Wahrend ich Platz nahm, klopfte er auf den vor ihm liegenden Brief.

»Nach diesem Schreiben hier sind Sie der richtige Mann fur mich, und ich brauche mich nicht weiter umzusehen. Sagen Sie, sind Sie mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut?« Ich erwiderte, da? ich glaubte, seinen diesbezuglichen Anforderungen entsprechen zu konnen.

»Sagen Sie mir zum Beispiel, falls ich eine Party fur Herzoge, Grafen, Barone und dergleichen auf meinem Landsitz veranstalten wurde, waren Sie in der Lage, diese nach der Rangordnung beim Dinner zu placieren?«

»Selbstverstandlich, ohne irgendwelche Schwierigkeiten«, antwortete ich lachelnd.

Wir erorterten noch einige Formalitaten, und dann konnte ich mich als engagiert betrachten. Was Mr. Ryland wunschte, war ein Privatsekretar, der vertraut sein mu?te mit den Gepflogenheiten der englischen Gesellschaft, au?erdem hatte er noch einen Sekretar und eine Korrespondentin. Zwei Tage spater fuhr ich hinaus nach »Hatton Chase«, dem Landsitz des Herzogs von Loamshire, den der amerikanische Millionar fur die Dauer von sechs Monaten gemietet hatte. Meine Obliegenheiten verursachten mir keinerlei Schwierigkeiten, und da ich bereits fruher in meinem Leben Privatsekretar eines aktiven Parlamentsmitgliedes war, fuhlte ich mich jeder Situation gewachsen. Mr. Ryland veranstaltete gewohnlich an jedem Wochenende eine gro?e Party, jedoch verlief der Rest der Woche vollkommen ruhig. Ich sah sehr wenig von Mr. Appleby, dem amerikanischen Sekretar, doch schien er mir ein angenehmer, typischer Amerikaner und sehr gewissenhaft in seiner Arbeit zu sein. Miss Martin, die Korrespondentin, sah ich ziemlich oft. Sie war ein hubsches Madchen von etwa drei- bis vierundzwanzig Jahren, mit rotbraunem Haar und braunen Augen, die ab und zu sehr schelmisch dreinblicken konnten, doch fur gewohnlich hielt sie sie zuchtig gesenkt. Ich hatte den Eindruck, da? sie ihren Arbeitgeber weder schatzte noch ihm vertraute, obschon sie naturlich sorgfaltig darauf bedacht war, sich nichts anmerken zu lassen. Es kam jedoch die Zeit, als ich unerwartet in ihr Vertrauen gezogen wurde. Ich hatte alle Mitglieder des Haushaltes genau uberpruft. Einige der Bediensteten waren neu engagiert worden, namlich ein Diener und ein Hausmadchen. Der Butler, die Wirtschafterin und die Kochin gehorten zum Stammpersonal des Herzogs und hatten sich bereit erklart, im Hause zu bleiben. Die Hausmadchen erschienen mir unwichtig. Mit James, dem zweiten Diener, befa?te ich mich zuerst sehr eingehend, jedoch wurde mir bald klar, da? er nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Er war durch den Butler eingestellt worden. Eine Person, der ich weitaus mehr Beachtung schenkte, war Deaves, Rylands Kammerdiener, den er von New York mitgebracht hatte. Ein geburtiger Englander, unnahbar, der auf mich einen verdachtigen Eindruck machte. Drei Wochen war ich bereits in »Hatton Chase«, doch kein auch noch so geringer Vorfall hatte sich ereignet, der Anla? gegeben halte, unsere Theorie zu bestarken. Auch nicht eine Spur von der Tatigkeit der Gro?en Vier war zu entdecken. Mr. Ryland verkorperte einen Mann von uberwaltigender Macht und Personlichkeit, so da? ich bereits glaubte, Poirot habe einen Irrtum begangen, als er ihn mit dieser gefurchteten Organisation in Verbindung brachte. Ich horte sogar, da? er den Namen von Poirot wahrend eines Dinners erwahnte. »Ein wundervoller kleiner Herr, sagt man, aber er ist etwas unzuverlassig. Wie konnte man das ahnen? Ich ubertrug ihm einen Auftrag - und er lie? mich im letzten Augenblick im Stich.

