Chris Hughes rannte zum Rand des Steilabhangs und warf sich schreiend und mit Armen und Beinen wedelnd ins Leere. Siebzig Meter unter sich sah er die Dordogne, die sich durch die Landschaft schlangelte. Der Fall war zu tief. Er wu?te, da? der Flu? zu seicht war. Keine Frage, er wurde sterben.

Aber dann sah er, da? der Abhang nicht senkrecht nach unten ging — etwa sieben Meter unter ihm ragte ein Vorsprung aus der Flanke heraus. Es war ein steil nach unten geneigter, fast nackter Felsen mit sparlichem Bewuchs aus verkummerten Baumen und Strauchwerk. Er knallte mit der rechten Seite auf den Vorsprung. Der Aufprall nahm ihm den Atem. Sofort begann er hilflos zum Rand zu rollen. Er versuchte sich abzubremsen, indem er verzweifelt nach einem Strauch griff, aber der war zu schwach, er ri? ihn aus. Im Rollen bemerkte Chris plotzlich, da? der Junge nach ihm griff, aber er verfehlte die ausgestreckten Hande. Immer weiter rollte er, die Welt drehte sich wild um ihn. Jetzt war der Junge hinter ihm und starrte ihm mit entsetzter Miene nach. Chris wu?te, er wurde uber den Rand rollen, er wurde fallen —

Er achzte, als er gegen einen Baum knallte, scharfer Schmerz zuckte durch seinen Korper. Einen Augenblick lang wu?te er nicht, wo er war; er spurte nur Schmerz. Die Welt war grunlichwei?. Nur langsam wurde sein Kopf wieder klar.

Der Baum hatte seinen Sturz zwar gestoppt, aber einige Sekunden lang konnte er uberhaupt nicht atmen, so heftig war der Schmerz. Sterne tanzten ihm vor den Augen, und als sie langsam verschwanden, sah er, da? seine Beine uber den Rand baumelten.

Und rutschten. Nach unten rutschten.

Der Baum war eine dunne Kiefer, und sein Gewicht bog sie langsam, langsam nach unten. Er spurte, wie er den Stamm entlangrutschte, konnte jedoch nichts dagegen tun. Aber er packte den Stamm und hielt sich daran fest. Es funktionierte: Er rutschte nicht mehr. Langsam zog er sich daran hoch, wieder auf den Felsvorsprung zu. Dann sah er entsetzt, da? die Wurzeln sich aus den Felsspalten losten, eine nach der anderen schnellte heraus und ragte bleich ins Sonnenlicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der ganze Baum sich losen wurde. Plotzlich spurte Chris ein Zerren am Kragen und sah uber sich den Jungen stehen, der ihn wieder auf den Vorsprung zog. Der Junge starrte ihn wutend an. »Kommt endlich!«

»Mein Gott«, sagte Chris und lie? sich schwer atmend auf einen flachen Felsen fallen. »Nur einen Augenblick —«

Ein Pfeil zischte an seinem Ohr vorbei wie eine Kugel. Er spurte den Luftzug. Die Wucht eines solchen Geschosses verbluffte ihn. Voller Angst krabbelte er tief gebuckt den Vorsprung hoch, zog sich von Baum zu Baum. Ein zweiter Pfeil rauschte durch die Stamme. Die Reiter standen oben an der Kante und schauten zu ihnen herunter. Der schwarze Ritter schrie: »Trottel! Idiot!« und schlug den Schutzen wutend und so heftig, da? ihm der Bogen aus der Hand flog. Nun kamen keine Pfeile mehr.

Der Junge zog Chris am Arm weiter. Chris wu?te nicht, wohin dieser Pfad an der Felsflanke entlang fuhrte, aber der Junge schien einen Plan zu haben. Uber ihm wendeten die Reiter ihre Pferde und ritten wieder in den Wald zuruck.

Jetzt lief der Vorsprung in einen schmalen, kaum drei?ig Zentimeter breiten Sims aus, der sich um einen Knick in der Flanke herumbog. Unter dem Sims fiel der Steilhang jah zum Flu? hin ab. Chris starrte zum Flu? hinunter, aber der Junge packte ihn am Kinn und ri? ihm das Gesicht nach oben. »Nicht nach unten sehen! Kommt!« Der Junge druckte sich mit Korper und Armen flach an den Fels und bewegte sich behutsam auf dem Sims vorwarts. Chris, der noch immer heftig atmete, folgte seinem Beispiel. Er wu?te. wenn er zogerte, wurde er in Panik geraten. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und drohte ihn von der Felsflanke wegzuziehen. Er druckte die Wange an den warmen Stein, klammerte sich mit den Fingern an winzige Vorsprunge, kampfte gegen seine Panik an. Chris sah den Jungen um die Ecke verschwinden und bewegte sich weiter. Es war ein scharfer Knick, und ein Stuck des Pfads war weggebrochen, so da? er uber die Lucke steigen mu?te. Doch dann hatte er die Ecke umrundet und seufzte vor Erleichterung. Er sah, da? die steile Felsflanke in einen langen, bewaldeten Hang uberging, der bis hinunter zum Flu? reichte. Der Junge winkte ihm. Noch ein paar Schritte, dann hatte Chris ihn erreicht. »Von hier aus ist es einfacher.« Der Junge lief weiter, und Chris folgte ihm. Doch der Hang war nicht so flach, wie er gedacht hatte. Es war dunkel zwischen den Baumen, steil und schlammig. Der Junge rutschte aus, schlitterte den schlammigen Pfad hinunter und verschwand im Wald. Chris ging, sich an Asten festklammernd, vorsichtig weiter. Dann verlor auch er den Halt, fiel mit dem Hintern in den Schlamm und fing an zu rutschen. Aus irgendeinem Grund dachte er: Ich bin Doktorand in Yale. Ich bin Historiker mit dem Spezialgebiet Geschichte der Technik. Es war, als wollte er sich an einer Identitat festhalten, die sehr schnell aus seinem Bewu?tsein schwand, wie ein Traum, aus dem er erwacht war und den er jetzt verga?.

