merkte uberhaupt nicht, da? Marek hinter ihn trat und ihm einen metallenen Kerzenhalter uber den Kopf zog. Er sackte zusammen, und Marek fing ihn auf und lie? ihn sachte zu Boden gleiten. Blut quoll aus dem Kopf des Mannes auf einen orientalischen Teppich. »Ist er tot?« fragte Chris und starrte Marek an.
»Ist doch egal«, sagte Marek. »Red einfach leise weiter, damit die drau?en unsere Stimmen horen.«
Sie drehten sich um, aber Kate war bereits verschwunden.
Ist auch nichts anderes als Freeclimbing, sagte sich Kate, die zwanzig
Meter uber dem Boden an der Mauer hing.
Der Wind fuhr ihr in die Kleider und zerrte an ihr. Mit den Fingerspitzen klammerte sie sich an kleinen Mortelvorsprungen fest. Manchmal zerbrockelte der Mortel, und sie mu?te nachgreifen. Doch ab und zu fand sie Kerben im Mortel, die so gro? waren, da? sie ihre Fingerspitzen hineinstecken konnte.
Sie hatte schon hohere Schwierigkeitsgrade gemeistert. Jedes Gebaude inYale war schwieriger, allerdings hatte sie dort Kreide fur die Hande, richtige Kletterschuhe und eine Sicherheitsleine gehabt. Hier war sie ungesichert.
Sie war zum westlichen Fenster hinausgeklettert, weil es sich im Rucken der Wachen befand, weil es zur Stadt hinausging und so die Wahrscheinlichkeit geringer war, da? man sie vom Hof aus sah, und weil es von dort aus die kurzeste Entfernung zum nachsten Fenster war - dem Fenster am Ende des Gangs, der an ihrer Kammer vorbeifuhrte. Es ist nicht weit, sagte sie sich. Nur nichts ubersturzen. Keine Eile. Eine Hand, dann ein Fu?... die nachste Hand...
Fast da, dachte sie. Fast da.
Dann beruhrte sie den steinernen Fenstersims und fand ihren ersten sicheren Handhalt. Sie zog sich einhandig hoch und spahte vorsichtig in den Gang. Keine Wachen. Der Gang war leer.
Kate zog sich mit beiden Handen hoch, schwang sich auf den Sims und lie? sich drinnen zu Boden gleiten. Jetzt stand sie im Gang vor der verschlossenen Tur. »Geschafft«, sagte sie leise.
Marek fragte: »Wachen?«
»Nein, aber auch kein Schlussel.«
Sie untersuchte die Tur. Sie war dick, massiv.
»Scharniere?« fragte Marek.
»Ja. Au?en.« Sie bestanden aus schwerem Schmiedeeisen. Kate wu?te, was Marek von ihr wissen wollte. »Ich sehe die Stifte.« Wenn sie die Stifte aus den Scharnieren stemmen konnte, ware die Tur leicht aufzubrechen. »Aber ich brauche einen Hammer oder was Ahnliches. Hier ist nichts, was ich benutzen kann.« »Such dir etwas«, sagte Marek leise. Sie lief den Gang hinunter.
»De Kere«, sagte Lord Oliver, als der Ritter mit der Narbe ins Zimmer kam. »Der Magister rat mir, ich soll nach La Roque umziehen.« De Kere nickte wissend. »Das hie?e, viel riskieren, Sire.« »Und das Risiko, wenn ich bleibe?«
»Wenn der Rat des Magisters aufrichtig und gut und ohne finstre Absicht ist, warum verstellten sich dann seine Gehilfen, als sie das erste Mal an Euren Hof kamen? Eine solche Verstellung ist kein Zeichen von Aufrichtigkeit, Mylord. Ich rate Euch, la?t sie zuerst ihr Verhalten rechtfertigen, bevor Ihr Vertrauen setzt in diesen neuen Magister und seinen Rat.«
»So sei es«, sagte Oliver. »Bringt mir auf der Stelle die Gehilfen, und wir werden sie fragen, was Ihr wissen wollt.«
»Mylord.« De Kere verbeugte sich und verlie? das Zimmer.
Kate kam aus dem Treppenhaus und mischte sich unter die Menge im Burghof. Irgendwo mu?te sie den Werkzeugkasten eines Schreiners auftreiben, den Hammer eines Schmieds oder vielleicht einige der Werkzeuge, die zum Beschlagen von Pferden benutzt wurden. Links von ihr liefen einige Burschen mit Pferden, und sie folgte ihnen. In dem aufgeregten Getummel achtete niemand auf sie. Muhelos schaffte sie es bis zur ostlichen Mauer und uberlegte gerade, wie sie die Burschen ablenken konnte, als sie direkt vor sich einen Ritter sah, der bewegungslos dastand und sie anstarrte. Robert de Kere.
