Poirot freute sich wie ein Kind uber diese Entdeckung. Mir personlich schien das ganzlich wertlos, besonders da derjenige, der die Bemerkungen zu Papier gebracht hatte, in einigen Punkten vollig danebengegriffen hatte. Ich wies auch meinen Freund auf diesen Mangel hin, als wir wieder in unserer Wohnung sa?en.

»Mein lieber Poirot«, bemerkte ich, »nun bist du im Bilde, wie unsere Gegner uber uns denken. Es scheint so, als wenn man eine reichlich ubertriebene Vorstellung von deinen geistigen Fahigkeiten hatte und die meinigen vollig unterschatzte, aber ich kann nicht einsehen, welchen Wert dies alles fur uns hat.« Poirot lachte in sich hinein, als ob er nicht ganz meine Meinung teilte.

»Fur dich wohl etwas undurchsichtig, nicht wahr? Doch soviel steht fest, wir konnen unsere Vorkehrungen gegen ihre Angriffsplane besser treffen, wenn wir unsere eigenen Fehler besser kennen. Beispielsweise wissen wir jetzt, mein Freund, da? du jede deiner Handlungen sorgfaltig uberlegen mu?t, und ferner, sollte dir wieder einmal eine rothaarige Dame begegnen, die deiner Hilfe bedarf, so solltest du dabei au?erste Vorsicht nicht au?er acht lassen, nicht wahr?«

Die Aufzeichnungen hatten ebenfalls einige unzutreffende Betrachtungen uber meine vermeintliche Unbeherrschtheit enthalten, und nebenbei war bemerkt, da? ich nicht ganz unempfindlich in bezug auf die Reize junger Damen mit einer bestimmten Haarfarbe sei. Ich betrachtete Poirots diesbezugliche Anspielungen als recht geschmacklos, war aber glucklicherweise in der Lage, ihnen zu begegnen.

»Und was dich nun selbst betrifft«, fragte ich ihn, »wirst du dich endlich beflei?igen, deine anma?ende Eitelkeit abzulegen? Dazu deinen ubertriebenen Ordnungssinn?« Ich zitierte wortlich die in den gefundenen Aufzeichnungen enthaltenen Bemerkungen und konnte feststellen, da? er von meinem Gegenhieb sehr wenig erbaut war.

»Zweifellos, Hastings, tauscht man sich in einzelnen Feststellungen - mehr oder weniger, doch man wird schon noch dahinterkommen. Inzwischen haben wir auch wieder dazuge-lernt und - bereit sein bedeutet alles.«

Dies war in letzter Zeit standig sein Schlagwort, und er wandte es so haufig an, da? ich dessen uberdrussig wurde. »Wir sammeln immer neue Erfahrungen, Hastings«, fuhr Poirot fort, »und durchschauen ihre Plane, was uns sehr zugute kommt, aber wir wissen noch lange nicht genug. Wir mussen noch viel mehr herausfinden.«

»Wie willst du das anstellen?«

Poirot lehnte sich in seinen Sessel zuruck, legte eine Schachtel Zundholzer, die ich achtlos auf den Tisch geworfen hatte, ordentlich hin und setzte sich in Positur. Ich erkannte, da? er im Begriff stand, sich in langere Betrachtungen einzulassen. »Sieh einmal, Hastings, wir haben gegen vier Widersacher zu kampfen, das bedeutet, gegen vier verschiedene Charaktere. Mit Nummer eins sind wir noch nie in personlichen Kontakt gekommen, wir kennen ihn nur hinsichtlich seiner Bestrebungen - und nach allem, was bisher geschehen ist, Hastings, will ich dir verraten, da? ich beginne, seine Plane zu erkennen - er verfugt uber den gro?en Scharfsinn, der den Orientalen eigen ist - jeder Anschlag, dem wir uns gegenubersahen, entstammt dem Gehirn Li Chang Yens. Nummer zwei und Nummer drei sind hochgestellte Personlichkeiten und so machtig, da? sie im Augenblick gegen unsere Angriffe immun sind. Nichtsdestoweniger, was sie schutzt, schutzt uns ebenfalls in umgekehrtem Sinne. Sie stehen so sehr im Blickpunkt des offentlichen Lebens, da? sie gezwungen sind, mit au?erster Vorsicht zu operieren. Und so kommen wir zum letzten Glied der Bande - namlich zu dem Mann, der uns als Nummer vier bekannt ist.«

Poirots Stimme veranderte sich schlagartig, wie es stets der Fall war, wenn er von diesem Manne sprach. »Nummer zwei und Nummer drei sind dank ihrer Beruhmtheit und ihrer gesicherten Position in der Lage, Erfolge zu erzielen und ihren Weg unangefochten fortzusetzen. Nummer vier dagegen verzeichnet seine Fortschritte unter einem anderen Vorzeichen -er geht dunkle Wege. Wer sich hinter der Maske verbirgt, wei? niemand. Wie er in Wirklichkeit aussieht, ist auch niemand bekannt. Wie oft haben wir ihn gemeinsam gesehen, bereits funfmal, wenn ich nicht irre. Und keiner von uns kann mit Bestimmtheit behaupten, da? er ihn wiedererkennen wurde, oder bist du anderer Meinung?« Ich mu?te verneinen, wenn ich meine Gedanken zu jenen funf ganz verschiedenen Personen zuruckschweifen lie?, die - so unglaublich es auch erscheinen mochte - von ein und demselben Mann verkorpert wurden. Der stammige Aufseher der Heilanstalt, der Mann in dem hochgeschlossenen Mantel in Paris, der Diener James, der Mediziner im Fall Paynter und zuletzt der russische Professor. Bei keinem Anla? hatte einer dieser Leute mit dem anderen die geringste Ahnlichkeit. »Nein«, sagte ich ziemlich entmutigt ,»auch nicht die kleinsten Anhaltspunkte sind uns gegeben.« Poirot lachelte.

