»Ich habe den Abt nicht gesehen«, erwiderte sie. »Er war unterwegs.« »Und der Magister behauptet, er kenne es nicht.« »Ja, das behauptet er. Doch ich will den Abt noch einmal fragen, vielleicht morgen.«

Es klopfte an der Tur, eine gedampfte mannliche Stimme war zu horen. Beide drehten sich um. »Das mu? Sir Daniel sein«, sagte er. .»Schnell, Mylord, in Euer Versteck.«

Sir Guy ging hastig zu der Wand, hinter der sie lauerten, zog einen Teppich beiseite, und dann mu?ten sie entsetzt zusehen, wie er eine Tur offnete und direkt neben ihnen in den schmalen Gang trat. Sir Guy starrte sie einen Augenblick lang an und schrie dann: »Die Gefangenen! Alle entkommen! Die Gefangenen!«

Der Schrei wurde aufgenommen von Lady Claire, die nach Soldaten rief.

Im Gang sagte der Professor zu den anderen: »Wenn wir getrennt werden, geht zum Kloster. Sucht Bruder Marcel. Er hat den Schlussel zum Geheimgang. Okay?«

Bevor einer etwas erwidern konnte, sturzten Soldaten in den Gang. Chris spurte, wie Hande ihn am Arm packten und ihn grob davonzerrten.

Sie waren wieder gefangen.

Eine einsame Laute spielte in der Halle, wahrend die Diener die Speisen auftrugen. Lord Oliver und Sir Robert hielten ihre Matressen an den Handen, tanzten nach dem Takt, den der Zeremonienmeister durch Klatschen vorgab, und lachelten begeistert. Als Lord Oliver nach einigen Schritten eine Drehung machte, um sich seiner Partnerin zuzuwenden, mu?te er feststellen, da? sie ihm noch den Rucken zukehrte. Oliver fluchte.

»Nur eine Winzigkeit, Mylord«, sagte der Zeremonienmeister hastig und mit gefrorenem Lacheln. »Wenn Euer Gnaden sich erinnern wollen,

es geht vorwarts-zuruck, vorwarts-zuruck, Drehung, zuruck, und

Drehung, zuruck. Wir haben eine Drehung ausgelassen.«

»Ich habe keine Drehung ausgelassen«, sagte Oliver.

»In der Tat, Mylord, das habt Ihr nicht«, sagte Sir Robert sofort. »Es war ein Schnorkel in der Musik, der diese Verwirrung verursacht hat.«

Er warf dem Jungen, der die Laute spielte, einen bosen Blick zu.

»Nun denn.« Oliver nahm seine Position wieder ein und streckte dem

Madchen die Hand hin. »Wie geht es?« fragte er. »Vorwarts-zuruck,

vorwarts-zuruck, Drehung, zuruck...«

»Sehr gut«, sagte der Zeremonienmeister lachelnd und klatschte wieder den Takt. »Genau, jetzt habt Ihr's...«

Die Musik horte auf. Lord Oliver drehte sich verargert um und sah Sir Guy mit Wachen, die den Professor und einige andere umringten. »Was ist denn jetzt?«

»Mylord, es scheint, der Magister hat Gefahrten.« »Ah? Was fur Gefahrten?«

Lord Oliver ging zu der Gruppe. Er sah den Hainauter, den torichten Iren, der nicht reiten konnte, und eine kleine, aber trotzig dreinblickende Frau. »Was fur Gefahrten sind das?« »Mylord, sie behaupten, die Gehilfen des Magisters zu sein.« »Gehilfen?« Oliver hob eine Augenbraue und musterte die Gruppe. »Mein lieber Magister, als Ihr sagtet, da? Ihr Gehilfen hattet, war mir nicht klar, da? sie sich bereits mit Euch hier in der Burg befanden.« »Ich wu?te es selbst nicht«, sagte der Professor. Lord Oliver schnaubte. »Ihr konnt keine Gehilfen sein.« Er schaute von einem zum anderen. »Ihr seid um zehn Jahre zu alt. Und heute morgen horte ich von Euch kein Wort, da? Ihr den Magister kennt... Ihr sprecht nicht wahr. Keiner von Euch.« Er schuttelte den Kopf und wandte sich an Sir Guy. »Ich glaube ihnen nicht, aber ich werde die Wahrheit herausfinden. Doch nicht jetzt. Bringt Sie ins Verlies.« »Mylord, sie waren im Verlies, als sie entkamen.« »Sie entkamen? Wie?« Er hob ungeduldig die Hand. »Was ist unser sicherster Ort?«

Robert de Kere kam zu ihm und flusterte ihm ins Ohr. »Mein Turmzimmer? Wo ich meine teure Alice verwahre?« Oliver lachte auf. »Das ist in der Tat sicher. Ja, sperrt sie dort ein.« »Wie Ihr befehlt, Mylord«, sagte Sir Guy.

