»Vielleicht«, sagte Johnston und drehte sich um. »Vielleicht auch nicht.«
»Dann seid Ihr also doch ein Seher...«
»Nein, Mylord, ich kann nicht in die Zukunft schauen. Diese Fahigkeit habe ich nicht. Ich gebe Euch nur meinen Rat als Mann. Und ich sage Euch, der Erzpriester wird nicht weniger listenreich sein als Ihr.« Oliver runzelte die Stirn und trank in murrischem Schweigen. Dann schien er plotzlich den Koch und die Jungen mit den Tabletts wieder zu bemerken, die alle stumm dastanden. Er winkte sie davon. Als sie sich entfernten, rief er ihnen nach: »Achtet mir gut auf diese Raffinessen. Es darf ihnen nichts geschehen, bis die Gaste sie sehen.« Gleich darauf waren sie wieder allein. Er wandte sich an Johnston und deutete auf die Wandbehange. »Und auch dieser Burg nicht.«
»Mylord«, sagte Johnston, »Ihr mu?t diese Burg gar nicht verteidigen, da Ihr doch eine andere und viel bessere habt.« »Ha? Ihr sprecht von La Roque? Aber La Roque hat eine Schwache. Es gibt dort einen Geheimgang, den ich nicht finden kann.« »Und woher wi?t Ihr, da? dieser Gang uberhaupt existiert?« »Er mu? existieren«, sagte Oliver, »weil der alte Laon der Baumeister von La Roque war. Ihr kennt Laon? Nein? Er war der Abt des Klosters vor dem gegenwartigen Abt. Dieser alte Bischof war sehr gerissen, und immer wenn man ihn beim Umbau einer Stadt, einer Burg oder einer Kirche um Hilfe bat, hinterlie? er ein Geheimnis, das nur er kannte. Jede Burg hat einen unbekannten Gang oder eine unbekannte Schwache, die Laon einem Angreifer verkaufen konnte, falls es notig sein sollte. Der alte Laon hatte ein scharfes Auge fur die Interessen der Mutter Kirche — und noch ein viel scharferes fur seine eigenen.« »Und doch«, erwiderte Johnston, »wenn niemand wei?, wo dieser Gang sich befindet, ist es gut moglich, da? er gar nicht existiert. Es gibt auch noch andere Uberlegungen, Mylord. Wie viele Soldaten habt Ihr gegenwartig hier?«
»Zweihundertzwanzig bewaffnete Reiter, zweihundertfunfzig Bogenschutzen und zweihundert Pikeniere.«
»Arnaut hat doppelt so viele«, sagte Johnston. »Vielleicht noch mehr.« »Glaubt Ihr?«
»Er ist zwar in der Tat nicht besser als ein gemeiner Dieb, aber jetzt ist er ein beruhmter Dieb, weil er gen Avignon marschiert und vom Papst verlangt, da? er mit seinen Mannern speise und dann noch zehntausend
Livres zahle, damit er die Stadt nicht zerstore.«
»Wahrhaftig?« fragte Lord Oliver und machte ein besorgtes Gesicht.
»Das habe ich noch nicht gehort. Naturlich gibt es Geruchte, da? Arnaut vorhat, gen Avignon zu marschieren, vielleicht schon nachsten Monat.
Und alle glauben, da? er den Papst bedrohen wird. Aber er hat es noch nicht getan.« Er runzelte die Stirn. »Oder doch?«
»Ihr sprecht wahr, Mylord«, erwiderte Johnston sofort. »Ich wollte damit sagen, da? die Kuhnheit seines Vorhabens taglich neue Soldaten an seine Seite zieht. Inzwischen hat er eintausend in seiner Kompanie.