Ihre Blicke trafen sich kurz, dann drehte sie sich um und rannte los. Hinter sich horte sie de Kere nach Hilfe rufen und von ringsumher die Antwortrufe von Soldaten. Sie zwangte sich durch die Menge, die plotzlich ein Hindernis darstellte, Hande, die nach ihr griffen, an ihren Kleidern zerrten. Es war wie ein Alptraum. Um der Menge zu entkommen, lief sie durch die nachstliegende Tur und knallte sie hinter sich zu.
Sie fand sich in der Kuche wieder.
Der Raum war entsetzlich hei? und noch uberfullter als der Hof. Riesige eiserne Kessel simmerten uber der gigantischen Feuerstelle. Ein Dutzend Kapaune drehten sich auf Spie?en, die Kurbel wurde von einem Jungen gedreht. Sie blieb stehen, weil sie nicht so recht wu?te, was sie tun sollte, und in diesem Augenblick kam de Kere durch die Tur, fauchte
Sie duckte sich und krabbelte zwischen den Tischen hindurch, auf denen Speisen vorbereitet wurden. Das Schwert sauste auf einen Tisch, Geschirr hupfte klappernd. Die Koche fingen an zu schreien. Sie sah ein riesiges Modell der Burg aus einer Art Kuchenteig und sturzte darauf zu. De Kere war direkt hinter ihr.
Die Koche riefen:
De Kere holte wieder aus. Kate duckte sich, und das Schwert schlug der Burg die Zinnen ab. Wei?er Puderzucker staubte hoch. Die Koche kreischten entsetzt auf und fielen von allen Seiten uber de Kere her. Das sei Lord Olivers Lieblingsstuck, schrien sie, er habe es gutgehei?en und Sir Robert durfe keinen weiteren Schaden an-richten. Robert walzte sich auf dem Boden, fluchte und versuchte, sie abzuschutteln.
In dem Durcheinander lief sie wieder zur Tur hinaus ins Nachmittagslicht.
Rechts sah sie die geschwungene Mauer der Kapelle, die eben repariert wurde. Eine Leiter lehnte an der Wand, und oben am Dach, wo Ziegel ersetzt werden mu?ten, war ein provisorisches Gerust zu sehen. Kate wollte weg von den vielen Menschen. Sie wu?te, da? es auf der anderen Seite der Kapelle einen schmalen Durchgang zwischen der Kapelle und der Au?enwand des Burgturms gab. Wenn sie dorthin gelangte, ware sie wenigstens weg von der Menge. Als sie auf den Durchgang zulief, horte sie hinter sich de Kere, der die Kuche ebenfalls wieder verlassen hatte, einigen Soldaten etwas zurufen. Sie lief schnell, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Kaum war sie um die Ecke der Kapelle gebogen und drehte sich um, sah sie, da? Soldaten in der anderen Richtung um die Kapelle herumliefen; sie wollten ihr offenbar am Ende des Durchgangs den Weg abschneiden. Befehle bellend kam Sir Robert um die Ecke — und blieb abrupt stehen. Seine Soldaten ebenfalls, und alle murmelten verwirrt. Sie starrten in den nur gut einen Meter breiten Durchgang zwischen Kapelle und Burg. Der Durchgang war leer. Am anderen Ende tauchten Soldaten auf und starrten sie ebenfalls an. Die Frau war verschwunden.
Kate hing in drei Meter Hohe an der Kapellenwand, halb verborgen von der verzierten Einfassung des Kapellenfensters und dicken Efeuranken. Dennoch ware sie zu sehen gewesen, wenn jemand hochgeschaut hatte. Aber es war dunkel im Durchgang, und keiner hob den Kopf. Sie horte de Kere wutend schreien: »Geht zu den anderen Gehilfen und bringt sie um, aber sofort!«
Die Soldaten zogerten. »Aber Sir Robert, sie sind die Gehilfen des
Magisters von Lord Oliver —«
»Und Lord Oliver selbst befiehlt es. Bringt sie alle um!«
Die Soldaten rannten davon und verschwanden in der Burg.
De Kere fluchte. Er redete mit einem Soldaten, aber sie fluster-ten. In Kates Ohrstopsel rauschte es, und sie konnte nichts verstehen. Im Grunde genommen war sie sowieso uberrascht, da? sie so viel hatte verstehen konnen.
Wie kam das? Eigentlich war sie zu weit weg, um de Kere so deutlich zu horen. Doch seine Stimme war klar, fast wie verstarkt. Vielleicht die Akustik im Durchgang...
Als sie nach unten schaute, sah sie, da? einige Soldaten zuruckgeblieben waren. Sie konnte nicht wieder nach unten klettern.
Also beschie? sie, aufs Dach zu steigen, bis alles etwas ruhiger geworden war. Das Dach der Kapelle lag noch im Sonnenlicht: ein schlichter, ziegelgedeckter Spitzgiebel mit kleinen Lucken, wo
Reparaturen durchgefuhrt wurden. Die Dachneigung war ziemlich steil.
Kate kauerte sich auf die Traufe und sagte leise: »Andre.«
Ein Knistern. Sie meinte, Mareks Stimme zu horen, aber die
Ubertragung war ziemlich schlecht.