»Und Nummer vier?«fragte ich.
»Wie ich bereits betonte, beginne ich seine Methoden genau zu erkennen und auch zu verstehen. Du magst dich uber mich lustig machen, Hastings, aber eines Menschen Personlichkeit zu durchdringen und genau zu wissen, was er unter gegebenen Umstanden unternehmen wird, das ist der Anfang des Erfolges. Wir befinden uns im Duell miteinander, und wahrend er sich mir gegenuber Blo?en gibt, bin ich bemuht, ihm sowenig wie moglich Einblick in meine Mentalitat zu gewahren. Er befindet sich stets im Lichtkegel, wahrend ich im Schatten verbleibe. Ich sage dir, Hastings, meine Zuruckhaltung gibt unsern Gegnern von Tag zu Tag neue Ratsel auf.«
»Sicher ist jedenfalls, da? sie uns seit langem unbehelligt gelassen haben«, bemerkte ich. »Sie haben keinen weiteren Versuch unternommen, uns um die Ecke zu bringen, noch haben sie uns einen Hinterhalt gelegt.«
»Das ist wahr«, bestatigte Poirot gedankenvoll.»Offen gestanden, befremdet mich diese Tatsache etwas. Besonders, da offensichtlich Moglichkeiten vorhanden sind, uns aus dem Weg zu schaffen. Ich kann mit Sicherheit annehmen, da? sie sich mit derartigen Planen auch beschaftigen. Bist du nicht auch der Meinung?«
»Vielleicht beehren sie uns demnachst mit einer kleinen Hollenmaschine?«
Poirot schnalzte mit der Zunge, ein Zeichen, da? er ungeduldig wurde.
»Jetzt ubertreibst du wieder. Wahrend ich an deine Kombinationsgabe appelliere, kannst du mir mit nichts anderem aufwarten als mit Bomben im Kamin! Ach, ich mu? mir etwas Bewegung verschaffen und will trotz des schlechten Wetters etwas spazieren gehen. Pardon, mein Freund, aber kann es denn wirklich moglich sein, da? du funf verschiedene Bucher zu ein und derselben Zeit liest?«
Ich lachte und mu?te zugeben, da? mich im Moment nur eines davon interessierte. Poirot schuttelte resigniert den Kopf. »Dann tu doch bitte die ubrigen Bande zuruck in den Bucherschrank! Nie und nimmer kannst du dich an Ordnung gewohnen. Mon
Ich murmelte eine Entschuldigung, und nachdem er ein jedes der vier Bande an seinen ganz bestimmten Platz gestellt hatte, verlie? Poirot die Wohnung und uberlie? mich der weiteren Lekture meines Buches. Ich mu?te beim Lesen halb eingeschlafen sein, als Mrs. Pearsons Klopfen an der Tur mich auffahren lie?. »Ein Telegramm fur Sie, Hauptmann Hastings.« Ich ri? den gelben Umschlag ohne allzu gro?en Eifer auf. Dann sa? ich wie zu Stein erstarrt in meinem Sessel. Es war ein Telegramm von Bronsen, dem Manager meiner Farm in Sudamerika, und hatte folgenden Inhalt:
»Mrs.
Ich winkte Mrs. Pearson, mich allein zu lassen, und sa? da wie vom Donner geruhrt, wieder und immer wieder las ich jedes einzelne Wort durch.
Meine Cinderella - entfuhrt! In den Handen der Gro?en Vier! Gro?er Gott, was konnte man nur tun? Poirot! Wenn er doch hier ware, er wurde mir mit seinem Rat zur Seite stehen und ware allein in der Lage, diesen Schurken die Stirn zu bieten. Er wurde doch bald wieder zuruck sein, und ich mu?te bis dahin geduldig warten. Aber, Cinderella - in den Handen der Gro?en, Vier! Erneutes Klopfen. Mrs. Pearson steckte abermals ihren Kopf zur Tur herein.
»Ein Zettel fur Sie, Mr. Hastings - wurde von einem Chinesen gebracht, er wartet unten im Hausgang.« Ich ri? ihr das Papier aus der Hand, es war kurz und bundig gehalten:
Die Nachricht war unterzeichnet mit einer gro?en Vier. Was sollte ich nur tun? Was wurden Sie, lieber Leser, in meinem Falle getan haben? Ich hatte keine Zeit zum Uberlegen und sah immer nur das eine: Cinderella in der Macht jener Teufel. Ich mu?te gehorchen und durfte nicht riskieren, da? ihr auch nur ein Haar gekrummt wurde. So blieb mir denn nichts anderes ubrig, als mich jenem Chinesen anzuvertrauen und ihm zu folgen, wohin auch immer er mich bringen wurde. Ich wu?te, es war eine Falle und bedeutete mit Sicherheit Gefangenschaft, wenn nicht noch Schlimmeres; ich durfte aber nicht zogern, denn das ware das Verderben des Menschen gewesen, der mir am liebsten war auf der Welt. Was mich am meisten verdro?, war, da? ich Poirot kein Zeichen hinterlassen durfte. Wenn er erst einmal meine Spur wiedergefunden hatte, dann konnte sich alles noch zum Guten wenden. Durfte ich es riskieren? Anscheinend wurde ich nicht beobachtet, und doch zogerte ich. Es mu?te fur den Chinesen durchaus nicht schwierig sein, heraufzukommen und sich davon zu uberzeugen, da? ich den Instruktionen in allen Punkten Folge leistete. Warum tat er dies nicht? Seine offensichtliche Zuruckhaltung machte die Sache noch verdachtiger. Ich hatte so viel erfahren von der Allmacht der Gro?en Vier, da? ich ihnen beinahe ubernaturliche Krafte zuschrieb. Nach allem, was ich bereits wu?te, konnte sogar unser kleines, harmlos erscheinendes Dienstmadchen einer ihrer Agenten sein.