Kopfuber rutschte Chris durch den Schlamm, knallte gegen Baume und spurte, wie Aste ihm das Gesicht zerkratzten, aber er konnte nichts tun, um seinen Fall zu bremsen. Immer weiter ging es den Hugel hinab, immer weiter.

Mit einem Seufzen stand Marek auf. An Gomez' Leiche war kein Marker. Da war er sich ganz sicher. Kate stand neben ihm und bi? sich auf die Unterlippe. »Ich wei?, da? sie etwas von einem Reser-vemarker gesagt hat. Ich wei? es einfach.« »Aber ich wei? nicht, wo er ist«, sagte Marek.

Unwillkurlich fing Kate an, sich den Kopf zu kratzen. Dabei spurte sie die Perucke und den Schmerz von der Beule auf ihrem Kopf. »Diese verdammte Perucke...« Sie hielt inne. Und starrte Marek an.

Und dann lief sie in den Wald neben dem Pfad. »Wo ist er hingeflogen?« fragte sie. »Was?« »Ihr Kopf.«

Einen Augenblick spater fand sie ihn, und es uberraschte sie, wie klein er wirkte. Ein Kopf ohne Korper ist nicht sehr gro?. Kate versuchte, den Halsstumpf nicht anzusehen.

Sie unterdruckte ihren Ekel, buckte sich und drehte den Kopf um, so da? sie jetzt das graue Gesicht, die leeren Augen sah. Die Zunge hing halb aus dem schlaff geoffneten Mund. Fliegen summten in der Mundhohle.

Sie zog die Perucke von Gomez' Kopf und sah sofort den Keramikmarker. Er war an das Netz an der Innenseite der Perucke geklebt. Sie ri? ihn los. »Hab ihn«, sagte sie.

Kate drehte ihn in der Hand. An der Seite des Markers war ein Knopf und daneben ein kleines Signallampchen. Der Knopf war so klein und schmal, da? man ihn nur mit dem Daumennagel drucken konnte.

Das war er. Sie hatten ihn wirklich gefunden.

Marek kam zu ihr und starrte das Keramikplattchen an.

»Sieht aus, als ware er es«, sagte er.

»Dann konnen wir zuruckkehren«, sagte Kate. »Wann immer wir wollen.«

»Willst du sofort zuruck?« fragte Marek sie.

Sie uberlegte. »Wir sind hier, um den Professor zu holen«, sagte sie. »Und ich denke, das sollten wir auch tun.« Marek grinste.

Und dann horten sie das Donnern von Hufen, und sie sprangen ins Gebusch, nur Sekunden bevor sechs dunkle Reiter den schlammigen Pfad in Richtung Flu? hinuntergaloppierten.

Knietief im Morast des Flu?ufers stolperte Chris vorwarts. Schlamm klebte ihm auf dem Gesicht, in den Haaren, in den Kleidern. Er war so mit Schlamm bedeckt, da? er dessen Gewicht spurte. Ein Stuckchen vor sich sah er den Jungen, er planschte bereits im Wasser und wusch sich.

Chris zwangte sich durch das Gestrupp am Wasserrand und glitt in den Flu?. Das Wasser war eisig, aber ihm war es egal. Er tauchte den Kopf unter, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und rieb sich das Gesicht, um sich vom Schlamm zu befreien.

Der Junge war inzwischen am gegenuberliegenden Ufer aus dem Flu? gestiegen und sa? auf einem Felsen in der Sonne. Er sagte etwas, das Chris nicht horen konnte, aber sein Ohrstopsel ubersetzte: »Zieht Ihr Eure Kleider nicht aus, um zu baden?« »Warum? Du hast es doch auch nicht getan.«

Worauf der Junge nur die Achseln zuckte und erwiderte: »Aber Ihr konnt, wenn Ihr wollt.«

Chris schwamm zum anderen Ufer und stieg aus dem Wasser. Seine Kleidung war noch immer sehr schlammig, aber jetzt, an der Luft, spurte er die Kalte. Er zog sich bis auf Gurtel und Leinenunterhosen aus, wusch die Oberbekleidung im Flu? und breitete sie dann auf den Felsen zum Trocknen aus. Sein Korper war ubersat mit Kratzern, Striemen und Prellungen. Aber seine Haut trocknete bereits, und die Sonne fuhlte sich warm an. Er reckte das Gesicht nach oben und schlo? die Augen. Er horte das leise Singen von Frauen auf den Feldern. Vogelgezwitscher. Das sanfte Platschern des Flusses am Ufer. Und er spurte, wie ein Frieden ihn uberkam, der tiefer und vollstandiger war als alles, was er je erlebt hatte.

Er lag auf den Felsen und war wohl fur ein paar Minuten eingeschlafen, denn beim Aufwachen horte er:

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