Er erkannte sofort, was es war: Stadt und Festung von Castelgard. Es waren keine Ruinen. Die Mauern waren intakt. Er
CASTELGARD
JEAN FROISSART
37:00:00
Gomez sprang bebende aus der Maschine. Marek und Kate stiegen langsam aus ihren Kafigen und schauten sich um, ein wenig benommen, wie es aussah. Auch Chris stieg aus. Seine Fu?e beruhrten den moosbewachsenen Boden. Das Moos fuhlte sich weich und federnd an. »Phantastisch«, sagte Marek und entfernte sich sofort von seiner Maschine. Er uberquerte den schlammigen Pfad, um einen besseren Ausblick auf die Stadt zu bekommen. Kate folgte ihm. Sie schien noch immer unter Schock zu stehen.
Chris wollte am liebsten nahe bei der Maschine bleiben. Er drehte sich langsam um und betrachtete den Wald. Er kam ihm dunkel, dicht, urzeitlich vor. Ihm fiel auf, wie riesig die Baume waren. Einige von ihnen hatten so dicke Stamme, da? sich drei oder vier Leute dahinter verstecken konnten. Sie erhoben sich hoch in den Himmel, und ihre Wipfel vereinigten sich zu einem dichten Blatterdach, das einen Gro?teil des Waldbodens in Dunkelheit tauchte. »Wunderschon, nicht?« sagte Gomez. Sie schien zu spuren, da? ihm die Sache nicht ganz geheuer war.
»Ja, sehr schon«, erwiderte er. Aber er empfand es ganz und gar nicht so, etwas an dem Wald kam ihm bedrohlich vor. Immer wieder drehte er sich und versuchte zu begreifen, warum er das deutliche Gefuhl hatte, da? etwas nicht stimmte an dem, was er sah -da? etwas fehlte oder etwas nicht am richtigen Platz war. Schlie?lich fragte er: »Was stimmt hier nicht?«
Sie lachte. »Ach, das«, sagte sie. »Horchen Sie.«
Einen Augenblick lang stand Chris nur da und lauschte. Er horte das Zwitschern von Vogeln, das Rascheln eines leichten Windes in den Blattern. Aber ansonsten ... »Ich hore uberhaupt nichts.«
»Genau«, sagte Gomez. »Einige Leute bringt das aus der Fassung, wenn sie das erste Mal hierherkommen. Es gibt keinen Umweltlarm: kein Radio, kein Fernsehen, keine Maschinen, keine Autos. Im zwanzigsten Jahrhundert sind wir so an Dauerlarm gewohnt, da? diese Ruhe unheimlich wirkt.«
»Das wird's wohl sein.« Zumindest fuhlte er sich genau so. Er wandte sich von den Baumen ab und betrachtete den schlammigen Weg, der, von der Sonne beschienen, durch den Wald fuhrte. An einigen Stellen war der Schlamm einen halben Meter tief, aufgewuhlt von vielen Hufen.
Das ist eine Welt der Pferde, dachte er.
Keine Maschinengerausche. Jede Menge Hufspuren.
Er atmete tief ein und stie? die Luft gerauschvoll aus. Sogar die Luft wirkte anders. Prickelnd und aromatischer, als ware mehr Sauerstoff enthalten.
Als er sich wieder umdrehte, sah er, da? die Maschine verschwunden war. Gomez schien das nicht zu beunruhigen. »Wo ist die Maschine?« fragte er, bemuht, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. »Weggedriftet.«
»Wenn die Maschinen voll aufgeladen sind, sind sie ein wenig instabil. Sie neigen dazu, immer wieder aus der jeweiligen Gegenwart zu gleiten. Deshalb konnen wir sie nicht sehen.« »Wo sind sie?« fragte Chris.
Sie zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich in einem anderen Universum. Egal, wo sie sind, es ist alles in Ordnung mit ihnen. Sie kommen immer wieder zuruck.«
Um es zu beweisen, nahm sie ihren Keramikmarker und druckte mit dem Daumennagel auf den Knopf. In immer heller werdenden Lichtblitzen kehrte die Maschine zuruck: alle vier Kafige, und sie standen genau an derselben Stelle wie einige Minuten zuvor. »Jetzt bleibt sie fur eine oder vielleicht zwei Minuten hier«, sagte
Gornez. »Dann driften sie wieder weg. Ich tue nichts dagegen. So sind sie wenigstens aus dem Weg.«
Chris nickte; sie schien zu wissen, wovon sie sprach. Aber Chris war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, da? die Maschinen drifteten; sie waren seine Ruckfahrkarte, und es gefiel ihm nicht, da? sie sich nach eigenen Regeln verhielten und beliebig verschwinden konnten. Wurde irgendjemand mit einem Flugzeug fliegen, das der Pilot als »instabil« bezeichnete? Er fuhlte Kalte auf seiner Stirn und wu?te, da? er gleich in kalten Schwei? ausbrechen wurde.