Ich halte seit dieser Zeit nicht mehr sehr viel von dem beliebten Monsieur Hercule Poirot!«

Ich fand in Augenblicken wie diesem meinen Backenbart sehr angebracht! Und dann erzahlte mir Miss Martin eines Tages eine ziemlich seltsame Geschichte. Ryland war fur einen Tag abwesend, er war nach London gefahren und hatte Mr. Appleby mitgenommen.

Miss Martin und ich gingen nach dem Tee zusammen im Garten spazieren. Ich mochte das Madchen sehr gern, sie war so naturlich und unbefangen, und ich merkte, da? sie bedruckt schien. Nach einigem Zogern kam es heraus. »Wissen Sie, Major Neville«, sagte sie, »ich denke tatsachlich daran, meinen Posten aufzugeben.«

Ich sah sie mit leichtem Erstaunen an, und sie fuhr eilig fort: »Oh, einesteils wei? ich, da? ich eine gutbezahlte Stellung habe; die meisten Leute wurden vielleicht sagen, ich sei furchtbar toricht, dies nicht einzusehen. Ich kann jedoch keine Ausfalligkeiten vertragen, Major Neville. Beschimpft zu werden wie ein Rekrut ist mehr, als ich ertragen kann. Kein Gentleman tut so etwas.«

»Hat Ryland Sie denn beschimpft?« Sie nickte.

»Er ist naturlich immer sehr erregt und ungeduldig. Das lie?e sich noch aushalten, denn es gehort nun einmal zur taglichen Arbeit. Jedoch so ganzlich aus der Rolle zu fallen - und dazu ganz ohne Grund! Er hat mich wirklich so angesehen, als wenn er mich toten wollte. Und, wie ich bereits sagte, ganz grundlos.«

»Erzahlen Sie mir doch bitte mehr daruber«, bat ich au?erst interessiert.

»Wie Sie wissen, offne ich alle Briefe mit Rylands Anschrift. Einige davon ubergebe ich sofort Mr. Appleby, andere erledige ich gleich selbst, aber ich mu? sie vorher sorgfaltig durchsehen. Nun gibt es gewisse Briefe, und zwar solche auf blauem Papier, die mit einer kleinen Vier in der Ecke bezeichnet sind -Verzeihung, sagten Sie etwas?« Ich war im Moment nicht in der Lage gewesen, einen leisen Ausruf zu unterdrucken, jedoch schuttelte ich eifrig meinen Kopf und bat sie fortzufahren. »Well, wie ich bereits sagte, habe ich die strikte Anweisung, sie nie zu offnen, sondern beim Eintreffen dieser Briefe sie auf schnellstem Wege Mr. Ryland personlich zu ubergeben. Naturlich verfahre ich stets dementsprechend. Nun hatten wir aber gestern morgen eine ungewohnlich umfangreiche Post, und ich offnete alle Briefe in schrecklicher Eile. Irrtumlicherweise offnete ich auch einen dieser Briefe. Sobald ich gesehen hatte, was geschehen war, uberbrachte ich ihn Mr. Ryland und entschuldigte mich. Zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen steigerte er sich in einen furchterlichen Wutanfall. Wie ich Ihnen bereits sagte, war ich zu Tode erschrocken.«

»Ich wu?te zu gern, was der Brief enthalten hatte, da? er sich derart vergessen konnte.«

»Absolut gar nichts - das ist namlich das Seltsamste daran. Ich hatte ihn gelesen, bevor ich meinen Irrtum entdeckte. Er war nur ganz kurz gehalten. Ich kann mich noch Wort fur Wort daran erinnern, und nichts war darin gestanden, da? jemand so au?er sich geraten konnte.«

»Sie konnen es wortlich wiederholen, sagten Sie?« ermunterte ich sie.

