Es gab noch mehr Wissenswertes, noch eine ganze Spule, aber Quellen hatte fur den Augenblick genug. Er schaltete den Projektionsapparat aus. Die Hitze des kleinen Buros war trotz der Klimaanlage und trotz der Sauerstoffzufuhr unertraglich. Er konnte seinen eigenen Schwei? riechen, und das Gefuhl behagte ihm gar nicht. Quellen sah verzweifelt die beengenden Wande an und dachte mit Sehnsucht an den dunklen Flu?, der vor der Veranda seines Afrika-Verstecks dahinflo?.
Er druckte auf die Taste des Diktiergerats und notierte ein paar Gedanken.
»1. Konnen wir einen lebenden Zeitreisenden fangen? Das hei?t, einen Menschen aus unserer eigenen Zeit, der um zehn oder zwanzig Jahre zuruckging und sein eigenes Leben ein zweitesmal durchlebt. Gibt es solche Menschen? Was wurde geschehen, wenn man sich dabei selbst begegnete?
2. Angenommen, man konnte einen lebenden Zeitreisenden fangen, dann mu?te er verhort werden. Wir wissen nicht, durch welche Techniken die Zeitreisen ermoglicht werden.
3. Alles deutet darauf hin, da? das Zeitreisen-Phanomen nur bis zum Jahre 2491 geht. Hei?t das, da? unsere Nachforschungen erfolgreich waren, oder handelt es sich lediglich um Aufzeichnungslucken?
4. Stimmt es, da? vor dem Jahr 1979 keine Zeitreisenden registriert wurden? Weshalb?
5. Moglichkeit einer Verkleidung als Klasse-Funfzehn-Prolet in Betracht ziehen. Vielleicht ergibt sich dadurch Kontakt mit Agenten des Zeitreisenunternehmens. Ist diese Methode gesetzlich genehmigt? In Gesetzeskomputern nachsehen!
6. Aussagen von Familienangehorigen kurzlich verschwundener Zeitreisender sammeln. Sozialer Stand, Verla?lichkeit usw. Wenn moglich, Ereignisse kurz vor dem Verschwinden des Zeitreisenden verfolgen.
7. Vielleicht …«
Quellen lie? den letzten Zettel unvollendet und druckte auf den Hebel des Diktiergerats. Die Mini-Notizen fielen auf den Tisch. Er lie? sie liegen und wandte sich wieder dem Projektionsapparat zu.
Hier war eine Textunterbrechung. Brogg hatte eine Mininotiz beigefugt:
Quellen fand Material A und B auf seinem Schreibtisch. Es waren zwei weitere Spulen. Er legte sie nicht in den Projektionsapparat. Er lie? auch die Geschichtsspule nicht weiter ablaufen. Er lehnte sich zuruck und uberlegte.
Alle Zeitreisenden schienen aus einer einzigen Funfjahresperiode zu kommen, von der jetzt vier Jahre vergangen waren. Alle Zeitreisenden waren in einem Zeitabschnitt gelandet, der 127 Jahre umfa?te. Naturlich, einige Reisende waren nicht entdeckt worden und hatten sich glatt in das Schema der neuen Periode eingepa?t. Ihre Namen tauchten nie auf den Listen der Zeitreisenden auf. Quellen wu?te, da? die Mittel zur Aufspurung gesuchter Personen vor drei- oder vierhundert Jahren noch sehr primitiv gewesen waren, und es war uberraschend, da? man uberhaupt so viele entdeckt hatte. Aber wahrscheinlich hatten die Proleten einer niedrigen Klasse kein besonderes Geschick, sich einer ungewohnten Umgebung anzupassen. Doch das Syndikat, das die Zeitreisen betrieb, hatte sicher nicht nur Proleten in die Vergangenheit geschickt.
Quellen holte die Geschichtsspule aus dem Projektor und spannte statt dessen die Spule mit Material A ein. Er lie? die Maschine laufen. Material A war nicht besonders interessant: mehr oder weniger eine Namensliste aller entdeckten Zeitreisenden. Quellen lie? die Spule ablaufen und sah nur hin und wieder genauer auf die Beschreibungen.
Quellen hielt den Apparat an. Er suchte sich die Beschreibung von Lona Walk heraus und machte die interessante Entdeckung, da? sie im Jahre 2098 gelandet war, angeblich im Jahre 2471 geboren war und am ersten November 2488 die Zeitreise gemacht hatte. Es war also verabredet gewesen: Ein Achtzehnjahriger und eine Siebzehnjahrige, die dem funfundzwanzigsten Jahrhundert den Rucken zukehrten und in der Vergangenheit gemeinsam ein neues Leben beginnen wollten. Aber Martin Backhouse war im Jahre 2102 gelandet und seine Freundin im Jahre 2098. Bestimmt hatten sie es nicht so geplant. Womit Quellen den Beweis hatte, da? der Sprung in die Vergangenheit nicht hundertprozentig vorherzuplanen war. Wenigstens nicht am Anfang. Ihm kam der Gedanke, wie unangenehm das fur Lona Walk gewesen sein mu?te: in der Vergangenheit zu landen und dort zu erfahren, da? der Mann ihrer Wahl es nicht im gleichen Jahr geschafft hatte.
Quellen stellte sich ein paar dustere Zeitreisentragodien dieser Art vor. Romeo landet 2100, Julia 2025. Mit gebrochenem Herzen steht Romeo vor dem verwitterten Grabstein Julias. Oder noch schlimmer — der jugendliche Romeo trifft die neunzigjahrige Greisin Julia. Wie hatte Lona Walk die vier Jahre verbracht, in denen sie auf Martin Backhouse wartete? Wie konnte sie sicher sein, da? er uberhaupt ankommen wurde? Was geschah, wenn sie aufgab und einen anderen heiratete, bevor er erschien? Oder wenn die vierjahrige Trennung ihre Liebe zerstort hatte? Denn wenn er in die Vergangenheit kam, war sie zweiundzwanzig und er achtzehn.
Interessant, dachte Quellen. Ohne Zweifel eine ergiebige Stoffquelle fur die Dramenschreiber des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Plotzlich waren die Emigranten aus der Zukunft da, plotzlich stand man kopfschuttelnd vor Paradoxa. Wie mu?ten sich die Vorfahren die Kopfe uber diese Zeitreisenden zerbrochen haben!