Um sich abzulenken, machte Chris sich daran, den anderen zu folgen. Mit tastenden Schritten, um nicht im Schlamm zu versinken, uberquerte er den Pfad. Als er wieder festen Boden unter den Fu?en hatten, bahnte er sich einen Weg durch das dichte Unterholz, ein Gestrupp hufthoher Pflanzen, die aussahen wie Rhododendron. Er drehte sich zu Gomez um. »Gibt's in dem Wald hier irgendwas, vor dem man Angst haben mu??« fragte er.
»Nur Vipern«, sagte sie. »Normalerweise hangen sie in den tieferen
Asten der Baume. Wenn man Pech hat, lassen sie sich einem auf die
Schulter fallen und bei?en.«
»Toll«, sagte er. »Sind sie giftig?«
»Sehr.«
»Todlich?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, sie sind sehr selten«, sagte sie. Chris beschlo?, keine weiteren Fragen zu stellen. Inzwischen hatte er sowieso eine kleine sonnenhelle Lichtung erreicht. Er schaute nach unten und sah siebzig Meter unter sich die Dordogne, die sich durch Ackerland schlangelte, und dieser Anblick war nicht sehr verschieden von dem, den er bereits kannte.
Doch auch wenn der Flu? derselbe war, war doch vieles in dieser Landschaft anders. Die Burg von Castelgard war vollig intakt, und die Stadt ebenfalls. Au?erhalb der Mauer lagen landwirtschaftlich genutzte Parzellen, einige Felder wurden eben gepflugt.
Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit nach rechts, denn dort lag tief unter ihm der machtige rechteckige Komplex des Klosters - und die befestigte Muhlenbrucke.
Chris sah vier Wasserrader, nicht drei, bewegt von der Stromung, die unter der Brucke hindurchlief. Und auf der Brucke befand sich kein einzelnes, komplexes Gebaude. Es schienen zumindest zwei unabhangige Aufbauten zu sein, wie kleine Hauser. Das gro?ere aus Holz, das andere aus Stein, was darauf hindeutete, da? sie zu verschiedenen Zeiten errichtet worden waren. Aus dem Steinbau quoll unablassig dichter grauer Rauch. Vielleicht machen die hier ja wirklich Stahl, dachte er. Wenn man wasserbetriebene Blasebalge hatte, dann konnte man auch einen richtigen Hochofen haben. Das wurde auch die voneinander unabhangigen Aufbauten erklaren. Denn in Getreidemuhlen durfte sich nirgendwo ein offenes Feuer befinden — nicht einmal eine Kerze. Das war der Grund, warum Getreidemuhlen nur tagsuber arbeiteten.
Diese Vertiefung in Details half ihm, sich zu entspannen.
Marek stand da und starrte voller Staunen das Dorf von Castelgard an.
Langsam dammerte ihm:
Er fuhlte sich leicht benommen, fast schwindelig vor Aufregung, wahrend er alle Einzelheiten in sich aufnahm. Auf den Feldern tief unter ihm arbeiteten Bauern, die geflickte Beinlinge und rote, blaue, orange-und rosafarbene Kittel trugen. Die leuchtenden Farben hoben sich grell von der dunklen Erde ab. Viele Felder waren bereits bestellt, die Furchen aufgeschuttet. Es war Anfang April, die Fruhjahrsaussaat von Gerste, Erbsen, Hafer und Bohnen - den sogenannten Fastenspeisen — durfte so gut wie abgeschlossen sein.
Er sah zu, wie ein neues Feld gepflugt wurde, wobei zwei Ochsen den schwarzen eisernen Pflug zogen. Die Pflugschar offnete die Furche und schob die Erde links und rechts zu kleinen Wallen zusammen. Es freute ihn, als er uber dem eisernen Blatt eine Holzleiste erkannte. Das war das Streichbrett, typisch fur diese Zeit.
Hinter dem Pfluger ging ein zweiter Bauer einher, der mit weiten, rhythmischen Bewegungen seines Arms sate. Der Sack mit dem Saatgut hing ihm vor dem Bauch. Und ein Stuckchen hinter dem Samann flatterten Vogel uber der Furche, um die Samen aufzupicken. Aber es sollte ihnen nicht lange vergonnt sein. In einem Nachbarfeld sah Marek den Egger: ein Mann auf einem Pferd, das ein holzernes, mit einem gro?en Stein beschwertes T-Kreuz