Vielleicht schon zweitausend.«
Oliver schnaubte. »Ich furchte mich nicht.«
»Naturlich nicht«, sagte Johnston, »aber diese Burg hat einen flachen Graben, nur eine einzige Zugbrucke, nur ein einzelnes Tor, keine Fallgrube und nur ein einziges Fallgitter. Euer Schutzwall im Osten ist niedrig. Lagerplatz fur Nahrung und Wasser habt Ihr nur fur ein paar Tage. Eure Garnison drangt sich in den kleinen Hofen, und Eure Manner sind nicht leicht zu manovrieren.«
Darauf erwiderte Oliver: »Ich sage Euch, mein Schatz ist hier, und ich werde hier bei ihm bleiben.«
»Und ich rate Euch«, sagte Johnston, »nehmt mit, was Ihr konnt, und brecht auf. La Roque steht auf einer Anhohe, mit steilen Felshangen auf zwei Seiten. Auf der dritten Seite hat es einen tiefen Graben, und es hat zwei Tore, zwei Fallgitter, zwei Zugbrucken. Auch wenn die Angreifer es schaffen, durch das au?ere Tor einzudringen —«
»Mylord«, sagte Johnston, »ich kann Euch kein Berater sein, wenn Ihr mir ausweicht.«
»Ausweichen? Ich weiche Euch nicht aus, Magister. Ich spreche offen und ehrlich und halte nichts zuruck.«
»Wie viele Manner habt Ihr in La Roque?«
Oliver wand sich. »Dreihundert.«
»Dann ist Euer Schatz bereits in La Roque.«
Lord Oliver sah ihn mi?trauisch an. Er sagte nichts, ging um Johnston herum und sah ihn noch einmal argwohnisch an. Dann sagte er: »Ihr drangt mich, dorthin zu gehen, indem Ihr meine Angste schurt.« »Das tue ich nicht.«
»Ihr wollt, da? ich nach La Roque gehe, weil Ihr wi?t, da? diese Burg eine Schwache hat. Ihr seid eine Kreatur Arnauts, und Ihr bereitet ihm den Weg fur seinen Angriff.«
»Mylord«, sagte Johnston, »wenn La Roque so minderwertig ist, wie Ihr sagt, warum habt Ihr dann Euren Schatz dort versteckt?« Oliver schnaubte mi?mutig. »Ihr seid geschickt mit Worten.« »Mylord, Eure eigenen Taten sagen Euch, welche Burg die bessere ist.« »Nun gut. Aber Magister, wenn ich nach La Roque gehe, geht Ihr mit mir. Und wenn ein anderer den geheimen Eingang findet, bevor Ihr ihn mir verraten habt, werde ich selbst dafur sorgen, da? Ihr sterbt auf eine Art, die Edwards Ende« — er lachte uber seinen Witz - »als Freundlichkeit erscheinen la?t.« »Ich verstehe, was Ihr meint«, sagte Johnston. »Ihr versteht? Dann nehmt es Euch zu Herzen.« Chris Hughes blickte zum Fenster hinaus.
Zwanzig Meter unter ihm lag der Burghof im Schatten. Manner und Frauen in Festkleidung stromten zu den hell erleuchteten Fenstern des Festsaals. Schwach war Musik zu horen. Der festliche Anblick machte ihn noch niedergeschlagener, er kam sich noch einsamer und verlassener vor. Sie sollten alle drei umgebracht werden -und es gab nichts, was sie dagegen tun konnten.
Ihr Gefangnis war eine kleine Kammer hoch oben im Hauptturm der Burg, mit Blick auf die Burgmauern und die Stadt dahinter. Es war das Zimmer einer Frau, mit einem Spinnrad und einem Altar auf der einen Seite, oberflachlichen Zeichen der From-migkeit und Demut, die jedoch formlich erdruckt wurden von dem riesigen Bett mit roten Samtbezugen und Pelzbesatz in der Mitte des Zimmers. Die Tur bestand aus massiver Eiche und besa? ein neues Schlo?. Sir Guy hatte die Tur eigenhandig verschlossen, nachdem er eine Wache im Zimmer, auf einem Hocker neben der Tur, und zwei drau?en postiert hatte. Diesmal gingen sie kein Risiko ein.
Marek sa? auf dem Bett und starrte gedankenverloren ins Leere. Vielleicht lauschte er aber auch, er hatte sich eine Hand ans Ohr gelegt. Kate ging unterdessen ruhelos von einem Fenster zum anderen und verglich die Ausblicke. Am hintersten Fenster beugte sie sich hinaus, schaute nach unten, kehrte dann zum Fenster zuruck, an dem Chris stand, und beugte sich auch hier hinaus.
»Der Ausblick hier ist auch nicht anders«, sagte Chris. Ihre Ruhelosigkeit irritierte ihn.
Dann sah er, da? sie mit der Hand die Au?enmauer neben dem Fenster abtastete und die Beschaffenheit von Steinen und Mortel prufte. Er sah sie fragend an.
»Vielleicht«, sagte sie mit einem Nicken. »Vielleicht.«
Chris streckte nun ebenfalls die Hand hinaus und tastete die Mauer ab.
Sie war gerundet, fast glatt und fiel senkrecht zum Burghof hin ab.
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein«, sagte sie, »absolut nicht.«
Er schaute noch einmal hinaus. Im Hof waren neben den Hoflingen noch viele andere zu sehen. Einige Burschen scherzten und lachten, wahrend sie Rustungen polierten und die Pferde der Ritter versorgten. Rechts patroullierten Soldaten auf der Mauerkrone. Es konnte leicht passieren, da? einer sich umdrehte und hochschaute, falls ihre Bewegungen ihm ins Auge fielen. »Man wird dich sehen.«
»An diesem Fenster, ja. Am anderen nicht. Unser einziges Problem ist der da.« Sie nickte in Richtung der Wache neben der Tur. »Konnt ihr mir nicht irgendwie helfen?«
Marek, der noch immer auf dem Bett sa?, sagte: »Ich kummere mich darum.«
»Was soll denn das?« sagte Chris sehr verargert. Er sprach laut. »Mir traust du das wohl nicht zu, was?« »Nein, das tue ich nicht.«
»Verdammt, ich lasse mich von dir nicht langer so behandeln«, sagte Chris. Er schien wutend und auf der Suche nach einer Moglichkeit, Dampf abzulassen. Schlie?lich packte er den kleinen Hocker neben dem Spinnrad und sturzte damit auf Marek zu.
Die Wache sah es, rief hastig: