahrhundert die meisten Soldaten durch Pfeile gestorben. Aber es gab keine Quelle, die je von einer Schlacht bei dem Kloster berichtete. Zumindest keine, die sie kannten.
Sie hatten eben etwas gefunden, das aussah wie ein verrosteter Helm, als Mareks Handy klingelte. Es war der Professor. »Wie lauft's?« fragte Marek. »Bis jetzt gut.«
»Hast du mit Doniger gesprochen?« »Ja. Heute nachmittag.« »Und?«
»Ich wei? noch nicht.« »Bestehen sie noch immer auf dem Wiederaufbau?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist hier alles ein bi?chen anders, als ich es mir vorgestellt habe.« Der Professor klang unbestimmt, zerstreut.
»Inwiefern?«
»Daruber kann ich am Telefon nicht reden«, sagte der Professor. »Ich wollte euch nur eins sagen: In den nachsten zwolf Stunden braucht ihr von mir keinen Anruf zu erwarten. Vielleicht auch nicht in vierundzwanzig.«
»Aha. Okay. Alles in Ordnung?«
»Alles bestens, Andre.«
Marek war nicht ganz uberzeugt. »Brauchst du ein Aspirin?« Das war einer ihrer Codesatze, eine Art zu fragen, ob etwas nicht stimmte, falls der andere nicht frei sprechen konnte. »Nein, nein, uberhaupt nicht.« »Du klingst ein bi?chen abwesend.«
»Uberrascht, wurde ich sagen. Aber alles ist okay. Zumindest glaube ich, da? alles okay ist.« Er hielt inne und fragte dann: »Und wie lauft's bei dir? Woran arbeitest du gerade?«
»Ich bin jetzt mit Rick beim Kloster. Wir graben in den Katakomben im vierten Quadranten. Ich schatze, da? wir heute abend oder spatestens morgen unten sind.«
»Gro?artig. Weiter so, Andre. Ich melde mich in ein oder zwei Tagen wieder.«
Damit legte er auf.
Marek hangte sich das Telefon wieder an den Gurtel und runzelte die Stirn. Was hatte das alles zu bedeuten?
Der Hubschrauber donnerte uber sie hinweg, unter seinem Rumpf waren die Sensorenkasten zu erkennen. Stern hatte ihn noch einen Tag langer behalten, um noch einen Morgen- und einen Nachmittagsflug durchfuhren zu konnen; er wollte nachprufen, wieviel von den Gebaudeteilen, die Kramer erwahnt hatte, mit den Instrumenten zu erkennen war.
Marek war neugierig, wie es wohl lief, aber um mit ihm zu reden, brauchte er ein Funkgerat. Und das nachste war im Lagerhaus.
»Elsie«, sagte Marek, als er das Lagerhaus betrat. »Wo ist das Funkgerat, mit dem ich David anrufen kann?«
Naturlich antwortete Elsie Kastner ihm nicht. Sie starrte einfach weiter auf die Dokumente, die sie vor sich ausgebreitet hatte. Elsie war eine hubsche, kraftige Frau, die sich unglaublich konzentrieren konnte. Stundenlang sa? sie in diesem Lagerhaus und entzifferte die Handschrift auf Pergamenten. Fur ihre Arbeit mu?te sie nicht nur die sechs wichtigsten Sprachen des mittelalterlichen Europa beherrschen, sondern auch lang vergessene lokale Dialekte, Umgangssprache und Abkurzungen. Marek schatzte sich glucklich, sie zu haben, auch wenn sie sich vom Rest des Teams absonderte. Und manchmal etwas komisch sein konnte. »Elsie?« wiederholte er.
Plotzlich hob sie den Kopf. »Was? Oh, tut mir leid, Andre. Ich bin, ah, ich meine, ein wenig...» Sie deutete auf das Pergament vor ihr. »Das ist eine Rechnung des Klosters an einen deutschen Grafen. Fur die Beherbergung seines personlichen Gefolges: neunund-zwanzig Leute und funfunddrei?ig Pferde. Eine solche Truppe hatte dieser Graf dabei, wenn er uber Land ritt. Aber es ist verfa?t in einer Mischung aus Latein und Provenzalisch, und die Handschrift ist unmoglich.« Elsie nahm das Pergament und ging damit zum Fotostander in der Ecke. Auf ein vierbeiniges Stativ war eine Kamera montiert, umringt von vier auf den Objekttrager gerichteten Blitzlampen. Sie breitete das Pergament auf dem Objekttrager aus, legte am unteren Rand eine Strichcode-Identifikation und ein zweifarbig markiertes FunfZentimeter-Lineal zur Gro?enangabe dazu und scho? das Foto. »Elsie? Wo ist das Funkgerat, mit dem ich David anrufen kann?« »Oh, Entschuldigung. Da druben auf dem Tisch. Das mit dem Klebestreifen, auf dem DS steht.«
Marek nahm das Gerat und druckte die Sprechtaste. »David? Andre hier.«
»Hi, Andre.« Durch den Larm des Hubschraubers konnte Marek ihn kaum verstehen.
»Was hast du gefunden?«
»Null.
Kramer erwahnt hat, ist zu sehen. Nicht auf SLS und auch nicht auf Radar, Infrarot oder UV. Ich habe keine Ahnung, wie sie diese Entdeckungen gemacht haben.«