»Diese >Gehilfen< werden meine Gewahr fur das Wohlverhalten ihres Herrn sein.« Oliver lachelte duster. »Ich glaube, Magister, Ihr werdet noch lernen, mit mir zu tanzen.«

Die drei jungen Leute wurden grob davongezerrt. Lord Oliver wedelte mit der Hand, und der Lautenspieler und der Zeremonienmeister entfernten sich mit einer stummen Verbeugung. Die Frauen ebenfalls. Sir Robert blieb noch zuruck, aber nach einem scharfen Blick von Sir Oliver verlie? er ebenfalls den Saal.

Jetzt waren nur noch die Diener anwesend, die die Tische deckten.

Ansonsten war alles still im Saal.

»Nun, Magister, was fur ein Spiel ist dies?«

»Gott ist mein Zeuge, sie sind wirklich meine Gehilfen, wie ich Euch sagte«, erwiderte der Professor. »Gehilfen? Einer ist ein Ritter.« »Er steht in meiner Schuld, und deshalb dient er mir.« »Ach so? Warum steht er in Eurer Schuld?« »Ich rettete seinem Vater das Leben.«

»In der Tat?« Oliver ging um den Professor herum. »Wie habt Ihr es gerettet?«

»Mit Arzneien.«

»Woran litt er?«

Der Professor tippte sich ans Ohr und sagte: »Mylord Oliver, wenn Ihr Euch versichern wollt, la?t sofort den Ritter Marek zuruckbringen, und er wird Euch sagen, was ich jetzt sage, da? ich seinen Vater rettete, der an der Wassersucht litt, mit dem Kraut Arnika, und da? dies passierte in Hampstead, einem Weiler nahe London, im Herbst des letzten Jahres. La?t ihn holen, und fragt ihn.« Oliver sagte nichts. Er starrte den Professor nur an.

Das Schweigen wurde unterbrochen von einem Mann in wei?-bepuderter Tracht, der von einer Nebentur her sagte: »Mylord.« Oliver wirbelte herum. »Was ist denn jetzt schon wieder?« »Mylord, eine Raffinesse.« »Eine Raffinesse? Nun gut - aber schnell.«

»Mylord«, sagte der Mann, verbeugte sich und schnippte gleichzeitig mit den Fingern. Zwei Jungen kamen mit einem Tablett auf den Schultern herbeigeeilt.

»Mylord, die erste Raffinesse — Kaldaunen.«

Auf dem Tablett lagen helle Darmschlingen, Hoden und Penis eines gro?en Tiers. Oliver ging um das Tablett herum und sah sich alles genau an.

»Die Innereien eines Ebers, wie frisch erlegt und geschlachtet«, sagte er nickend. »Sehr uberzeugend.« Er wandte sich an den Professor. »Gefallt Euch die Arbeit meiner Kuche?«

»Sie gefallt mir sehr, Mylord. Die Raffinesse zeugt von Tradition und handwerklichem Konnen. Vor allem die Hoden sind sehr gut gemacht.« »Vielen Dank, Sir«, sagte der Koch mit einer Verbeugung. »Sie bestehen aus erhitztem Zucker und Dorrpflaumen, wenn es beliebt. Und der Darm besteht aus aneinandergereihten Fruchten mit einer Panade aus Ei und Bier und dann Honig.« »Gut, gut«, sagte Sir Oliver. »Tragst du das vor dein zweiten Gang auf?«

»Das werde ich, Lord Oliver.«

»Und was ist mit der anderen Raffinesse?«

»Marzipan, Mylord, gefarbt mit Lowenzahn und Safran.« Der Koch verbeugte sich und winkte, und zwei andere Jungen kamen mit einem weiteren Tablett herbeigelaufen. Darauf stand ein riesiges Modell der Festung von Castelgard, die Mauern uber eineinhalb Meter hoch und von einem hellen Gelb, das der Farbe des realen Vorbilds entsprach. Die Nachbildung war exakt bis ins kleinste Detail, sogar winzige Fahnen wehten auf den zuckrigen Zinnen.

»Elegant! Gut gemacht!« rief Oliver. Er freute sich wie ein kleines Kind und klatschte vor Vergnugen in die Hande. »Ich bin sehr zufrieden.«

Er wandte sich an den Professor und deutete auf das Modell. »Ihr wi?t, da? der Schurke Arnaut schnell gegen unsere Burg vorruckt und ich mich gegen ihn verteidigen mu??« Johnston nickte. »Das wei? ich, ja.«

»Was ratet Ihr mir, wie soll ich meine Truppen in Castelgard verteilen?«

»Mylord«, sagte Johnston. »Ich wurde Castelgard uberhaupt nicht verteidigen.«

»Oh? Warum sagt Ihr das?« Oliver ging zu einem Tisch, nahm einen Kelch und go? sich Wein ein.

»Wie viele Soldaten brauchtet Ihr, um die Burg den Gascognern abzunehmen?«

»Funfzig oder sechzig, mehr nicht.« »Dann habt Ihr Eure Antwort.«

»Aber wir haben nicht direkt angegriffen. Wir haben List und

Durchtriebenheit benutzt.«

»Und der Erzpriester wird das nicht tun?«

»Er mag es versuchen, aber wir sind darauf gefa?t. Wir werden auf seinen Angriff vorbereitet sein.«

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