Sie uberlegte eine Weile und wiederholte sodann langsam, wahrend ich mir die Worte einpragte, folgendes:

»Dear Sir. Ich mu? darauf drangen, da? Sie das Anwesen jetzt sehen. Dies ist wirklich wichtig. Falls Sie den Steinbruch auch kaufen, sollten siebzehntausend genugen, doch sind 11 % Provision zuviel, 4 °/o dagegen reichlich. Ihr sehr ergebener Arthur Leversham.«

Miss Martin fuhr fort:

»Augenscheinlich dachte Mr. Ryland daran, irgendein Gut kauflich zu erwerben. Ich habe meinerseits das Gefuhl, da? ein Mann, der uber solch eine Kleinigkeit derart in Wut gerat, als gefahrlich bezeichnet werden kann. Was denken Sie, da? ich tun soll, Major Neville? Sie haben doch auf jeden Fall mehr Welterfahrung als ich.«

Ich beschwichtigte das Madchen, so gut ich es vermochte, und erklarte ihr, da? Mr. Ryland wahrscheinlich an der bei den Amerikanern so verbreiteten schlechten Verdauung leide. Als sie mich dann spater verlie?, schien sie wieder ganz beruhigt zu sein. Aber ich war nicht ganz mit mir selbst zufrieden. Als das Madchen gegangen war, nahm ich mein Notizbuch heraus und schrieb den Brief nieder, den ich solange im Gedachtnis behalten hatte. Was bedeutete das anscheinend so unverdachtig klingende Schreiben? Betraf es irgendein Geschaft, welches Ryland abschlie?en wollte, und war er bestrebt, nichts davon in die Offentlichkeit kommen zu lassen, bevor es perfekt war? Dieses war eine durchaus glaubhafte Erklarung. Dann erinnerte ich mich aber an die Zahl Vier, mit welcher der Umschlag bezeichnet war, und hatte das Gefuhl, da? ich endlich der Sache auf der Spur war, die uns schon so lange beschaftigte. Wahrend des ganzen Abends und auch den gro?ten Teil des nachsten Tages ratselte ich an dem Brief herum - und dann kam mir plotzlich die Erleuchtung. Die Zahl Vier war der Schlussel. Wenn man jedes vierte Wort des Textes las, so lie? sich ein vollig veranderter Inhalt erkennen. »Mu? Sie sehen wichtig Steinbruch siebzehn elf vier. « Die Losung der Zahlen war einfach. Mit siebzehn war der 17. Oktober gemeint. Dieser war morgen, elf bedeutete die Uhrzeit und vier die Unterschrift -entweder bezogen auf die geheimnisvolle Nummer vier selbst -oder andernfalls das Zeichen der Gro?en Vier. Der Steinbruch lie? auch keinen Zweifel aufkommen. Es gab einen gro?en verlassenen Steinbruch auf dem Anwesen, etwa zwei Kilometer vom Hause entfernt, ein einsamer Ort und ideal fur ein geheimes Zusammentreffen.

Nach einiger Uberlegung war ich versucht, das Risiko selbst zu ubernehmen, denn es hatte viel zu meinem Stolz beigetragen, einmal etwas ohne Poirot ausgefuhrt zu haben. Jedoch uberwand ich schlie?lich die Versuchung. Es handelte sich offensichtlich um eine gro?e Chance, und ich hatte nicht das Recht, allein zu operieren und vielleicht unseren ganzen Erfolg aufs Spiel zu setzen. Zum ersten Male wurden wir unseren Widersachern zuvorkommen. Dieses Mal mu?ten wir es schaffen, und ob ich es nun eingestehen wollte oder nicht, Poirot war nun einmal der Klugere von uns beiden. Ich schrieb unverzuglich an ihn, gab ihm die notwendigen Erklarungen und vermerkte, wie wichtig es sei, zu beobachten, was das Zusammentreffen zu bedeuten habe.

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