»Nun bitte ich dich, betrachte die Angelegenheit nicht gar zu aussichtslos, denn einige Feststellungen haben wir doch gemacht.«

»Und welcher Art sind diese?«

»Es ist uns bekannt, da? es sich um einen Mann mittlerer Statur handelt und da? er dunkelblondes oder blondes Haar hat. Wenn er von gro?er Statur und dunkler Hautfarbe ware, hatte er sich nie fur den blonden, ernsten Arzt ausgeben konnen. Es durfte kaum schwierig sein, drei Zentimeter gro?er zu erscheinen, wie im Falle des Dieners James oder des Professors. Ferner mu? er eine kurze gerade Nase haben. Veranderungen sind durch ein entsprechendes Make-up leicht zu bewerkstelligen, aber eine gro?e Nase la?t sich nicht so leicht zu einer kleineren umgestalten. Dazu mu? er ziemlich jung sein, kaum uber funfunddrei?ig. Du siehst also, wir kommen der Sache schon etwas naher. Es handelt sich also um einen Mann zwischen drei?ig und funfunddrei?ig Jahren, mittlerer Statur und Haarfarbe, einen Experten in der Kunst, sich zu schminken, und mit wenigen oder gar keinen eigenen Zahnen.«

»Wie kommst du zu dieser Annahme?«

»Ganz einfach, Hastings; bei dem Aufseher waren die Zahne abgebrochen und mi?farbig, in Paris waren sie ebenma?ig und wei?, beim Doktor standen sie etwas nach vorn, und bei Sava-ronoff waren sie ungewohnlich lang. Nichts verandert ein Gesicht derart wie verschiedene Prothesen, du siehst also, wohin das fuhrt.«

»Nicht ganz«, erwiderte ich vorsichtig.

»Nun, man sagt, da? der Beruf einem Manne im Gesicht geschrieben steht.«

»Hier handelt es sich aber um einen Verbrecher!« rief ich aus. »Auf jeden Fall ist er ein Experte in der Kunst des Schminkens.«

»Das durfte dasselbe sein.«

»Eine ziemlich gewagte Behauptung, lieber Hastings; in der Theaterwelt wurde man wenig erbaut uber eine derartige Unterstellung sein. Erkennst du denn nicht, da? der Mann ein Schauspieler ist oder wenigstens gewesen ist - vielleicht vor ein paar Jahren einmal?«

»Ein Schauspieler?«

»Na selbstverstandlich. Denn die ganze Technik ist ihm gelaufig. Es gibt nun zwei Klassen von Schauspielern: den einen, der sich in seine Rolle vertieft, und den anderen, der versucht, eine Rolle seiner Personlichkeit entsprechend anzupassen. Aus der letzten Kategorie gehen gewohnlich die Darsteller beruhmter Personlichkeiten hervor.

Diese ubernehmen eine Rolle, die ihrer Art am besten entspricht. Die erstgenannte Kategorie Schauspieler hingegen hat sich darauf spezialisiert, sich in die darzustellende Personlichkeit gleichsam zu verwandeln. Zu dieser Klasse gehort auch Nummer vier. Er ist ein hervorragender Kunstler und wachst in seine Rolle, die er zu spielen hat, hinein.« Die Ausfuhrungen meines Freundes waren fur mich von gro?tem Interesse.

»So versuchst du also, seiner Identitat durch Vermittlung der Buhne auf die Spur zu kommen?«

»Deine Kombinationsgabe ist sehr beachtlich, Hastings!«

»Es ware besser gewesen«, bemerkte ich kuhl, »wenn du bereits fruher zu dieser Erkenntnis gekommen warest. So haben wir sehr viel Zeit nutzlos vergeudet.«

»Da bist du sehr im Irrtum, mon ami, wir haben nicht mehr Zeit vertan als unvermeidlich war. Seit einigen Monaten sind meine Agenten sehr aktiv. Einer davon ist Joseph Aarons, erinnerst du dich an ihn? Er hat fur mich eine Liste von Mannern zusammengestellt, die die notwendigen Eigenschaften besitzen - junge Manner im Alter von ungefahr drei?ig Jahren, von mehr oder weniger zutreffender Erscheinung und mit der Eignung, Charakterrollen zu spielen. Dazu solche, die mit Bestimmtheit wahrend der letzten drei Jahre nicht mehr aufgetreten sind.«

»Ja, und weiter?« fragte ich, au?erst gespannt. »Die Liste war naturlich ziemlich umfangreich, und es hat eine gewisse Zeit gebraucht, bis wir schlie?lich vier Darsteller in die engere Wahl ziehen konnten. Hier haben wir sie, mein Freund.« Er reichte mir einen Bogen Papier heruber, dessen Inhalt ich laut vorlas.

»Ernest Luttrell, Sohn eines Pfarrers aus Nordengland. Hatte stets besondere Einfalle in der Charakterdarstellung. Wurde von der Schule ausgeschlossen, ging im Alter von funfundzwanzig Jahren zum Theater.« (Es folgte eine Aufstellung uber gespielte Rollen.) »Spater dem Rauschgift verfallen, vermutlich vor vier

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