Nein, ich durfte es nicht riskieren. Aber eines konnte ich doch tun - namlich das Telegramm zurucklassen. Mein Freund wurde daraus ersehen, da? Cinderella verschwunden und wer dafur verantwortlich war. All dies ging mir blitzartig durch den Kopf, ich druckte mir den Hut auf den Kopf und sturmte die Treppen in weniger als einer Minute hinab. Der Uberbringer der Nachricht war ein hagerer Chinese, zwar sauber, jedoch schabig gekleidet. Er verbeugte sich und sprach mich an. Er sprach recht gut Englisch, jedoch in einem singenden Tonfall.
»Sie Hauptmann Hastings?«
»Ja«, sagte ich. »Sie geben mir bitte Zettel.«
Dies hatte ich bereits vorausgesehen, wortlos ubergab ich ihm das Stuck Papier. Aber das war noch nicht alles. »Sie haben Telegramm heute, ja? Gerade heute angekommen? Von Sudamerika, ja?«
Ich erkannte aufs neue ihr ausgezeichnetes Spionagesystem -Bronsen war in einem Falle wie diesem verpflichtet, mir unverzuglich zu kabeln. Sie hatten abgewartet, bis das Telegramm abgeliefert war, und hatten dann sofort gehandelt. So hatte es keinen Zweck, abzuleugnen, was offensichtlich Tatsache war. »Ja«, sagte ich, »ich habe ein Telegramm erhalten.«
»Sie holen es, ja? Holen es jetzt.«
Ich knirschte mit den Zahnen, was blieb mir anderes ubrig? Ich rannte wieder hinauf und uberlegte dabei, ob ich Mrs. Pearson ins Vertrauen ziehen sollte, auf jeden Fall insoweit, als es Cinderellas Verschwinden betraf. Sie stand auf dem Treppenabsatz, aber dicht hinter ihr lauerte unser Dienstmadchen, und so zogerte ich. Vielleicht war sie auch ein Spitzel - die drohenden Worte der Nachricht tanzten vor meinen Augen:»...
Ich betrat das Wohnzimmer, ohne ein Wort zu sagen, nahm das Telegramm und war bereits wieder im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als mir eine Idee kam. Konnte ich nicht irgendein Zeichen hinterlassen, welches meinen Gegnern nicht auffallen und doch meinem Freund einen Hinweis geben wurde? Ich sturzte zum Bucherschrank hinuber und ri? wahllos vier Bucher heraus, die ich auf dem Boden verteilte. Poirot wurde sie sicher sofort bemerken, denn das Durcheinander auf dem Fu?boden mu?te seinen Ordnungssinn beleidigen - au?erdem wurde er, nach den Titeln der Bande zu urteilen, diese Lekture zumindest als ungewohnlich empfinden. Alsdann warf ich eine Schaufel voll Kohlen auf das Feuer und steckte vier Kohlenstucke in das Gitter. So hatte ich denn alles getan, was ich konnte - der Himmel stehe mir bei, dachte ich, da? Poirot meine Zeichen verstehen werde. Dann lief ich eilends wieder hinunter. Der Chinese nahm das Telegramm entgegen, las es, steckte es alsdann in seine Tasche und gab mir durch ein Kopfnicken zu verstehen, da? ich ihm folgen solle. Es war ein langer und beschwerlicher Weg, den er mich fuhrte. Einmal bestiegen wir einen Bus, und dann wieder benutzten wir fur eine ganz betrachtliche Strecke die Stra?enbahn, jedoch standig fuhrte uns unser Weg ostwarts. Wir gingen durch mir ganzlich fremde Gegenden, von deren Existenz ich mir nie hatte traumen lassen.
Wir mu?ten uns schlie?lich ganz in der Nahe der Hafenanlagen befinden, und ich erkannte, da? ich ins Zentrum des Chinesenviertels gefuhrt wurde.
Ich konnte mich des Schauderns nicht erwehren. Mein Begleiter bahnte sich muhsam einen Weg und fuhrte mich kreuz und quer durch breitere und dann wieder engere Stra?en, bis er schlie?lich anhielt und viermal an eine Tur klopfte. Sofort wurde ebenfalls durch einen Chinesen geoffnet, der beiseite trat, um uns durchzulassen. Der Knall der hinter mir zufallenden Tur begrub meine letzten Hoffnungen; nun befand ich mich in den Handen meiner Feinde.
Ein anderer Chinese fuhrte mich einige wacklige Stufen in einen Keller, der mit Ballen und Behaltern angefullt war und einen bei?enden Geruch von Gewurzen aus dem Osten ausstromte. Ich fuhlte mich umgeben von
